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Brennende Kerzen am (trockenen) Weihnachtsbaum, oder: Grobe Fahrlässigkeit?

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So, und dann die letzte Entscheidung vor Weihnachten. Und da gibt es dann etwas Weihnachtliches, und zwar den schön ältere LG Oldenburg, Urt. v. 08.07.2011 – 13 O 3296/10. Das hat zur grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch brennende Kerzen am Weihnachtsbaum Stellung genommen.

Gestritten worden ist um die restliche Regulierung eines Brandschadens, bei dem das zu je 1/2 im Eigentum des Klägers bzw. im Eigentum seiner Ehefrau stehende freistehende Wohnhaus nebst Hausrat nahezu vollständig durch Brand zerstört worden ist. Der Brand ereignete sich am 09.01.2010, als der Kläger und seine Ehefrau deren Schwester und ihren Lebensgefährten zu Besuch hatten. Nachdem die vor Weihnachten geschlagene und im Wohnzimmer aufgestellte Nordmanntanne an diesem Tag mit neuen Wachskerzen bestückt und diese angezündet worden waren, fing der Weihnachtsbaum aus ungeklärter bzw. streitiger Ursache Feuer. Dieses wurde von dem zum Zeitpunkt der Brandentstehung allein im Wohnzimmer anwesenden Gast der Familie des Klägers pp. entdeckt, der sofort um Hilfe rief. Ein Löscheimer, Feuerlöscher oder eine Löschdecke befanden sich nicht in der Nähe des Baumes. Der hierdurch alarmierte Kläger begab sich zum brennenden Weihnachtsbaum, öffnete die zur Terrasse führende Wohnzimmerschiebetür und versuchte, den in der Nähe dieser Tür aufgestellten Baum nach draußen auf die Terrasse zu ziehen. Dies misslang aufgrund der Hitzeentwicklung; infolge der Frischluftzufuhr wurde die Brandentwicklung beschleunigt.

Die Versicherung hatte u.a. nur 60 % des Schadens reguliert. Der Kläger verlangte den Rest und beim LG Oldenburg Recht bekommen:

„1) Die Beklagte ist nicht gem. § 81 Abs. 2 VVG berechtigt, die Versicherungsleistung um 40 % zu kürzen. Denn der Versicherungsfall ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht grob fahrlässig herbeigeführt worden.

Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sein. Danach müssen einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt worden sein und es darf das nicht beachtet worden sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH, r+s 1989, 193; Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, zu § 81 VVG Rn. 8). Sowohl für die objektive als auch für die subjektive Seite der groben Fahrlässigkeit trägt der Versicherer die Darlegungs- und Beweislast (BGH, NJW 1989, 1354). Sache des Versicherers ist es, die naheliegenden Möglichkeiten, die das Verhalten des Versicherungsnehmers in einem milderen Licht erscheinen lassen, zu widerlegen (vgl. BGH, NJW-RR 1986, 705).

Vorliegend sind keine Tatsachen festgestellt, aus denen offenbar würde, dass der Kläger oder dessen Ehefrau beim Befestigen und Anzünden der Kerzen ein besonderes Maß an Unbesonnenheit, Leichtsinn oder Unbekümmertheit an den Tag gelegt haben.

Zunächst ist festzustellen, dass der Nadelbaum mit Sicherheit am 09.01.2011 im Vergleich zu einem frisch geschlagenen Baum trockener gewesen ist und sich daher wesentlich leichter entzünden konnte. Dies liegt nicht nur an der Standzeit des Baumes, sondern auch daran, dass – wovon die Kammer ausgeht – die Raumluft im Wohnzimmer des Klägers infolge des dort befindlichen und in der Weihnachtszeit nach Angabe der Zeugin … auch regelmäßig benutzten Kaminofens deutlich trockener ist als in anderen Räumen. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Trocknungsgrad des Baumes am Schadenstag bedarf es nicht. Die Kammer erachtet es – entgegen der von der Beklagten im Schriftsatz vom 06.07.2011 geäußerten Auffassung – nicht für ungewöhnlich oder unglaubhaft, dass der Kläger bzw. dessen Frau den Weihnachtsbaum regelmäßig „gegossen“ haben. Das von der Zeugin … geschilderte Bewässern des Baumes verzögerte jedoch den Austrocknungsprozess nicht in nennenswerter Weise – was sich an der Schnelligkeit der Brandentwicklung gezeigt hat. Deshalb war nach dem Anzünden der Wachskerzen am 09.01. besondere Vorsicht geboten.

