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Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe

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Und heute dann „Pflichti“, es hält sich dieses mal aber in Grenzen.

Zunächst hier drei LG-Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar:

Der LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – nimmt noch einmal Stellung zur Erforderlichkeit der Beiordnung in den Fällen der psychischen Beeinträchtigung des Beschuldigten:

„1. Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt hier gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, weil ersichtlich ist, dass sich die Beschwerdeführerin, der auch der Tatvorwurf eröffnet worden ist und die noch keinen Verteidiger hatte, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Denn ausweislich des aufgrund der Betreuerbestellung eingeholten psychiatrischen Gutachtens leidet die krankheits- und behandlungsuneinsichtige Beschwerdeführerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie, kann weder lesen noch schreiben, ist in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft. Sie sei, so die psychiatrische Sachverständige, krankheitsbedingt nicht in der Lage, im Hinblick auf eine Betreuung einen freien Willen zu bilden, sondern ganz in ihrem eigenen Erleben gefangen. Die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Selbstverteidigung wird darüber hinaus dadurch belegt, dass sie vom Amtsgericht Mitte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung unter Betreuung gestellt worden ist, wobei zum Aufgabenkreis des Betreuers unter anderem die Vertretung gegenüber Behörden zählt.

Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO kommt nicht in Betracht, da dies ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts sich lediglich auf Beiordnungen bezieht, die von Amts wegen erwogen werden (vgl. nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 17).“

Und die zweite Entscheidung. der LG Oldenburg, Beschl. v. 17.08.2023 – 4 Qs 252/23 -, nimmt noch einmal zur „Schwere der Rechtsfolge“ Stellung, und zwar wie folgt:

Die Schwere der drohenden Rechtsfolge i.S. des § 140 Abs. 2 StPO bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

Und dann noch der LG Münster, Beschl. 22.08.2022 – 11 Qs 27/23:

Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung. Das gilt auch, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf  droht.

 

Strafzumessung I: Widerruf in anderer Sache droht, oder: Das muss erörtert werden

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Wenn ich es richtig sehe, habe ich im neuen Jahr noch keine Strafzumessungsentscheidungen vorgestellt. Das hole ich heute nach.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 09.09.2020 – 2 StR 281/20. Der BGH beanstandet eine landgerichtliche Strafzumessung als „lückenhaft“:

„a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. In die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).

Bei der Darstellung seiner Strafzumessungserwägung im Urteil ist das Tatgericht nur gehalten, die bestimmenden Zumessungsgründe mitzuteilen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; BGH, Urteil vom 2. August 2012 – 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337). Ein der Strafzumessung in sachlich-rechtlicher Hinsicht anhaftender Rechtsfehler liegt jedoch dann vor, wenn das Tatgericht bei seiner Zumessungsentscheidung einen Gesichtspunkt, der nach den Gegebenheiten des Einzelfalls als bestimmender Strafzumessungsgrund in Betracht kommt, nicht erkennbar erwogen hat (vgl. BGH, Urteile vom 27. Februar 2020 – 4 StR 552/19, juris Rn. 10, vom 4. April 2019 – 3 StR 31/19, juris Rn. 15; Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, aaO).

b) Diesen Anforderungen wird die Strafzumessungsentscheidung des angefochtenen Urteils nicht in jeder Hinsicht gerecht. Sie erweist sich als lückenhaft.

aa) Die Strafkammer hat einerseits rechtsfehlerfrei zum Nachteil des Angeklagten unter anderem dessen strafrechtliche Vorbelastung aufgrund einer Verurteilung vom 1. Juni 2017 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie die Begehung der neuerlichen Tat während der bis zum 31. Mai 2020 für die vorgenannte Verurteilung laufenden Bewährungszeit berücksichtigt.

bb) Sie hätte indes mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), angesichts des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung einer erheblichen Restfreiheitsstrafe auch das den Angeklagten treffende Gesamtstrafübel in den Blick nehmen und erörtern müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 478/14, juris Rn. 3; Senat, Urteil vom 22. August 2012 – 2 StR 235/12, juris Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2009 – 5 StR 243/09, NStZ-RR 2009, 367, vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 314; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis für Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 740; MüKo-StPO/Wenske, § 267 Rn. 395). Zwar hatte der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen in dem zum Widerruf anstehenden Verfahren in der Zeit vom 17. Dezember 2016 bis zum 1. Juni 2017 Untersuchungshaft erlitten. Gleichwohl wird die Gesamtverbüßungsdauer durch den drohenden Bewährungswiderruf der verbleibenden Reststrafe von mehr als einem Jahr hier erheblich verlängert. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.“

Geldstrafe – Pflichtverteidiger? – Nein, auch nicht bei drohendem Bewährungswiderruf, oder: Ein Teufelkreis

