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U-Haft I: Keine U-Haft im „Augsburger Königsplatz-Fall“, oder: Deutliche Worte vom BVerfG

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An sich hatte ich heute einen OWi-Tag vorgesehen. Aber ich habe mich umentschieden und bringe drei Entscheidungen zur U-Haft.

An der Spitze der BVerfG, Beschl. v. 09.03.2020 – 2 BvR 103/20. Der ist im sog. Augsburger Königsplatzfall ergangen. In dem wird u.a. gegen den 17-jährigen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung geführt. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen „als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.2

Das AG Augsburg hatte gegen den Beschuldigten U-Haft angeordnet, die dagegen gerichtete Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte beim LG Erfolg, das LG hat den dringenden Tatverdacht verneint. Dagegen dann die weitere Beschwerde der StA, die dazu geführt hat, dass das OLG den Haftbefehl wieder erlassen hat. Und dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung des Haftbefehls und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Das BVerfG führt – nachdem es zu den Grundsätzen betreffend Haftentscheidungen „referiert“ hat – zur Sache aus:

Wiederholungsgefahr als Haftgrund, oder: Wann reichen Betrugstaten aus?

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Zum Tagesschluss dann noch eine haftrechtliche Entscheidung. Das OLG Hamburg nimmt in dem OLG Hamburg, Beschl. v. 20.07.2017 – 2 Ws 110/17, den mir der Kollege Diedrich aus Hamburg übersandt hat – besten Dank – im Verfahren der „Sechs-Monats-Prüfung“ nach §§ 121, 122 StPO zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) Stellung. Grundlage des Haftbefehls waren zwei Betrugstaten, und zwar einmal Anmietung eines Pkw und zum anderen Buchung einer Reise. Dem OLG reichen diese Taten nicht zur Begründung der Wiederholungsgefahr aus:

„Bei den Anlasstaten muss es sich ferner — in jedem Einzelfall (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn. 9 m,w.N.) — um die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten handeln. An Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr sind im Hinblick auf ihren Charakter als präventive Sicherungshaft aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 35, 185; KG NStZ-RR 2015, 115). Den Anlasstaten muss überdurchschnittlicher Unrechtsgehalt und Schweregrad zukommen (vgl. OLG Frankfurt StV 2016, 816; Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn 9), wobei zur Bestimmung des Gewichts der Tat Begleitumstände wie Beweggründe, Art der Tatausführung, Auswirkungen der Tat, Vorleben und Nachtatverhalten herangezogen werden können (OLG Hamm NStZ-RR 2015, 115). Die Anlasstaten müssen auch geeignet sein, in weiten Kreisen das „Gefühl der Geborgenheit im Recht“ zu beeinträchtigen (Senat, Beschl. v. 24. Januar 2014 (Az.: 2 10/14); KG NStZ-RR 2015, 115).

Besonderes Gewicht kommt dem Erfordernis einer die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Tat zu, soweit als Anlasstaten Betrugstaten nach § 263 StGB in Rede stehen, da der Gesetzgeber den Betrug nach § 263 StGB — anders als den Diebstahl nach § 242 StGB oder die (einfache) Körperverletzung nach § 223 StGB — bereits im Grundtatbestand und damit ohne Differenzierung nach der Schwere der Tat in den Katalog des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO aufgenommen hat. Die Stellungnahme der Bundesregierung zur Einführung des § 112a StPO lässt erkennen, dass insoweit eine vorsichtige Anwendung des Haftgrundes befürwortet wurde: „ . zeigt, daß sich die Wiederholungsgefahr auf Eigentums- und Vermögensdelikte konzentriert. Gerade bei diesen Delikten ist aber geboten, soweit nicht erschwerende Umstände wie Gewaltanwendung und der gleichen hinzukommen, die aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderliche Zurückhaltung zu üben.“ (BT-Drs. 11/3248, BI. 7).