Gleichwohl wertet die Kammer das Maß der Sorglosigkeit des Klägers und seiner Ehefrau im Umgang mit dem Nadelbaum nicht als dermaßen grob, dass von einem objektiv groben Pflichtverstoß auszugehen ist. Das Anzünden von Kerzen an einem Nadelbaum sorgt zwar für eine deutlich erhöhte Brandgefahr, ist aber im hiesigen Kulturkreis in der Weihnachtszeit weit verbreitet. Auch das Anzünden von Kerzen 18 Tage nach Aufstellen eines mittlerweile trockenen Nadelbaumes ist keine besonders ungewöhnliche Verhaltensweise und auch nicht schlechthin als grob sorglos zu bewerten. Indessen ist der Versicherungsnehmer aufgrund der dadurch bewirkten deutlichen Herabsenkung des Sicherheitsstandards gegenüber der versicherten Gefahr zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gehalten. Deshalb ist es unabdingbar, das Brennen der Kerzen am Nadelbaum durchgehend zu beaufsichtigen. Diese Mindestanforderung wurde im vorliegenden Fall aber unstreitig erfüllt. Zwar befanden sich weder der Kläger selbst noch dessen Ehefrau nach dem Anzünden der Baumkerzen im Wohnzimmer, insbesondere nicht in dem Moment, als die Flammen auf den Baum übergriffen; jedoch befand sich währenddessen der Lebensgefährte der Schwägerin des Klägers, der Zeuge … im Wohnzimmer und hatte den Baum – zumindest aus dem Augenwinkel – „im Blick“. Dass der Zeuge … vom Kläger oder dessen Ehefrau nicht ausdrücklich gebeten worden ist, die Kerzen am Baum zu beobachten, ist nicht entscheidend; maßgeblich für die Sicherheit ist allein, dass sich – wie hier – eine erwachsene Person durchgehend im Wohnzimmer aufgehalten hat, während die Kerzen am Baum brannten (vgl. BGH, VersR 1986, 671). Damit waren die brennenden Kerzen zu keinem Zeitpunkt „sich selbst überlassen“. Unstreitig ist, dass Herr … die Brandentwicklung relativ schnell bemerkt und die anderen im Haus anwesenden Personen unverzüglich alarmiert hat.

a) Ein Sachverständiger ist zur Frage, warum es zum Brand gekommen ist, nicht zu befragen. Vielmehr kann als richtig unterstellt werden, dass sich eine Kerze oder Baumschmuck von der Halterung gelöst und diese den Brand verursacht hat. Dass die Kerzen oder der Baumschmuck – insbesondere die Bestandteile Spieluhr – nicht ordnungsgemäß bzw. auf sorglose Weise in die dafür vorgesehenen Halterungen eingesteckt worden sind, wie es die Beklagte behauptet, ist nicht erwiesen. Im Gegenteil ergibt sich aus der Aussage der Zeugin … dass diese beim Schmücken des Baumes und beim Einsetzen neuer Kerzen mit Bedacht und großer Sorgfalt vorgeht. So sei ausschließlich sie für das Einsetzen der Kerzen zuständig. Auch entferne sie zuvor die Wachsreste aus den Kerzenhaltern, damit die neuen Kerzen ordnungsgemäß befestigt werden können. Das spricht nicht für Sorglosigkeit im Umgang mit den Kerzen. Dass die Kerzenhalter von der Zeugin … nicht nach jedem Herunterbrennen eines Satzes Kerzen vollständig abgenommen und gesäubert worden sind, mag zwar sorgfaltswidrig sein. Eine nachweislich gröbliche Außerachtlassung der Sorgfaltspflichten im Umgang mit den Kerzenhaltern ist der Familie des Klägers indes nicht vorzuwerfen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kerzenhalter erst im Zuge des Abschmückens und Entfernens des Baumes zum Zwecke der Reinigung vollständig abgenommen werden.

Im Übrigen brannten die Kerzen nach dem Anzünden nach den glaubhaften Angaben des Zeugen pp. bereits eine Dreiviertelstunde, ehe der Baum zu brennen begann. Wäre eine Kerze von vornherein unsachgemäß in einen Kerzenhalter eingesetzt worden, wäre diese wesentlich früher heruntergefallen. Gleiches gilt für den Baumschmuck und die Bestandteile der Spieluhr.

b) Dass sich weder Löscheimer noch Löschdecken in unmittelbarer Nähe des Weihnachtsbaumes befunden haben, ist zwar objektiv sorgfaltswidrig. Denn es liegt auf der Hand, dass dadurch die Gefahr, dass ein plötzlich entstehender Brand am Weihnachtsbaum nicht unter Kontrolle zu bekommen ist, erheblich steigt. Gleichwohl stellt dies kein ungewöhnliches Verhalten und damit noch kein Außerachtlassen dessen dar, was jedermann unter den gegebenen Umständen als geboten und einleuchtend erscheinen musste. Hinzu kommt, dass sich die Familie des Klägers durchaus Gedanken darüber gemacht hat, warum sie keinen Löscheimer neben dem Baum stehen hat. Die Zeugin … hat glaubhaft bekundet, dass sie früher, als die beiden Söhne der Familie noch kleiner gewesen seien, einen Löscheimer neben den Tannenbaum gestellt hätten. Denn sie hätten die Sorge gehabt, dass die Kinder eine besondere Gefahrenquelle darstellen, wenn sie mit dem Kerzenlicht in Berührung kämen. Einen Löscheimer habe man aber seit einigen Jahren nicht mehr als notwendig erachtet, nachdem die Kinder größer geworden seien. Das Weglassen des Löscheimers nach dem Größerwerden der Kinder stellt aus Sicht der Kammer – anders als die Beklagte meint – keine abwegige, sondern eine nachvollziehbare Überlegung der Familie des Klägers dar, nachdem eine unmittelbare Gefahr durch Kleinkinder, die mit den Kerzen spielen oder beim Spielen in der Nähe des Baumes gegen Zweige stoßen könnten, nicht mehr bestanden hat.

c) Ob es noch zu Löschversuchen mittels in der Küche befüllter Eimer oder Töpfe gekommen ist, kann dahin stehen, da diese Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben.

