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Corona II: Die Ladung von Zeugen in Corona-Zeiten, oder: Hier „nur“ vor einen Untersuchungsausschuss

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 17.11.2020 – 3 ARs 14/20 – hat der 3. Strafsenat zur Ordnungsgemäßheit der Laden eines Zeugen Stellung genommen. Geladen worden ist der ehemalige Vorsitzende der Wirecard AG als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Wirecardpleite. Der Antragsteller war befindet sich derzeit in Untersuchungshaft in der JVA A.. Er hat zur Ladung dahin Stellung genommen, dass wegen der Corona-Pandemie eine Verschubung nach Berlin unverhältnismäßig sei und zu unvertretbaren Gesundheitsrisiken für ihn sowie Mitarbeiter und Insassen der Justizvollzugsanstalt führe. Auch von Seiten der Staatsanwaltschaft bestünden Bedenken wegen der gesundheitlichen Gefahren und sich aufdrängender Sicherheitsrisiken. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete die Wahl des mildesten Mittels. In der Justizvollzugsanstalt stehe eine Videoanlage zur Verfügung, über welche die Vernehmung in den Untersuchungsausschuss übertragen werden könne. Hierzu sei der Antragsteller bereit.

Der BGH hat das anders gesehen:

„a) Rechtsgrundlage für die Ladung von Zeugen durch einen Untersuchungsausschuss sind § 20 PUAG sowie gemäß Art. 44 2 Satz 1 GG ergänzend die sinngemäß anzuwendenden Vorschriften der Strafprozessordnung. Dabei ist ebenso wie im Strafverfahren der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Juni 2009 – 2 BvE 3/07, BVerfGE 124, 78, 125; zum Strafverfahren etwa BGH, Beschlüsse vom 4. Januar 1993 – StB 27/92, BGHSt 39, 96, 99; vom 5. September 2000 – 1 StR 325/00, NJW 2001, 695, 696). Ein Verstoß dagegen ist nicht ersichtlich.

aa) Bei Eingriffen in individuelle Rechte des Antragstellers sind diese mit den für die Maßnahme sprechenden Gründe abzuwägen; dazu können das Gewicht des Untersuchungsauftrags sowie die Bedeutung des Beweisthemas herangezogen werden (s. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 – 2 BvR 1178/86, BVerfGE 77, 1, 59 f.). Dabei ist einerseits in den Blick zu nehmen, dass das in Art. 44 GG gewährleistete Untersuchungsrecht zu den ältesten und wichtigsten Rechten des Parlaments gehört (BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2016 – 2 BvE 2/15, BVerfGE 143, 101 107 mwN). Andererseits ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten, das nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in diese Rechtsgüter gewährt, sondern zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung darstellt, die staatliche Schutzpflichten begründet (s. etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15, BVerfGE 142, 313 Rn. 69 mwN). Ein Konflikt zwischen dem Beweiserhebungsrecht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und dem Gesundheitsschutz ist durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Betroffenen im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Beurteilung dieser Frage können unter anderem Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern (entsprechend zu Strafverfahren BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, NJW 2020, 2327 Rn. 7; vergleichbar zum parlamentarischen Untersuchungsausschuss BVerfG, Beschluss vom 17. Juni 2009 – 2 BvE 3/07, BVerfGE 124, 78, 125). Bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kommt staatlichen Stellen zudem ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, NJW 2020, 2327 Rn. 8).

bb) Nach den aufgezeigten Maßstäben sind die Ladung des Antragstellers sowie seine geplante Vorführung zur Vernehmung verhältnismäßig und nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner ist insbesondere nicht verpflichtet, von einer persönlichen Vernehmung des Antragstellers abzusehen und sich – wie von diesem gewünscht – mit dessen audiovisueller Einvernahme zu begnügen.

