Die zweite Entscheidung des Tages kommt mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 08.09.2020 – 2 Ss (OWi) 195/20 – aus dem hohen Norden. Es geht um die Beweiskraft einer/der Zustellungsurkunde und zu den Anforderungen an deren Erschütterung bzw. Widerlegung. Eine Frage, die ja nicht nur im Bußgeldverfahren, sondern auch im Strafverfahren von Bedeutung ist.
Das OLG hat die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen seine Veurteilung wegen eines Abstandsverstoßes verworfen:
„Die Nachprüfung des Urteils lässt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen erkennen. Insbesondere greift der Verjährungseinwand nicht durch.
II.
Zugrunde liegt folgender Geschehensablauf:
Der Betroffenen wird eine am TT.MM.2019 begangene Abstandsunterschreitung vorgeworfen. Unter dem Datum vom 09.08.2019 ist sie hierzu angehört worden.
Mit Schreiben vom 14.08.2019 hat das Verteidigerbüro CC und DD die Interessenvertretung der Betroffenen angezeigt. Beigefügt war eine Vollmacht dieses Datums, u.a. ausgestellt auf Rechtsanwalt BB, nicht aber auf Rechtsanwalt CC.
Die Zustellung des Bußgeldbescheides vom 01.10.2019 sollte an Rechtsanwalt BB erfolgen.
In der Zustellungsurkunde vom 04.10.2019 ist angekreuzt, dass das Schriftstück unter der Zustellungsanschrift an Frau DD -eine im Verteidigerbüro tätige Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte- übergeben worden sei, weil der Zusteller den Adressaten in den Geschäftsräumen nicht erreicht habe.
Unter dem Datum vom 18.10.2019 legte Rechtsanwalt CC Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Als Anlage zu Protokoll der Hauptverhandlung vom 22.05.2020 findet sich eine am 18.10.2019 u.a. auf Rechtsanwalt CC ausgestellte Vollmacht.
Mit Schriftsatz vom 02.03.2020 erhob Rechtsanwalt BB, der auch an der Hauptverhandlung teilgenommen hat, die Verjährungseinrede. Er machte geltend, dass die Zustellung nicht an den in der Kanzlei anwesenden Verteidiger – Rechtsanwalt BB- sondern an die Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte erfolgt sei. Nachgereicht wurde hierzu ein Aktenvermerk vom 04.10.2019, wonach am Freitag 04.10.2019 gegen 10:00 Uhr der Postbote mit einer förmlichen Zustellung für Rechtsanwalt BB in die Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei gekommen sei. Dieser habe sich ebenfalls „im Gebäude“ befunden. Auf Nachfrage, ob Rechtsanwalt BB „dieses“ gegenzeichnen solle, habe der Postbote das verneint und nur den Namen der Angestellten erfragt, diesen aufgeschrieben und das Gebäude wieder verlassen.
Der Aktenvermerk weist als Ausstellerin die Angestellte DD aus, ist aber nicht unterschrieben.
III.
Bei dieser Sachlage bedarf es der Aufklärung über den Hergang der Zustellung des Bußgeldbescheides nicht.
1. Es ist nämlich bereits von einer wirksamen Zustellung des Bußgeldbescheides auszugehen:
Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erstreckt sich darauf, dass der Postbedienstete den Adressaten (und bei der -hier nicht erfolgten- Niederlegung: auch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person) nicht angetroffen hat (vgl. nur BFH GmbHR 2015, 776).
Derjenige, der sich auf die Unwirksamkeit der Zustellung beruft, muss den Nachweis eines anderen Geschehensablaufes erbringen (BFH a.a.O.).
Der Betroffene hat über seinen Verteidiger lediglich den oben wiedergegebenen Aktenvermerk der Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten DD vorgelegt.
Zum einen ist durch die Frage, ob Rechtsanwalt BB „gegenzeichnen soll“, schon nicht gesagt, dass auch dem Zusteller die Anwesenheit von Rechtsanwalt BB zum Zustellungszeitpunkt und insbesondere auch dessen Möglichkeit und Bereitschaft, gerade zu diesem Zeitpunkt die Zustellung entgegenzunehmen, mitgeteilt worden ist. In der widerspruchslosen Entgegennahme durch eine in den Geschäftsräumen beschäftigte Person, liegt nämlich vielmehr zugleich die (konkludente) Erklärung, der Zustellungsadressat sei abwesend bzw. an der Entgegennahme verhindert (BGH NJW-RR 2015, 702). Zu einer Nachfrage war der Zusteller nicht verpflichtet. Es reicht aus, dass er den Zustellungsadressaten in dem Geschäftsraum, in dem sich der Publikumsverkehr abspielt, nicht antrifft (BGH a.a.O.).
Damit fehlt es schon an einem ausreichend schlüssigen Vortrag, der die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erschüttern könnte. Erforderlich ist nämlich „insoweit jedoch eine vollständige Beweisführung, insbesondere eine substantiierte Darlegung und der Nachweis des Gegenteils (Zöller/Stöber § 182 Rn. 15; Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. § 37 Rn. 27; KK/Maul StPO 6. Aufl. § 37 Rn. 26; HK/Gercke StPO 4. Auf. § 37 Rn. 28; Radtke/Hohmann-Rappert StPO § 37 Rn. 35, jeweils m.w.N.). Im Falle des § 180 ZPO ist der volle Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehens, der notwendig ein Fehlverhalten des Zustellers und eine objektive Falschbeurkundung belegt, in der Weise erforderlich, dass die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig entkräftet und jede Möglichkeit der Richtigkeit der in ihr niedergelegten Tatsachen ausgeschlossen ist (Zöller/Geimer §418 Rn. 3 a.E. a.E.; vgl. aus der Rspr. insbesondere BGH NJW 2006, 150 ff. = DAR 2006, 91 ff.; ferner OLG Düsseldorf JurBüro 1995, 41 = OLGSt StPO §45 Nr. 11; BFH NJW 1997, 3264 und zuletzt OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 147 f.).“ (OLG Bamberg, Beschluss vom 22. Februar 2012 – 3 Ss OWi 100/12 –, Rn. 8, juris).
Darüber hinaus ist der Vortrag auch nicht nur nicht glaubhaft gemacht worden, sondern der Aktenvermerk ist noch nicht einmal von der Mitarbeiterin, von der er zu stammen scheint, unterschrieben worden.
2. Im Übrigen wäre durch den vom Amtsgericht unwidersprochen gebliebenen tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheides am 18.10.2019 bei Rechtsanwalt CC und Erteilung der Vollmacht, Heilung eingetreten (vgl. BGH NJW 1989, 1154; NJW-RR 2011, 417 zu § 187 ZPO aF bzw. § 189 ZPO).“