d) Ebenso wenig ergibt sich aus der Tatsache, dass der Kläger bei dem Versuch, den Baum nach draußen zu ziehen, die Terrassentür öffnete und dadurch die Brandentwicklung deutlich beschleunigt worden ist, ein dem Kläger vorwerfbar grober Sorgfaltspflichtverstoß  Dabei verkennt die Kammer nicht, dass – was man gemeinhin weiß – eine Frischluftzufuhr bei einer Brandentstehung im Inneren eines Hauses selbstverständlich tunlichst zu vermeiden ist. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine für den Kläger nicht alltägliche, sich ständig wiederholende und daher routinemäßig zu beherrschende Gefahrensituation handelte. Vielmehr ist auch der Kläger von der Feuerentwicklung überrascht worden und musste spontan entscheiden, wie dem Feuer am Effektivsten entgegengewirkt werden könnte. Dass er dabei – begünstigt durch die Aufregung – eine falsche Entscheidung getroffen hat, beruht auf einer reflexartigen Schutzmaßnahme. Damit liegt insoweit ein in subjektiver Hinsicht nicht schlechthin unentschuldbares Verhalten des Klägers vor.

Das Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom 06.07.2011 gibt der Kammer keinen Anlass für eine andere Beurteilung…..“

StPO III: Nach falscher Selbstbelastung in U-Haft, oder: Führt das zum Ausschluss der Haftentschädigung?

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Und zum Tages- – und Monatsschluss – dann noch eine Entscheidung, die nicht unmittelbar mit der StPO zu tun hat, sondern mit dem StrEG. Die Ausgangsproblematik liegt aber in der StPO, und zwar:

Der ehemalige Angeklagte wurde im Rahmen eines zunächst gegen andere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahrens am 17.02.2021 wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vorläufig festgenommen und befand sich seit dem 18.02.2021 in Untersuchungshaft, bis er im Oktober 2021 von deren weiterem Vollzug verschont wurde. Hintergrund der Verhaftung war u.a., dass im Rahmen einer Durchsuchung in der von dem ehemaligen Angeklagten mit seinem Bruder, einem Mitbeschuldigten des Ermittlungsverfahrens, gemeinsam bewohnten Wohnung sowie in einem Fahrzeug des Angeklagten Marihuana und an verschiedenen Orten deponiertes Bargeld aufgefunden worden war. Hinsichtlich der in seinem Fahrzeug befindlichen Menge von etwa zwei Kilogramm Marihuana äußerte der Angeklagte im Verlauf der Durchsuchung gegenüber einer Polizeibeamtin dass alles, was in seinem Fahrzeug sei, ihm gehöre.

In der Folgezeit hat die Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten und dessen Bruder Anklage wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Btm in nicht geringer Menge auch hinsichtlich dieser Handelsmenge erhoben. Das LG hat den Angeklagten hiervon – wie auch in Bezug auf eine weitere Tat – mit Urteil vom 19.07.2022 freigesprochen. In diesem Rahmen hat es festgestellt, dass der Angeklagte wegen der erlittenen Untersuchungshaft für die Zeit ab dem 27.05.2021 bis zu der Aufhebung des Haftbefehls – auch soweit dieser im Oktober 2021 außer Vollzug gesetzt wurde – zu entschädigen sei. Für den Zeitraum vom 17.02.2021 bis zum 26.05.2021 hat sie demgegenüber eine Entschädigung versagt. Durch seine Angaben gegenüber der Polizeibeamten habe sich der Angeklagte wahrheitswidrig selbst belastet und die Strafverfolgungsmaßnahme jedenfalls grob fahrlässig verursacht.

Der ehemalige Angeklagte hat gegen diese Entscheidung sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er begehrt, auch für den in diesem Zeitraum erlittenen Freiheitsentzug entschädigt zu werden. Zur Begründung trägt er vor, dass die gegenüber der Polizeibeamtin getätigten Angaben einem Verwertungsverbot unterlägen. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Kölnmit de, OLG Köln, Beschl. v. 01.08.2023 – 2 Ws 654/22 – Erfolg:

„b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist eine Entschädigung nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beschwerdeführer den in der Zeit vom 17.02.2021 bis zum 26.05.2021 erlittenen Freiheitsentzug gemäß § 5 Abs. 2 StrEG grob fahrlässig verursacht hatte.

aa) In rechtlicher Hinsicht gilt insoweit:

(1) Ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne von § 5 Abs. 2 StrEG liegt vor, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme durch sein Verhalten herausgefordert hat. Er muss in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen (BGH, Beschluss vom 24. September 2009 – 3 StR 350/09 -, Rn. 4, juris). Ob eine derartige schuldhafte Verursachung vorliegt, ist ausschließlich nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen (§ 254 Abs. 1, §§ 276 bis 278 BGB) zu beurteilen (vgl. KG, Beschuss vom 11.01.2012 – 2 Ws 351/11, juris Rn. 5 mwN). Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte nach diesen Maßstäben Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist aufgrund des Ausnahmecharakters des § 5 Abs. 2 StrEG ein strenger Maßstab anzulegen (BGH, Beschluss vom 28.06.2022 – 2 StR 229/21, juris Rn. 20). Es reicht daher nicht aus, dass sich der Freigesprochene irgendwie verdächtig gemacht hat, vielmehr muss er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung des für die Anordnung der Untersuchungshaft erforderlichen dringenden Tatverdachts geleistet haben (BGH, Beschluss vom 24.09.2009 – 3 StR 350/09, juris Rn. 4). In diesem Sinne liegt regelmäßig ein grob fahrlässiges Verhalten vor, wenn sich der Beschuldigte gegenüber den Ermittlungsbehörden wahrheitswidrig selbst belastet (vgl. Abramenko, NStZ 1998, 176, 177). Dies gilt umso mehr, je schwerer der Tatvorwurf ist.