(1) Der Antragsgegner ist sich, wie sich bereits aus seiner an den Antragsteller gerichteten Ladung und insbesondere seiner Stellungnahme zu dem Antrag ergibt, des mit dem neuartigen Corona-Virus einhergehenden Gesundheitsrisikos bewusst und hat insoweit Schutzmaßnahmen getroffen. So sollen die Überstellung als Einzeltransport und die Vorführung unter Beachtung strenger Gesundheits- sowie Hygienevorschriften vorgenommen werden. Während der Vernehmung beträgt der Mindestabstand aller Sitzungsteilnehmer 1,5 Meter; bei Verlassen des Sitzplatzes besteht, wie in sämtlichen Gebäuden des Bundestages, eine „Maskenpflicht“. Der Zeuge erhält zudem die Möglichkeit, sowohl vor der Abfahrt aus der Justizvollzugsanstalt A. als auch im Bundestag als auch in der Justizvollzugsanstalt in Berlin vor dem Rücktransport einen Corona-Schnelltest durchführen zu lassen.

Ein über diese vorgesehenen Maßnahmen noch hinausgehender, nahezu vollständiger Schutz vor jeglicher mit einer Zeugenaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss verbundener Gesundheitsgefahr ist rechtlich nicht geboten, zumal ein gewisses Infektionsrisiko aktuell für die Bevölkerung insgesamt zum allgemeinen Lebensrisiko gehört (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, NJW 2020, 2327 Rn. 9).

(2) Der Zeugenvernehmung des Antragstellers kommt angesichts seiner früheren Stellung als Vorstandsvorsitzender der Wirecard AG ersichtlich eine herausgehobene Bedeutung zu. Untersuchungsgegenstand des Ausschusses ist unter anderem, „ob und wenn ja, inwieweit ggf. Verbindungen zwischen dem Wirecard-Konzern und inländischen staatlichen Stellen bestanden“ (BT-Drucks. 19/22996 S. 2). Der Antragsteller ist laut Antragsschrift bereit, sich zu seinen Kontakten zu Behördenvertretern sowie Politikern zu äußern „und insoweit zur Aufklärung der untersuchungsrelevanten Sachverhalte beizutragen“.

(3) Gegenüber einer etwaigen audiovisuellen Vernehmung entsprechend Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG, § 247a Abs. 1 Satz 1, § 251 Abs. 2 StPO stellt die unmittelbare Befragung des Zeugen die Regel dar (vgl. zum Strafverfahren BT-Drucks. 13/7165 S. 5; BGH, Beschluss vom 20. September 2016 – 3 StR 84/16, NJW 2017, 181 Rn. 11; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 247a Rn. 4). Die audiovisuelle Vernehmung weist im Vergleich zu einer unmittelbaren Einvernahme gewisse Defizite auf (s. BGH, Urteil vom 15. September 1999 – 1 StR 286/99, BGHSt 45, 188, 196 f.). Die Anordnung der audiovisuellen Vernehmung steht bei Vorliegen der Voraussetzungen im pflichtgemäßen Ermessen. Hierbei sind die wechselseitigen Interessen aller Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen, gegeneinander abzuwägen und miteinander in Ausgleich zu bringen (zum Strafverfahren BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2014 – 2 BvR 261/14, NJW 2014, 1082 Rn. 29).

Es kann dahinstehen, ob diese für das Strafverfahren entwickelten Maßgaben in gleicher Weise für eine Zeugenaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss gelten. Der Antragsgegner hat sich hier jedenfalls nachvollziehbar von der Erwägung leiten lassen, dass es angesichts der zentralen Bedeutung des Antragstellers für die Erforschung des Untersuchungsgegenstandes und für die weitere Beweisaufnahme auf einen unmittelbaren sowie authentischen Eindruck von dessen gesamten Aussageverhalten ankomme. Es bestehe Anlass zu einer besonders gründlichen Vergewisserung der Glaubhaftigkeit seiner Aussage, zumal diese für die Zuweisung von rechtlicher und politischer Mitverantwortung für die Nichtaufdeckung einer Bilanzmanipulation durch Dritte eine Rolle spielen könne. Dies ist nicht zu beanstanden.