Betrugstaten sind nur dann geeignete Anlasstaten, wenn sie in ihrem konkreten Schweregrad nach Art und Ausführung sowie Umfang des Schadens mindestens etwa einem besonders schweren Fall des Diebstahls nach § 243 StGB entsprechen (vgl. KG NStZ-RR 2015, 1 15; OLG Hamm, Beschl. v. 1. April 2010, Az.: 3 Ws 161/10; OLG Thüringen, Beschl. v. 23. Januar 2008, Az.: 1 Ws 29/08 (juris); Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn. 7; KK-Graf § 112a Rn. 10; HK-Posthoff § 112a Rn. 7). Durch Betrugstaten verursachte Vermögensschäden unterhalb eines Betrages von etwa 2000 EUR werden in aller Regel den erforderlichen Schweregrad nicht begründen (vgl. OLG Naumburg, NStZ-RR 2013, 49; OLG Hamm StV 2011, 291; MüK0-StPO/Böhm § 112a Rn. 28; § 112a Rn. 14a).“

Ergebnis: Aufhebung des Haftbefehls.

Für 1000 € geht es nicht in den Knast

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Bei Verteidigern ist der (subsidiäre) Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) und die auf ihn ggf. gestützte „Sicherungshaft“ „besonders unbeliebt“. Denn der Haftgrund ermöglicht die Anordnung von U-Haft auch bei kleineren Delikten und einer nicht so hohen Straferwartung, eben, wenn – nur – Wiederholungsgefahr vorliegt, also der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat begangen zu haben. Und an der Stelle geht der Kampf vor allem immer um die Frage: Hat man es mit einer „Katalogtat“ nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO zu tun, die Nr. 1 lassen wir mal außen vor. Die Rechtsprechung versteht das Merkmal „die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigend“ als den Haftgrund einschränkend und sagt: Es können nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtsgehaltes in Betracht kommen. So jetzt auch noch einmal der OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.12.2014 – 1 Ws 625/14 -, in dem das OLG einen Haftbefehl aufgehoben hat (ja, das gibt es). Vorwurf im Verfahren war der des vielfachen gewerbsmäßigen Betruges. Der Beschuldigte soll über Internetportale (bspw. Ebay und Kleiderkreisel) Waren zum Kauf angeboten, den Kaufpreis vereinnahmt und – wie von vornherein beabsichtigt – die Ware nicht geliefert haben. Das OLG verneint den Haftgrund des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO:

„Indes liegt kein Haftgrund vor.

Auch wenn der gewerbsmäßige Betrug gemäß § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB diesen Anforderungen gerecht werden kann, ist mit Blick auf die in den Einzelfällen entstandenen Schadenssummen nicht von einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung auszugehen. In lediglich einem Fall liegt der Schadensbetrag über 1.000 Euro. Es ist jedoch zu verlangen, dass bei jeder einzelnen Tat Art und Ausmaß des Schadens erheblich sein müssen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 – 2 BvL 4/73, juris Rn 19; OLG Jena, a.a.O.). Gerade bei Serientaten reicht es nicht aus, dass das Gesamtunrecht eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung darstellt; vielmehr muss jede Einzeltat für sich betrachtet werden. Dies gilt auch für die in § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO bestimmte Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe (OLG Braunschweig, Beschluss vom 7. November 2011 – Ws 316/11, StV 2012, 352).

Zum anderen liegen auch keine bestimmten Tatsachen vor, die die Gefahr begründen, der Beschuldigte werde vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten begehen, wie dies § 112a Abs. 1 StPO erfordert. Die eine Wiederholungsgefahr begründenden Tatsachen müssen eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde die Serie gleichartiger Taten noch vor einer Verurteilung wegen der Anlasstat fortsetzen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 112a Rn 14 m.w.N.)……“

Verdunkelungsgefahr – nur so lange es noch etwas zu verdunkeln gibt

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Gegen den Angeklagten besteht ein Haftbefehl des AG wegen Verdunkelungsgefahr, den das LG auch nach durchgeführter Hauptverhandlung u.a. mit diesem Haftgrund (§ 112 Abs. 2 Nr. 3b StPO) aufrecht erhält.  Der KG, Beschl. v. 11.07.2012 – 4 Ws 73/12 – sagt: geht so nicht. Verdunkelungsgefahr nur so lange, wie es etwas zu verdunkeln gibt:

„Der Senat kann dahinstehen lassen, ob aufgrund bestimmter Tatsachen ein Verhalten des Angeklagten festzustellen ist, das den dringenden Verdacht begründen könnte, der Beschwerdeführer werde auf die Geschädigte unlauter einwirken, um deren Aussageverhalten zu beeinflussen.