(2) Liegt der entsprechenden Erklärung des Beschuldigten allerdings ein Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht gemäß § 136 Abs. 1, § 163a StPO zugrunde, rechtfertigt die Selbstbelastung nicht ohne weiteres den Vorwurf einer grob fahrlässigen Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahme.

(a) Allerdings wird verbreitet – worauf sich auch das Landgericht bezogen hat – angenommen, dass es für die Feststellung eines grob fahrlässigen Verhaltens unerheblich sein soll, ob hinsichtlich der insoweit maßgeblichen Äußerungen des Beschuldigten ein strafprozessuales Verwertungsverbot wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Beschuldigtenbelehrung besteht, da sich ein solches nur auf den Nachweis des strafrechtlichen Schuldvorwurfes beziehe und die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten sichern solle. Für die im Rahmen des StrEG zu treffenden Annexentscheidungen könne dieses hingegen jedenfalls keine Fernwirkung dahin entfalten, dass von einem generellen Schweigen des Beschuldigten auszugehen wäre. Da es nicht um die Zuweisung strafrechtlicher Schuld, sondern die Zurechnung nach zivilrechtlichen Maßstäben gehe, liege auch kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 09.07.1997 – 3 Ws 84/96, NStZ 1998, 211; OLG Rostock, Beschluss vom 08.11.2004 – I Ws 269/04, juris Rn. 18; OLG Koblenz, Beschluss vom 22.08.2005 – 2 Ws 507/05, Justizblatt Rh.-Pf. 2005, 223; Burhoff/Kotz, Hdb. für die strafrechtliche Nachsorge, Teil I Rn. 352; MAH Strafverteidigung/Kotz/Arnemann, 3. Aufl., § 29 Rn. 93; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 6 Rn. 4; MüKoStPO/Kunz StrEG § 5 Rn. 65, § 6 Rn. 5).

(b) Diese Ansicht vermag jedenfalls in ihrer Pauschalität nicht zu überzeugen, soweit hiermit auch die Auffassung verbunden sein sollte, dass der Inhalt von unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommenen Erklärungen im Rahmen von Entscheidungen über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen verwertbar sein soll.

(aa) Gemäß § 8 Abs. 1 StrEG ist die Entscheidung über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen dem Strafgericht zugewiesen. Hieraus folgt, dass sich dieses Verfahren nach den Vorschriften der Strafprozessordnung richtet. Bereits dies legt eine einheitliche Behandlung der strafprozessrechtlichen Beweisverwertungsverbote jedenfalls für diejenigen gerichtlich zu treffenden Endentscheidungen nahe, die – wie hier – eine dem Angeklagten belastende Wirkung entfalten können (vgl. Abramenko, NStZ 1998, 176, 177). Dies gilt umso mehr, als die Grundentscheidung über die Entschädigung des Beschuldigten bzw. freigesprochenen Angeklagten nach dem gesetzlichen Leitbild gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 StrEG in dem Urteil oder dem Beschluss, der das Verfahren abschließt, getroffen werden soll; sie ist insoweit Teil des Rechtsfolgenausspruchs (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 31). Wäre eine für den Schuld- und Strafausspruch unverwertbare Äußerung des Beschuldigten im Rahmen der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 StrEG stets uneingeschränkt verwertbar, müsste sich die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) auch auf deren Inhalt erstrecken. Das Gericht wäre im Strafprozess daher selbst dann zur Aufklärung des Inhalts der Erklärung verpflichtet, wenn das Bestehen eines Verwertungsverbotes für den Schuld- und Strafausspruch bereits unzweifelhaft feststünde. Dies vermag nicht zu überzeugen.

(bb) Hierfür spricht auch der Zweck der Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 StPO. Das Gesetz setzt die Kenntnis über die Aussagefreiheit beim Bürger nicht voraus, sondern verlangt die ausdrückliche Aufklärung hierüber. Die Belehrungspflicht sichert die verfahrensrechtliche – verfassungsrechtlich garantierte – Stellung des Beschuldigten in elementarer Weise ab (vgl. BGH, Beschluss vom 27.02.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, juris Rn. 13 ff.). Aufgrund dessen ist an die unterlassene Belehrung regelmäßig ein strafprozessuales Verwertungsverbot geknüpft (vgl. BGH aaO; LR/Gleß, StPO, 27. Aufl., § 136 Rn. 77). Soweit die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten betroffen ist, schützt die Belehrungspflicht den Beschuldigten zwar nicht davor, dass die Strafverfolgungsbehörden gleichwohl gegen ihn gerichtete Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen treffen. Sie sichert ihn aber (auch) davor, nicht unbedacht an derartigen Maßnahmen mitzuwirken. Gerade dies ist aber – unter anderem – zentraler Gegenstand bei der Frage des Bestehens von Ausschluss- bzw. Versagensgründen nach § 5 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG. Insoweit ist im Übrigen auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass Äußerungen des Beschuldigten, denen ein Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO vorangegangen ist, schon im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Tatverdachtsprüfung nach § 112 Abs. 1 StPO einem von Amts wegen zu prüfenden Verwertungsverbot unterliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 06.06.2019 – StB 14/19, NStZ 2019, 539, Rn. 25 ff.; s. zur Frage der Früh- bzw. Vorauswirkung von Beweisverwertungsverboten auch LR/Mavany, StPO 27. Aufl., § 152 Rn. 33; MüKoStPO/Kölbel StPO § 160 Rn. 37). Dies dient unter anderem auch dem Schutz des Beschuldigten vor auf nicht tragfähiger Grundlage beruhender Strafverfolgungsmaßnahmen und den hiermit einhergehenden Grundrechtseingriffen, die sich im Fall der Freiheitsentziehung überdies als besonders intensiv darstellen.