(4) Nach einer Gesamtwürdigung der divergierenden Belange sind die angegriffene Ladung und Vorführung angemessen.

Zwar gehen mit einer Überstellung sowie Vorführung zur Zeugenvernehmung in Berlin zusätzliche Kontakte und mithin erhöhte potentielle Ansteckungsmöglichkeiten einher. Allerdings bestehen keine konkreten Anhaltspunkte für eine tatsächlich bevorstehende Gesundheitsbeeinträchtigung des Antragstellers über das derzeit allgemein gegebene Infektionsrisiko hinaus. Zu dessen Minderung hat der Antragsgegner – ebenso wie die Justizvollzugsanstalt – Maßnahmen ergriffen. Überdies betrifft die Zeugenvernehmung einen Kernbereich des Untersuchungsauftrages, so dass die mit einer audiovisuellen Vernehmung verbundenen Einschränkungen der Aufklärung besonders zu bedenken sind.“

Es ging zwar „nur“ um einen parlamentarischen Untersuchungsausschus, man wird aber die Ausführungen des BGH bei anderen Ladungen heranziehen können.

BVerfG I: Terminsaufhebung in Coronazeiten, oder: Es hilft ein Hygienekonzept

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Heute dann der eigentliche Start in die Arbeit in 2021 – der erste „richtige“ Arbeitstag.  Und ich beginne die Berichterstattung mit zwei Entscheidungen des BVerfG und einer der BGH am Nachmittag.

Den Opener mache ich mit dem BVerfG, Beschl. v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20. Der „Kundige“ sieht an dem Aktenzeichen: Es handelt sich um die Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Den hatte ein 77 Jahre alter Angeklagter gestellt. Gegen den ist ein Verfahren beim LG Bon anhängig. In dem hatte der Angeklagte beantragt, die ab 17.11.2020 anstehenden Hauptverhandlungstermine aufzuheben und das Strafverfahren auszusetzen, hilfsweise die Aufhebung der für den 17., 26. und 27.11.2020 anberaumten Termine, um ihn als Angehörigen der Risikogruppe nicht der Gefahr einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) auszusetzen. Das hatte die Kammer abgelehnt, u.a. nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (bitte im verlinkten Volltext nachlesen). Dagegen Antrag auf einstweilige Anordnung. Das BVerfG hat deren Erlass abgelehnt.

Ich ziehe mich hier zurück auf die wie immer sehr schönen Leitsätze von HRRS. Über deren Newsletter bin ich auch auf die Entscheidung aufmerksam geworden. Die Leitsätze fassen m.E. sehr schön zusammen:

1. Macht ein Angeklagter geltend, eine Ladung zur Hauptverhandlung verletzte ihn in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, weil ihm wegen verschiedener Vorerkrankungen aufgrund der Infektionsgefahr hinsichtlich des Coronavirus erhebliche Gesundheitsgefahren drohten, so ist seine insoweit erhobene Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn er es unterlassen hat, zuvor Beschwerde gegen die Terminsbestimmung einzulegen.

2. Eine drohende Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch die Teilnahme an einer Hauptverhandlung ist nicht erkennbar, wenn das sachverständig beratene Strafgericht nachvollziehbar dargelegt hat, dass der Angeklagte trotz seiner Vorerkrankungen mangels einer Beeinträchtigung seiner Immunabwehr kein im Vergleich zur Allgemeinheit höheres Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus (SARS-CoV-2) hat, und wenn es im Rahmen einer tragfähigen Abwägung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dem mit einer möglichen Infektion einhergehen gesteigerten Risiko eines schweren Verlaufs durch die konkret getroffenen Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr (Hygienekonzept nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts) hinreichend begegnet werden kann.