 Denn es fehlt jedenfalls an der weiteren Voraussetzung einer auf bestimmte Tatsachen gegründeten konkreten Gefahr der Verdunkelung. Eine entsprechende Absicht des Angeklagten, durch eine (nunmehr unterstellte) unlautere Einwirkung auf die Zeugin die Beweislage zu seinen Gunsten prozessordnungswidrig zu beeinflussen, genügte hierfür nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass die Verdunkelungshandlung auch objektiv (noch) geeignet ist, die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren. Daran mangelt es hier angesichts der im Verfahren eingetretenen Beweislage. Hinsichtlich der Taten nach dem Gewaltschutzgesetz liegt ein vom Gericht für glaubhaft erachtetes richterliches Geständnis des Angeklagten vor, das den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr entfallen lässt (vgl. OLG Düsseldorf StV 1984, 339; OLG Hamm StV 2002, 318, 319; OLG Stuttgart StV 2005, 225; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 112 Rn. 35; Wankel in KMR-StPO, § 112 Rn. 13). Auch in Bezug auf die Körperverletzung sind die Beweise in einer Weise gesichert, dass der Beschwerdeführer die Wahrheitsermittlung nicht mehr mit Erfolg behindern könnte. Zum einen liegt eine richterlich protokollierte Aussage der Geschädigten vor (vgl. dazu OLG Karlsruhe NJW 1993, 1148), die das Gericht für uneingeschränkt glaubhaft erachtet hat und die zur Grundlage des Schuldspruchs geworden ist; zum anderen ist der Beweiswert der potentiell gefährdeten Zeugenaussage auch deshalb nicht mehr ernstlich in Frage gestellt, weil der Inhalt dieser Aussage durch den Amtsrichter bzw. die Amtsanwältin bezeugt werden könnte (vgl. dazu OLG Naumburg StV 1995, 259; OLG Schleswig SchlHA 2001, 135; zum Aspekt der hinreichenden Sachaufklärung, insbesondere durch vorangegangene Vernehmungen potentiell gefährdeter Zeugen, vgl. ferner OLG München StraFo 1997, 29; OLG Oldenburg StV 2005, 394; LG Hamburg StV 2000, 373; LG Zweibrücken StV 2002, 147; Hilger in LR-StPO 26. Aufl., § 112 StPO Rn. 50; Paeffgen in SK-StPO 4. Aufl., § 112 Rn. 39; Graf in KK-StPO 6. Aufl., § 112 Rn. 39).“   

Damit wird Verdunkelungsgefahr nach durchgeführter erstinstanzlicher Haußtverhandlung als Haftgrund i.d.R. ausscheiden.

 

Wiederholungsgefahr bei Beutewert von 700 bzw. 1.300 €?

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr  i.S. des § 112a StPO spielt in der Praxis zunehmend eine Rolle. Das zeigt die zunehmende Zahl der dazu veröffentlichten Entscheidungen, die sich i.d.R. mit der Problematik der erforderlichen „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung“ befassen. Das wird manchmal vorschnell bejaht und der subsidiäre Haftgrund des § 112a StPO angenommen.

Mit der Frage musste sich auch das OLG Braunschweig, Beschl. v. 07.11.2011 – Ws 316/11 befassen, der in einem Verfahren ergangen ist, in dem dem Beschuldigten der Diebstahl von zwei Fahrrädern zur Last gelegt wurde. Das OLG hat den amtsgerichtlichen Haftbefehl aufgehoben:

Im konkreten Fall gibt es zwar keinen Anlass, das Verhalten des Angeschuldigten zu bagatellisieren. Von der geforder­ten schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung kann aber trotz der ein­schlägigen Vorstrafen des Angeschuldigten bei beiden Vorwürfen nicht ausge­gangen werden: So verleiht zunächst der Wert der entwendeten Fahrräder von 700,00 € (Tat Nr. 1) und 1.300,00 € (Tat Nr. 2) den jeweiligen Taten nicht die Be­deutung überdurchschnittlicher Vergehen des Diebstahls im besonders schweren Fall. Obgleich dies nicht auf einem freiwilligen Willensentschluss des Angeschul­digten beruhte, werden beide Taten außerdem durch den strafmildernden Um­stand geprägt, dass die Geschädigten die entwendeten Fahrräder jeweils noch am selben Tag zurückerhalten haben…“