(cc) Auch materiellrechtlich vermag es nicht zu überzeugen, die trotz unterlassener Belehrung gemachten Angaben des Beschuldigten im Rahmen der Prüfung nach § 5 Abs. 2 StrEG stets inhaltlich zu dessen Nachteil zu berücksichtigen, indem sie als Anknüpfungspunkt für ein grob fahrlässiges Verhalten herangezogen werden. Maßstab für die Frage, ob eine grob fahrlässige Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahme vorliegt, ist der objektive Maßstab eines verständigen Menschen in der Lage des Beschuldigten. Setzt das Gesetz die Kenntnis über die Aussagefreiheit beim Bürger aber – wie dargelegt – nicht voraus, so kann im Rahmen der gebotenen objektiven Betrachtung eine Selbstbelastung aber nicht ohne weiteres als die Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße außer Acht lassend angesehen werden.

(dd) Soweit in der Verwertung der unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommenen Erklärung im Rahmen der nach § 8 Abs. 1 StrEG zu treffenden Grundentscheidung kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gesehen wird, weil es bei den nach §§ 5, 6 StrEG bestehenden Ausschluss- und Versagungsgründen nur um eine Prüfung nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen gehe, ist dem insoweit zwar zuzustimmen. Gleichwohl vermag diese Erwägung allein noch nicht zu begründen, weshalb hinsichtlich der Feststellung des Schuldvorwurfs einem Verwertungsverbot unterliegende Äußerungen im Rahmen des Entschädigungsverfahrens nach dem StrEG verwertbar sind. Auch im Zivilprozess besteht insoweit kein uneingeschränktes Verwertungsgebot (vgl. BGH, Urteil vom 10.12.2002 – VI ZR 378/01, NJW 2003, 1123, 1124 f.).

bb) Nach diesen Maßstäben ist vorliegend nicht von einer grob fahrlässigen Verursachung der Anordnung der Untersuchungshaft durch den Beschwerdeführer auszugehen. Angesichts der fehlenden Verwertbarkeit des Inhalts seiner gegenüber der Zeugin D. gemachten Angaben lässt sich schon kein (weiterer) Beitrag des Beschwerdeführers feststellen, der für die Anordnung der Untersuchungshaft ursächlich geworden war. Gegen die Berücksichtigung des Verwertungsverbots spricht insoweit im Übrigen auch nicht, dass der Beschwerdeführer sich mit der einem Verwertungsverbot unterliegenden Äußerung möglicherweise – zum Schutz seines Bruders – wahrheitswidrig selbst belastet hatte. Der Senat entnimmt dem Urteil des Landgerichts insoweit zwar, dass dieses, auch wenn es den Beschwerdeführer hinsichtlich einer Beihilfe zum Handeltreiben nur mit Blick auf den Zweifelssatz freigesprochen hat, aufgrund der in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt gewesen ist, dass das im Fahrzeug des Beschwerdeführers aufgefundene Marihuana nicht diesem, sondern dem gesondert verfolgten C. E. gehört hatte. Es ist aber nicht ausschließen, dass der Beschwerdeführer, wäre er vor seiner Äußerung gegenüber der Zeugin D. ordnungsgemäß belehrt worden, geschwiegen hätte und gegen ihn mangels weiterer tragfähiger Beweismittel kein Haftbefehl ergangen wäre (vgl. zur Anwendung des Zweifelssatzes im Rahmen von § 5 Abs. 2 StrEG: KG, Beschluss vom 08.07.2021 – 5 Ws 104/21, juris Rn. 7 mwN).“

Grobe Fahrlässigkeit und StrEG-Entschädigung, oder: Billigkeitserwägungen?

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Heute Gebührentag – also RVG-Entscheidungen. Aber da mein Ordnet zu der Thematik leer ist, gibt es heute eine Entscheidung zum StrEG und eine kostenrechtliche.

Ich beginne mit dem KG, Beschl. v. 02.02.2022 – 2 Ws 144/21 – zum StrEG, und zwar zur Anwendung zivilrechtlicher Zurechnungsmaßstäbe im Rahmen des § 5 Abs. 2 StrEG. Dem ehemaligen Beschuldigten wurde mit dem Unterbringungsbefehl des AG eine versuchte Brandstiftung gemäß § 306 Abs. 1 Nr. 4, § 22, § 23 StGB zur Last gelegt. Er soll in einem S-Bahn-Waggon mit einem Streichholz den Stoffbezug einer Sitzbank entzündet haben, der hierdurch auf einer Fläche von 3 x 5 cm in Brand geraten sein soll und dabei die Inbrandsetzung des gesamten Wagons zumindest billigend in Kauf genommen haben. Der an einer paranoiden Schizophrenie leidende Beschuldigte ist am 14.03.2021 vorläufig festgenommen worden, seine einstweilige Unterbringung gemäß § 126a StPO wurde bis zum 08.10.2021 im Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin vollzogen.