3. Gerichtliche Zwischenentscheidungen, zu denen auch Terminsladungen gehören, können nur dann selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit sofort und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.

4. Zwar ist die Beschwerde gegen Terminsbestimmungen grundsätzlich nicht statthaft. Wendet sich ein Betroffener aber nicht gegen die Zweckmäßigkeit einer Terminsbestimmung, sondern macht er geltend, die Terminsanordnung sei rechtswidrig, weil das Gericht das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und in dieser fehlerhaften Ausübung eine besondere, selbständige Beschwer liege, steht § 305 Satz 1 StPO der Zulässigkeit einer Beschwerde nicht entgegen.

5. Drohen dem Angeklagten durch die Hauptverhandlung erhebliche Gesundheitsgefahren, so sind die Pflichten des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und zum Schutz der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Grundrechte andererseits gegeneinander abzuwägen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Gesundheitsschädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern. Den staatlichen Stellen kommt insoweit allerdings ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

6. Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsgefährdung ist in diesem Fall einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten. Dabei kann allerdings nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung rechtfertigen.

7. Die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr. Die Möglichkeit, dass ein Angeklagter den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen; derartige Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden.

M.E. überzeugend.

Corona II: Terminsverlegung wegen Corona?, oder: Nicht bei einem überzeugenden Hygienekonzept

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Die zweite Entscheidung des Tages hat auch etwas mit Hauptverhandlungen zu tun. Im OLG Stuttgart, Beschl. v. 30.11.2020 – 4 Ws 265/20 – geht es aber nicht um Unterbrechung einer bereits begonnenen Hauptverhandlung, sondern um die Frage der Terminsverlegung, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

Gegen den Angeklagten und neun Mitangeklagte ist beim LG Tübingen  seit Januar 2014 ein Strafverfahren wegen Verdachts des 160-fachen banden- und gewerbsmäßigen Betrug zum Nachteil der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg anhängig. Mit Beschluss vom 09.02.2018 hat die Strafkammer das Verfahren zur Klärung sozialrechtlicher Fragen analog § 262 Abs. 2 StPO ausgesetzt. Mit Beschluss vom 30.09.2020 ordnete die Kammer die Wiederaufnahme des Verfahrens an und die Vorsitzende bestimmte 14 Hauptverhandlungstermine ab 23.11.2020 bis 09.02.2021. In der Folge beantragte der Angeklagte u. a., das Verfahren wegen der mit der Corona-Pandemie verbundenen Gesundheitsgefahren auszusetzen und die anberaumten Termine aufzuheben.

Das hat die Vorsitzende abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten hat dann beim OLG keinen Erfolg. Das sagt: Zulässig, aber unbegründet:

„2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

Zwar macht der Angeklagte einen Ermessensfehlgebrauch geltend, seine Rüge greift indes nicht durch. Die Ablehnung der Vorsitzenden, die Termine der anberaumten Hauptverhandlung aufzuheben, ist nicht zu beanstanden. Sie hat bei ihrer Entscheidung das staatliche Interesse an einer reibungslosen und beschleunigten Durchführung des Strafverfahrens, um dem staatlichen Strafanspruch Geltung zu verschaffen, und die Interessen des Angeklagten und der weiteren Prozessbeteiligten, namentlich das Gesundheitsrisiko, in angemessener Weise gegeneinander abgewogen.

a) Die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigter erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafausspruchs. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst regelmäßig auch die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 51, 324 < 343 f.›). Ist angesichts des Gesundheitszustandes eines Angeklagten ernsthaft zu befürchten, dass er bei Teilnahme an einer Hauptverhandlung sein Leben gefährden oder schwerwiegende Gesundheitsschäden erleiden würde, entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht eines Angeklagten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein Spannungsverhältnis, das nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. November 2020 – 2 BvQ 87/20 Rn. 50 mwN; Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, Rn. 7). In die erforderliche Abwägung sind vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schäden sowie die Möglichkeiten, diesen entgegenzuwirken, einzubeziehen (vgl. BVerfG 51,324 <345>).