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Im Moment hängen in meinem Blogordner eine ganze Reihe von Entscheidungen, die sich mit Pflichtverteidigungsfragen befassen. Darunter war auch der LG Kleve, Beschl. v. 14.11.2014 – 120 Qs 96/14 -, der sich mit der Erforderlichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers befasst, wenn Widerruf von Strafaussetzung in einem anderen Verfahren droht. Insoweit an sich nichts Besonderes, aber: Beim LG Kleve drohte im Verfahren, in dem es um die Bestellung ging, wohl nur eine Geldstrafe, in dem anderen Verfahren stand aber der Widerruf von einer mehr als einjährigen Jugendstrafe im Raum. Das Kleve meint: Pflichtverteidiger? Nein, denn:

Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung dar. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand (Verteidiger) erhält. Für die Bewertung, ob ein solcher schwerwiegender Fall vorliegt, kommt es deshalb zunächst auf das Gewicht der Rechtsfolgen an, die in dem betreffenden Verfahren, in dem sich der Beschuldigte verteidigen muss, zu erwarten sind, gegebenenfalls auf die zu erwartende Gesamtstrafe unter Einbeziehung vorangegangener Verurteilungen. Darüber hinaus ist auch die Gesamtwirkung der Strafe zu berücksichtigen. Hierzu gehören sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Beschuldigte infolge der Verurteilung zu befürchten hat, wie etwa ein drohender Bewährungswiderruf. Nach verbreiteter Auffassung gehören hierzu auch weitere gegen den Beschuldigten anhängige Strafverfahren, in denen es zu einer Gesamtstrafenbildung kommen kann. Diese „Berücksichtigung” bedeutet aber keinen starren Schematismus. Ein geringfügiges Delikt wird nicht allein deshalb zur schweren Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, weil die Strafe später voraussichtlich in einem anderen Verfahren in eine Gesamtstrafenbildung von mehr als 1 Jahr einzubeziehen sein wird. So hat z.B. das LG Frankfurt a.M. die Notwendigkeit der Verteidigung in einem Fall verneint, in dem es nur um eine Geldstrafe wegen Schwarzfahrens ging, obwohl die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe mit einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr in Betracht kam (LG Frankfurt a.M., NStZ-RR 2011, 183). Es bedarf deshalb der Prüfung im Einzelfall, ob die weiteren Folgen auch anderer Verfahren das Gewicht des vorliegend abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 – 2 Ws 37/12, NStZ-RR 2012, 214; ebenso OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.10.2000 – 2 Ws 282/00, NStZ-RR 2001, 52: Straferwartung von 6 Monaten + Widerruf von 6 Monaten reicht alleine nicht; keine starre Grenze; entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls).

Hinzu kommt Folgendes: Die Prüfung des Bewährungswiderrufs ist ein eigenständiges Verfahren (ggf. vor einem anderen Gericht), in dem unter Umständen eine separate Pflichtverteidigerbestellung erfolgen kann (vgl. LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., § 140 Rn. 125). Ist dort eine hohe Strafe zur Bewährung ausgesetzt, so wird der Verurteilte bereits vom dortigen Gericht über die Besonderheiten der Strafaussetzung belehrt worden sein; auch wird ihm dann im dortigen Ausgangsverfahren sein damaliger Verteidiger bereits über die möglichen Rechtsmittel und die Folgen der Aussetzung zur Bewährung unterrichtet haben. Kommt es im neuen Verfahren nur zu einer Geldstrafe, so ist dort eine Prüfung der Voraussetzungen des § 56 StGB mit einer eingehenden Kriminalprognose nicht erforderlich. Die Wiederholungsgefahr wird vielmehr schwerpunktmäßig und eigenständig durch das Gericht erfolgen, das für die Frage des Bewährungswiderrufs zuständig ist.“

Ich habe erheblich Bedenken, ob das so richtig ist. Denn:

  • M.E. ist die Entscheidung des LG inkonsequent. Denn geht man davon aus, dass für die Frage der „Schwere der Tat“ i.S. des § 140 Abs. 2 StPO die sog. „Gesamtstraferwartung“ eine Rolle spielt, dann kann man m.E. kaum darauf abstellen, dass im Ablassverfahren nur eine Geldstrafe zu erwarten ist. Denn damit lässt man die schwerere Strafe des anderen Verfahrens – hier ein Jahr und drei Monate – im Grunde doch außen vor, berücksichtigt sie also eigentlich nicht. Damit kommt es in diesen Fällen mit der Argumentation zu einem Zirkelschluss.
  • Auch der Verweis auf das Vollstreckungsverfahren trägt kaum bzw. erst recht nicht. Denn mit der wird der Angeschuldigte in einen Teufelskreis getrieben. Die Pflichtverteidigerbestellung im Erkenntnisverfahren wird unter Hinweis auf die Möglichkeit der analogen Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO im Strafvollstreckungsverfahren abgelehnt. Im Strafvollstreckungsverfahren wird aber leider noch immer i.d.R. die Bestellung eines Pflichtverteidigers verweigert, weil die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO wegen der bloß analogen Anwendung der Vorschrift besonders eng auszulegen seien. Ergebnis: Es wird weder im Erkenntnisverfahren noch im Vollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger bestellt und dass bei einer Gesamtstraferwartung von einem Jahr und mehr.

Aber vielleicht ist ja gerade das Ergebnis gewollt.