Im Sicherungsververfahren hat das LG mit Urteil vom 08.10.2021 von der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen und festgestellt, dass ein Anspruch auf eine Entschädigung für die einstweilige Unterbringung nicht bestehe. Gegen die Versagung der Entschädigung wendet sich der ehemalige Beschuldigte mit seiner sofortigen Beschwerde. Die hatte Erfolg.

Das KG führt u.a. aus:

„4) Für die vom Landgericht angenommene entsprechende Anwendung des § 829 BGB im Rahmen des § 5 Abs. 2 StrEG ist kein Raum (offen gelassen: BGH, Beschluss vom 29. November 1978 aaO). Es fehlt an der für eine analoge Anwendung vorausgesetzten Vergleichbarkeit der Interessenlage und an einer planwidrigen Regelungslücke.

a) Gemäß § 829 BGB hat – sofern der Schadensersatz nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann – eine nach §§ 827, 828 BGB nicht verantwortliche Person gleichwohl den von ihr verursachten Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf. Die Norm beruht auf dem schlichten Rechtsgedanken, dass der wohlhabende Täter auch dann subsidiär für die Vermögensverluste der anderen Seite einstehen soll, wenn er aufgrund fehlenden Entwicklungsstandes oder geistiger Störung für die Folgen seiner Tat nicht verantwortlich gemacht werden kann (vgl. Staudinger/Oechsler aaO § 829 Rn. 1). Der ursprünglich allgemein als „Millionärsparagraph“ bezeichnete § 829 BGB (vgl. BGH NJW 1980, 1623, 1624; BGH NJW 1958, 1630, 1632) ist als Ausfallhaftung zu verstehen, die ausnahmsweise den nicht verantwortlichen Verursacher zum Schadensersatz verpflichtet, sofern die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Schädiger und Geschädigtem eine Schadloshaltung des Letzteren erfordern. Seinem Zweck nach ist er als Kompensation für die nach §§ 827, 828 BGB verursachten Härten und als Ausdruck der Verteilungsgerechtigkeit zu begreifen (vgl. BeckOGK/Schneider, 1.11.2021, BGB § 829 Rn. 2). Die aufgrund der identischen Interessenlage nach ganz herrschender Meinung anerkannte „spiegelbildliche Anwendung“ des § 829 BGB im Rahmen des Mitverschuldens gemäß § 254 BGB (vgl. Staudinger aaO Rn. 66 mwN; BeckOGK/Schneider aaO Rn. 27 mwN) führt indes – anders als das Landgericht annimmt – nicht zu einer entsprechenden Anwendung auch im Rahmen des § 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG. Denn die Interessenlage ist nicht vergleichbar.

Während der primäre Zweck der entsprechenden Anwendung des § 829 BGB im Rahmen des § 254 BGB die Vermeidung unbilliger wirtschaftlicher Härten darstellt (vgl. Staudinger/Oechsler aaO Rn. 67), verfolgt der Entschädigungsausschluss des § 5 Abs. 2 StrEG einen anderen Zweck. Hier geht es um die Versagung einer Entschädigung an denjenigen, der sie nicht verdient, weil er durch sein eigenes Verhalten die Strafverfolgungsmaßnahme ausgelöst hat (vgl. Kunz aaO Rn. 40) und nicht um den Schutz des Staatshaushalts unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

b) Die entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften im Rahmen des § 5 Abs. 2 StrEG beschränkt sich damit auf Fragen der Zurechnung. Raum für außerhalb des StrEG normierte Billigkeitserwägungen besteht nicht. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, eine planwidrige Regelungslücke liegt nicht vor. Den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass sich der Gesetzgeber der Frage von Billigkeitserwägungen im Rahmen des Entschädigungsanspruchs bewusst war. Der Rechtsausschuss hat im Gesetzgebungsverfahren „den Antrag abgelehnt, die Versagungsgründe um eine Generalklausel zu ergänzen, wonach die Entschädigung soll versagt werden können, wenn ihre Gewährung ‚angesichts der besonderen Umstände des Falles offensichtlich unbillig‘ sei. Nach Auffassung der Mehrheit würde eine solche Klausel dem Gericht einen zu weiten Ermessensspielraum einräumen, aus dem Rechtsanspruch auf Entschädigung praktisch einen Billigkeitsanspruch machen (…)“ (vgl. BT-Drucks. VI/1512 S. 3). Danach ist von einer abschließenden Regelung im StrEG auszugehen.“

StrEG III: Verfahrenseinstellung nach § 170 StPO, oder: Keine Billigkeitsentscheidung – Cannabissamen aus NL?