Zwar sollten öffentliche Hauptverhandlungen derzeit nach Möglichkeit vermieden bzw. eingeschränkt werden, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Zur Aufrechterhaltung der Strafrechtspflege ist es jedoch dringend erforderlich, gerade in bereits lang andauernden Verfahren die Hauptverhandlung durchzuführen. Die Möglichkeit, dass ein Angeklagter den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals völlig ausschließen. Solche Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 2 BvR 1724/09, Rn., 10; Beschluss vom 13. Juni 2017 2 BvR 1313/17, Rn. 10).

b) Die sachverständig beratene Kammer hat im Rahmen ihres Hygienekonzeptes geeignete Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um das Ansteckungsrisiko zumindest erheblich zu mindern. So wurde der Sitzungsort aus den Räumen des Landgerichts in den ca. 211 m2 großen Uhlandsaal der Museumsgesellschaft Tübingen verlegt, an den, getrennt durch zu öffnende, deckenhohe und breite Flügeltüren, der ca. 221 m2 große Silchersaal angrenzt. Während die Verfahrensbeteiligten im Uhlandssaal sitzen, hält sich die Öffentlichkeit im Silchersaal auf, wobei der Abstand zu den Verfahrensbeteiligten über fünf Meter beträgt. Insgesamt umfasst die Fläche des Sitzungssaals somit ca. 432 m2 (mit angrenzender Bühne sogar 465 m2). Auf dieser Fläche ist es möglich, dass alle Verfahrensbeteiligten einen Abstand von mindestens eineinhalb Metern voneinander einhalten. Zusätzlich wurden zwischen den Beteiligten Plexiglasscheiben angebracht, die das Infektionsrisiko weiter senken. Außerdem wurden regelmäßige Lüftungspausen durch Öffnen der Fensterfronten mit jeweils fünf großen Fenstern unter Inanspruchnahme eines Co2-Messgeräts als Absicherung angeordnet. In diesen regelmäßigen Lüftungspausen Ist es den Verteidigern auch möglich, sich mit ihren Mandanten unter Einhaltung des Mindestabstandes zu besprechen. Des Weiteren wurde für alle Verfahrensbeteiligte sowie die Zuhörer das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung verpflichtend angeordnet, wobei zu Beginn der Sitzung eine entsprechende FFP2/KN95-Maske zur Verfügung gestellt wurde. Schließlich stehen Spender mit Desinfektionsmittel bereit und die Tische der Verfahrensbeteiligten werden vor jedem Sitzungstag desinfiziert. Außerdem besteht eine feste Sitzordnung. Personen mit Erkältungssymptomen sowie solchen mit Kontakt zu einer coronainfizierten Person ist der Zutritt in die Säle verwehrt.

Dieses Hygienekonzept wurde mit dem Leiter des Referats „Hygiene und Infektionsschutz“ des Landesgesundheitsamtes pp. abgesprochen und vor Ort begutachtet. Der Sachverständige hatte unter Einbeziehung der Eckdaten des Verfahrens (Anzahl, Alter und Vorerkrankung der Beteiligten) keine Bedenken gegen die Durchführung der Hauptverhandlung unter Einhaltung der genannten Hygienemaßnahmen. Dass es sich bei ihm um einen promovierten Biologen und keinen Arzt handelt, ändert angesichts der Überschneidung der Fachgebiete an seiner Qualifikation nichts.

