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Pflichti I: Schwere der Tat bei mehreren Verfahren, oder: Bestellung eines Betreuers

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag. Ein paar Entscheidungen haben sich angesammelt.

Ich beginne den Reigen mit zwei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Ein geringfügiges Delikt rechtfertigt nicht schon dann die Bejahung des Merkmals der „Schwere der Tat“ im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, weil später voraussichtlich eine Freiheitsstrafe/ (Einheits-) Jugendstrafe von mehr als einem Jahr unter Berücksichtigung des hiesigen geringfügigen Delikts zu erwarten ist. Vielmehr ist eine Prüfung im Einfall erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafe/Einheitsjugendstrafe das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöht, dass die Mitwirkung des Verteidigers geboten ist.

Es macht nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Pflichti III: Keine fiskalischen Erwägungen bei der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Kostenargument mal anders

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Manchmal fragt man sich wirklich, was eigentlich von den Instanzgerichten an Rechtsprechung und Literatur eigentlich gelesen und/oder heangezogen wird. Wenn den Vorsitzende einer Berufungskammer des LG Berlin sich an der Stelle nur ein wenig (mehr) Mühe gemacht hätte, dann hätte er m.E. unschwer erkennen können – ja müssen -, dass seine Entscheidung zur Pflichtverteidigung falsch ist und der ganz h.M. in Rechtsprechung und Literatur widerspricht. Daher hat dann auch das KG später sein Urteil mit dem KG, Beschl. v. 06.01.2017 – 4 Ws 212/16 – 161 AR 190/16 – aufgehoben. Wenn man die Leitsätze liest, braucht man dazu nichts mehr zu sagen:

  1. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sind weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen.
  2. Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig.

Ich erspare mir, hier die Begründung des KG einzustellen. Die entspricht der in dieser Frage herrschenden Argumentation. Interessantes sind dann die Ausführungen des KG zur Argumentation des Vorsitzenden:

„Entgegen der Auffassung des Vorsitzenden der Berufungskammer ist bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Diese Auffassung, die von der im Nichtabhilfebeschluss zum Ausdruck gebrachten Bewertung getragen ist, die Berücksichtigung nur zu erwartender (also noch nicht rechtskräftig verhängter) gesamtstrafenfähiger Strafen führe zu „einem bei Mehrfachtätern – auch aus fiskalischer Sicht – nicht hinnehmbaren Ausufern des Instituts der notwendigen Verteidigung“, wird dem Grund und Wesen der notwendigen Verteidigung nicht gerecht. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält (vgl. BVerfGE 46, 202, 210; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214 = OLGSt StPO § 140 Nr. 31). Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, Rn. 1 mwN). Ebenso wenig, wie das Institut der notwendigen Verteidigung der finanziellen Versorgung von Rechtsanwälten dient, darf sich das Strafgericht bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung in erster Linie von fiskalischen Erwägungen leiten lassen (vgl. dazu auch Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2016 – 4 Ws 191/16 – [betreffend eine Entscheidung desselben Kammervorsitzenden]). Auch kommt nach der gesetzlichen Konzeption des § 140 Abs. 2 StPO eine einschränkende Rechtsanwendung unter unmittelbarer Anknüpfung an die strafrechtliche „Karriere“ eines Beschuldigten nicht in Betracht. Das Landgericht verkennt, dass nicht erst und ausschließlich dasjenige (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, in dem die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile auslöst; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.“

Rührend 🙂 ist immer die Sorge um die Staatskasse, hier die des Vorsitzenden. Zutreffend ist es, wenn  das KG das Argument: „Pflichtverteidigung dient nicht der finanziellen Versorgung der Rechtsanwälte“ nun umkehrt.

Strafzumessung II: 4 + 5 Jahre = 9 Jahre, oder: Gesamtstrafübel

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Bei der zweiten vorgestellten Entscheidung zur Strafzumessung (zum „Opening“ der OLG Hamm, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 RVs 116/16 – und dazu Strafzumessung I: „Bewährung gibt es nicht, denn die fehlt die Unrechtseinsicht“)  handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 20.09.2016 – 1 StR 347/16. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen u.a. Nach den Feststellungen war die Angeklagte bereits am 04.09.2015 vom LG Nürnberg-Fürth wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden; es ging um Cannabisprodukte mit einem Trockengesamtgewicht von 447,62 Gramm und einer Wirkstoffmenge von 38,7 Gramm Tetrahydrocannabinol (THC). Bei einer (weiteren) Durchsuchung am 08.09.2015 wurde in der Wohnung sowie dem (nun durchsuchten) dazugehörigen Kellerraum Haschisch mit einem Trockengesamtgewicht von 300,81 Gramm sowie Marihuana mit einem Trockengesamtgewicht von 167,98 Gramm aufgefunden. Die Gesamtmenge an THC betrug 63,0 Gramm. 90 % dieser Betäubungsmittel waren für den gewinnbringenden Verkauf und 10 % für den Eigenkonsum bestimmt. Das LG hat die Angeklagte dann zu einer (qweiteren) Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt. Der Rechtsfolgenausspruch dieses Urteils wird vom BGH aufgehoben. Begründung:

„Der Strafausspruch hält jedoch revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat es versäumt, mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben der Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), das mit der Verurteilung der Angeklagten verbundene Gesamtstrafübel ausdrücklich zu erörtern. Das Tatgericht hat grundsätzlich das gesamte Gewicht der verhängten Strafe und ihre Folgen in seine Entscheidung einzustellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. August 2011 – 4 StR 367/11, StV 2012, 15; vom 10. November 2010 – 5 StR 456/10, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Anwendungspflicht 6; vom 27. Januar 2010 – 5 StR 432/09, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 19 und vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 314; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 1245). Einen Nachteil, der sich für eine Angeklagte dadurch ergibt, dass die Bildung mehrerer Strafen zu einem zu hohen Gesamtstrafübel führt, muss das Tatgericht gegebenenfalls ausgleichen. Diesem rechtlichen Maßstab wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Das Landgericht hat im Rahmen der Strafzumessung nicht bedacht, dass neben der nun verhängten Freiheitsstrafe von fünf Jahren auch die bereits durch das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Urteil vom 4. September 2015 verhängte Freiheitsstrafe von vier Jahren vollstreckt werden muss und das daraus resultierende Gesamtstrafübel rechtsfehlerhaft nicht erkennbar berücksichtigt.“