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Und zum Tagesschluss dann noch zwei Entscheidungen zum StrEG, und zwar zur Entschädigung nach Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO, und zwar:

Stellung genommen hat zunächst das LG Mainz im LG Mainz, Beschl. v. 11.01.2022 – 3 Qs 79/21 – zur Frage: Entschädigung in den Fällen der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO nach § 2 StrEG oder nach § 3 StrEG. Das LG sagt:

„Da die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO daher nicht als Ermessensentscheidung erging (vgl. KK-StPO/Moldenhauer, 8. Aufl. 2019, S 170 Rn. 13 f.), bestimmt sich die Entschädigungspflicht insoweit nur nach § 2 StrEG — nicht auch § 3 StrEG —, so dass sie unabhängig von einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls und von Billigkeitsgründen besteht. Entsprechendes gilt auch, soweit der angefochtene Beschluss eine Entschädigungspflicht für die stattgehabte Durchsuchung feststellte, denn diese war — rechtskräftig festgestellt — rechtswidrig, so dass die Erledigung eines daran anknüpfenden Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft einzig nach § 170 Abs. 2 StPO und wiederum ohne Ermessen, nämlich aus tatsächlichen Gründen — wegen fehlenden Anfangsverdachts (vgl. KK-StPO/Moldenhauert a.a.O. Rn. 18) — in Betracht kam.“

Und dann noch der LG Magdeburg, Beschl. v. 25.01.2022 – 21 Qs 1/22, das ebenfalls meint, dass ein Fall des § 3 StrEG, in dem eine Entschädigung lediglich nach Ermessen im Umfang der Billigkeit nach den Umständen des Falles gewährt werden kann, bei einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO nicht vorliegt. Zudem macht das LG ganz interessante Ausführungen zu § 5 Abs. 2 StrEG in den Fällen der Bestellung von Cannabissamen in den Niederlanden:

„Es kann dahinstehen, ob die Anwendung dieser Vorschrift nach einer Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO überhaupt darauf gestützt werden kann, dass der ehemals Beschuldigte sich aufgrund einer eigenen Würdigung des Akteninhalts durch das entscheidende Gericht in Wahrheit im Sinne des ursprünglichen Tatvorwurfs strafbar verhalten habe. Denn jedenfalls vorliegend ist ein solches Verhalten dem Akteninhalt bereits nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu entnehmen. Zwar mag einiges für die Annahme sprechen, der ehemals Beschuldigte habe sich Cannabissamen aus den Niederlanden bestellt. Anders wäre die solche enthaltende an ihn adressierte Briefsendung kaum erklärlich. Jedoch stellt der Erwerb und Besitz von Cannabissamen nicht ohne weiteres vorwerfbares Verhalten dar. Nach Anlage I zum BtMG — Spiegelstrich „Cannabis“, Spiegelstich „ausgenommen“, Buchstabe a) — ist der Samen des Cannabis von den Betäubungsmitteln ausgenommen, sofern er nicht zum unerlaubten Anbau bestimmt ist. Hieraus folgt, dass verschiedene erlaubte Formen der Verwendung von Cannabissamen denkbar sind, etwa als Tierfutter (vgl. Patzak, in: Körner/PatzakNolkmer, Betäubungsmittelgesetz, 9. Auflage 2019, § 29, Rn. 37 <beck-online>). Da bei der Wohnungsdurchsuchung keine anderweitigen mit dem Anbau von Betäubungsmitteln in Verbindung stehenden Utensilien bei dem ehemals Beschuldigten gefunden wurden, kann eine Bestellung von Cannabissamen zu erlaubten Zwecken vorliegend auch nicht aus-geschlossen werden. Da der erlaubte Erwerb von Cannabissamen also in Betracht kommt, kann hierin auch keine grobe Fahrlässigkeit im Hinblick auf die Einleitung einer Strafverfolgungsmaßnahme liegen. Zwar ist das Entstehen eines Anfangsverdachts gegen den Adressaten durch das Auffinden von Cannabissamen in einer Briefsendung nachvollziehbar, weil nach kriminalistischer Erfahrung aus den Niederlanden bestellte Cannabissamen häufig zum unerlaubten Anbau von — und in der Folge Besitz von und Handel mit — Cannabis verwendet werden. Dies kann jedoch vor dem Hintergrund der ausdrücklichen gesetzlichen Einschränkung der Einordnung von Cannabissamen als Betäubungsmittel nicht dazu führen, dass jeder Umgang mit solchen ohne weiteres bereits als grob fahrlässig in Bezug auf entsprechende Straf-verfolgungsmaßnahmen anzusehen wäre.“

StrEG I: Entschädigung für Untersuchungshaft?, oder: Fluchtversuch vor der Feststellung der Personalien

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Der Tag heute ist dann der Entschädigung nach dem StrEG gewidmet. Zu der Problematik haben sich in der letzten Zeit einige Entscheidungen angesammelt.

Hier zunächst der KG, Beschl. v. 07.05.2021 – 2 Ws 25/21 – zur Anwendung und den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 StrEG. Die Angeklagte ist frei gesprochen worden. Entschädigung für Untersuchungshaft hat das LG aber nicht gewährt, weil die ehemalige Angeklagte diese selbst „verursacht“ habe. Das KG schließt sich dem an:

§ 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –). Es reicht daher nicht aus, dass sich der Freigesprochene irgendwie verdächtig gemacht hat und die gesamte – allein oder überwiegend aufgrund anderer Beweismittel bestehende – Verdachtslage die ergriffene Strafverfolgungsmaßnahme rechtfertigt (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris). Erforderlich ist vielmehr, dass er die Maßnahme durch die Tat selbst oder sein früheres oder nachfolgendes Verhalten ganz oder überwiegend verursacht hat (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 – und vom 9. März 1999 – 4 Ws 24/99 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 7). Das Verhalten des Freigesprochenen ist nicht oder nicht mehr ursächlich, wenn die Maßnahme auch unabhängig von seinem Verhalten, welches sicher festzustellen ist (vgl. OLG Köln StraFo 2001, 146), angeordnet oder aufrechterhalten worden wäre (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255; OLG Oldenburg StraFo 2005, 384; KG StraFo 2009, 129) oder wenn sie allein oder im Wesentlichen auf anderen Beweisen beruht (vgl. Senat aaO mwN). Im Zweifelsfall ist zu seinen Gunsten zu entscheiden (vgl. KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –).