Im Übrigen behält sich die Kammer vor, bei einem wesentlichen Anstieg der Infektionslage die Rahmenbedingungen des Verfahrens zu überprüfen und gegebenenfalls z. B. durch Aufspaltung in parallel zu führende Hauptverhandlungen das Infektionsrisiko weiter zu verringern.

c) Soweit der Angeklagte Vorbehalte gegen dieses Hygienekonzept geltend macht, zielt er auf den Ausschluss eines jeglichen Risikos gesundheitlicher Beeinträchtigung ab, der jedoch auch verfassungsrechtlich nicht geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 – 2 BvR 1724/09, Rn. 10). Denn die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren verbundenen Gesundheitsgefahr, zumal ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuen Corona-Virus derzeit für die gesamte Bevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 2 BvR 483/20, Rn. 9).

Das Landgericht wird seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit möglicherweise gefährlichem Verlauf und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung sorgfältig abzuwägen gerecht, indem es zur Minimierung der Ansteckungsgefahr diese Vielzahl geeigneter Maßnahmen getroffen hat. Es berücksichtigt nicht nur die dem Angeklagten seit langem zur Last gelegten Tatvorwürfe, die dem öffentlichen Interesse an der Fortführung des Strafverfahrens angesichts des erheblichen Zeitablaufs seit der Anklageerhebung besonderes Gewicht verleihen, sondern alle anderen wesentlichen Umstände des Einzelfalls, Insbesondere den Schutz der Gesundheit des Angeklagten und der übrigen Verfahrensbeteiligten.

In einer Zusammenschau dieser Umstände erweist sich die Ablehnung der Terminaufhebung daher als nicht rechtsfehlerhaft.“

Corona I: Hemmung der Unterbrechungsfristen, oder: So geht der BGH mit § 10 EGStPO um

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In die 52. KW/2020 starte ich dann wieder mit Corona-Entscheidungen. Wer hätte Anfang des Jahres gedacht, dass uns die damit zusammenhängenden Fragen auch am Ende des Jahres noch so im Griff haben – und auch weiterhin haben werde.

Als erste Entscheidung habe ich hier den BGH, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20. Den habe ich bei Juris geklaut, bis gestern stand er noch nicht auf der Homepage des BGH. An sich ungewöhnlich.

Die Entscheidung verhält sich zu der im Hinblick auf die Corona-Pandemie eingeführten Regelung in § 19 Abs. 1 Satz 1 EGStPO, also Hemmung der Unterbrechungsfrist des § 229 StPO. Der BGH führt dazu aus:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Die Rüge des Verstoßes gegen § 229 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 10 EGStPO ist zulässig, aber unbegründet.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am Ende des Hauptverhandlungstages vom 13. März 2020 bestimmte der Vorsitzende als Fortsetzungstermin den 31. März 2020. Tatsächlich wurde die Hauptverhandlung jedoch erst am 30. April 2020 fortgesetzt. An diesem Tag verkündete das Landgericht nach Anhörung der Prozessbeteiligten einen Beschluss, in dem festgestellt wurde, dass der Lauf der Unterbrechungsfrist vom 28. März 2020 bis zum 29. April 2020 gehemmt war. Zur Begründung berief sich das Landgericht auf § 10 EGStPO und führte aus, dass der Vorsitzende am 28. März 2020 von der Schöffin erfahren habe, dass sich ihr Ehemann am 14. April 2020 einem unaufschiebbaren operativen Eingriff am Herzen unterziehen müsse. Aus ärztlicher Sicht sei eine Ansteckung mit dem Coronavirus sowohl vor als auch nach der Operation bis zur Mitte der 18. Kalenderwoche unbedingt zu vermeiden, weshalb die Schöffin und ihr Ehemann fast jeglichen Außenkontakt innerhalb des fraglichen Zeitraums gemieden hätten.

Die Revision sieht einen Rechtsfehler zum einen darin, dass die Hemmung der Frist nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 229 Abs. 1 StPO beschlossen wurde. Zum anderen hätten die Voraussetzungen des § 10 EGStPO nicht vorgelegen, da nicht die Schöffin selbst, sondern ein Angehöriger betroffen sei und zudem durch Schutzmaßnahmen während der Hauptverhandlung jegliche Gefahr der Ansteckung hätte vermieden werden können.

2. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

a) Dass das Gericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt hat, stellt keinen Rechtsverstoß dar. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt (vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO: BGH, Urteil vom 12. August 1992 – 5 StR 234/92, NStZ 1992, 550; Beschluss vom 18. Februar 2016 – 1 StR 590/15, NStZ-RR 2016, 178).

b) Es begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht einen Hemmungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 EGStPO angenommen hat. Nach dieser Vorschrift ist der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EGStPO stellt das Gericht Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss fest.

Aufgrund dieser Unanfechtbarkeit kommt mit Blick auf § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl. zur Parallelvorschrift des § 229 Abs. 3 Satz 2 StPO: BGH, Beschluss vom 20. April 2016 – 5 StR 71/16). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, sind nicht ersichtlich.

aa) Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stellte eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus dar. Die Schutzmaßnahme musste nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthält insoweit keine Einschränkung. Es genügt, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. Dies ist aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, sind auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 32 f.).

bb) Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, ist unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruht (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 33).

cc) Es ist aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht keine anderen Maßnahmen als die Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Schutz des Ehemannes der Schöffin getroffen hat. Die Annahme des Landgerichts, dass die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden konnte, ist jedenfalls nicht willkürlich.“

Corona I: Ist § 28a IfSG verfassungswidrig?, oder: Was ist mit Kontaktbeschränkungen/Gastronomieschließung?

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In die 51. KW starte ich dann – mal wieder oder: leider immer noch – mit Corona. Ich stelle heute zwei Entscheidungen vor, die sich mit der Rechtmäßigkeit der Infektionsschutzmaßnahmen zugrunde liegenden gesetzlichen Regelungen befassen.

An der Spitze der VGH Bayern, Beschl. v. 08.12.2020 – 20 NE 20.2461, der sich mit der  Verfassungsmäßigkeit von § 28a IfSG befasst. Das ist die neue Vorschrift, die den in Bayern angeordneten Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und den Gastronomieschließungen zugrunde gelegt worden war. Im Verfahren war die Verfassungswidrigkeit gerügt werden. Das sieht der BayVGH im Eilverfahren anders:

Ich zitiere – den Beschluss ggf. bitte im Volltext lesen – aus der PM zu dieser Entscheidung:

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat es in einem Nor-menkontrolleilverfahren abgelehnt, die Regelungen der Neunten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (9.BayIfSMV) zu Kontakt-beschränkungen im öffentlichen Raum und zu Gastronomieschließungen vorläufig außer Vollzug zu setzen. Dabei hat sich der für das Infektionsschutzrecht zuständige 20. Senat erstmals zur Verfassungsmäßigkeit des durch das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 neu ge-schaffenen § 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) geäußert.

Der Senat hat festgestellt, dass keine schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 28a IfSG bestehen. Zwar seien die dort geregelten Befugnisse der Infektionsschutzbehörden zum Teil sehr weitgehend und in die Grundrechte der Betroffenen tief eingreifend. Auf der an-deren Seite seien sie allein auf die Corona-Pandemie zugeschnitten. Dass der Deutsche Bundestagmit der für entsprechende Eingriffe notwendigenFeststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite seinenGestaltungsspielraum überschreite, sei nicht ersichtlich. DerGesetzgeber habe den Behörden und Fachgerichten auch genügend Spielraum belassen, um eine verhältnismäßige Anwendung der Befugnisnor-men im Einzelfall sicherzustellen. Die bisher geäußerten Zweifel des Senats im Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt habe der Gesetzgeber mit der Neuregelung weitgehend ausgeräumt.

Ausgehend hiervon und angesichts der aktuell deutlich zugespitzten Infektionslage hielt das Gericht –wie bereits in früheren Entscheidungen – die angegriffenen Regelungen der 9. BayIfSMV für erforderlich und angemessen.“

Das war es dann wohl erst mal an der Stelle