Ob eine schuldhafte Verursachung vorliegt, ist ausschließlich nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen (§§ 254, 276, 277, 278 BGB) zu beurteilen (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450, 451; KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN). Dabei steht eine Verletzung der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht einer Mitverursachung gleich (vgl. KG StraFo 2009, 129). Der Freigesprochene hat die Ermittlungsmaßnahme dann zumindest grob fahrlässig verursacht, wenn er nach objektiven, abstrakten Maßstäben in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage aufwenden würde, um sich vor Schaden durch Strafverfolgungsmaßnahmen zu schützen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 9), indem er schon einfachste, naheliegende Überlegungen anzustellen versäumt oder dasjenige nicht bedenkt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsste, und so die Maßnahme „geradezu herausfordert“ (vgl. KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht der Freigesprochenen eine Entschädigung für die vorläufige Festnahme und die erlittene Untersuchungshaft zu Recht versagt. Diese hat ihre vorläufige Festnahme sowie die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft grob fahrlässig verursacht.

Die Strafkammer hat im Urteil festgestellt (UA S.17), dass die Freigesprochene, ihren – deshalb verurteilten – Begleiter und Mitangeklagten V. am Abend des 11. Juli 2020, in der Nähe des U-Bahnhofs Gleisdreieck in Berlin aus geringer Entfernung dabei beobachtete, wie dieser dem Zeugen M. eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole an den Kopf hielt, um ihm zur Duldung der Wegnahme eines 50-Euro-Scheines zu veranlassen, den er ihm zugleich aus der Hosentasche zog. Danach sah sie zu, wie der Mitangeklagte diesen Geldschein an eine unbekannt gebliebene männliche Person weitergab. Kurze Zeit später war sie dabei, als der Mitangeklagte einen weiteren Mann kurz vor dem U-Bahnhof schlug und ihm einen unbekannt gebliebenen Gegenstand entwendete. Als eine Gruppe von Passanten darauf aufmerksam wurde und einzelne aus der Gruppe versuchten, den Mitangeklagten V. festzuhalten, stießen und zogen die Freigesprochene sowie der weitere Mitangeklagte M. diese von dem Mitangeklagten V. fort. Die Freigesprochene schlug zudem mit ihrer Tasche nach ihnen und schrie sie an.

Im Zuge der anschließenden vorläufigen Festnahme der Mitangeklagten auf dem        U-Bahnhof versuchte die Beschwerdeführerin, gegenüber den eingetroffenen Polizeibeamten den Tatverdacht gegen diese zu entkräften, indem sie wider besseres Wissen behauptete, insbesondere der Angeklagte V. hätte keine strafbaren Handlungen begangen. Zudem versuchte sie, – bevor ihre Personalien aufgenommen werden konnten – den Bahnhof zu verlassen, und konnte nur durch das Eingreifen eines Polizeibeamten im letzten Moment daran gehindert werden, mit einer gerade eingefahrenen U-Bahn zu entkommen. Erst daraufhin wurde auch sie vorläufig festgenommen.

a) Das Verhalten der Freigesprochenen war kausal für die Strafverfolgungsmaßnahmen. Die Beschwerdeführerin hat die freiheitsentziehenden Maßnahmen dadurch verursacht, dass sie durch ihr den Mitangeklagten V. abschirmendes Verhalten nicht nur den dringenden Verdacht einer Beteiligung an dessen Taten erzeugt, sondern durch ihren Fluchtversuch auch den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) geschaffen hat.

b) Ein Beschuldigter kann die Anordnung von Untersuchungshaft nicht nur dadurch verursachen, dass er durch sein Verhalten maßgeblich zur Entstehung des dringenden Tatverdachts beiträgt, sondern auch dadurch, dass er in zurechenbarer Weise (vgl. KG, StraFo 2009, 129) einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung eines Haftgrundes – auch eines weiteren Haftgrundes (vgl. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1998, 341; KG Rpfleger 1999, 350; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris) – leistet (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255, 256; OLG Brandenburg, Beschluss vom 5. Dezember 2007 – 1 Ws 273/07 – juris; Senat aaO mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 11).

c) Die Annahme von Fluchtgefahr war aufgrund der Gesamtumstände zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme und des Haftbefehlserlasses naheliegend. Die Beschwerdeführerin wurde letztlich nur freigesprochen, weil die Strafkammer im Ergebnis der mehrtätigen Beweisaufnahme zu ihren Gunsten davon ausgehen musste, dass ihre den Haupttäter unterstützenden und abschirmenden Handlungen spontan und erst nach Beendigung der Haupttat sowie der bereits anderweitig erfolgten Beutesicherung einsetzten. Der aus der Straferwartung resultierende hohe Grad der Fluchtgefahr gebot auch den Vollzug der Untersuchungshaft.

d) Das für die freiheitsentziehenden Strafverfolgungsmaßnahmen ursächliche Verhalten der Beschwerdeführerin ist nach den eingangs dargelegten Maßstäben auch zweifellos als grob fahrlässig zu werten.“