BVerfG I: Terminsaufhebung in Coronazeiten, oder: Es hilft ein Hygienekonzept

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Heute dann der eigentliche Start in die Arbeit in 2021 – der erste „richtige“ Arbeitstag.  Und ich beginne die Berichterstattung mit zwei Entscheidungen des BVerfG und einer der BGH am Nachmittag.

Den Opener mache ich mit dem BVerfG, Beschl. v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20. Der „Kundige“ sieht an dem Aktenzeichen: Es handelt sich um die Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Den hatte ein 77 Jahre alter Angeklagter gestellt. Gegen den ist ein Verfahren beim LG Bon anhängig. In dem hatte der Angeklagte beantragt, die ab 17.11.2020 anstehenden Hauptverhandlungstermine aufzuheben und das Strafverfahren auszusetzen, hilfsweise die Aufhebung der für den 17., 26. und 27.11.2020 anberaumten Termine, um ihn als Angehörigen der Risikogruppe nicht der Gefahr einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) auszusetzen. Das hatte die Kammer abgelehnt, u.a. nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (bitte im verlinkten Volltext nachlesen). Dagegen Antrag auf einstweilige Anordnung. Das BVerfG hat deren Erlass abgelehnt.

Ich ziehe mich hier zurück auf die wie immer sehr schönen Leitsätze von HRRS. Über deren Newsletter bin ich auch auf die Entscheidung aufmerksam geworden. Die Leitsätze fassen m.E. sehr schön zusammen:

1. Macht ein Angeklagter geltend, eine Ladung zur Hauptverhandlung verletzte ihn in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, weil ihm wegen verschiedener Vorerkrankungen aufgrund der Infektionsgefahr hinsichtlich des Coronavirus erhebliche Gesundheitsgefahren drohten, so ist seine insoweit erhobene Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn er es unterlassen hat, zuvor Beschwerde gegen die Terminsbestimmung einzulegen.

2. Eine drohende Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch die Teilnahme an einer Hauptverhandlung ist nicht erkennbar, wenn das sachverständig beratene Strafgericht nachvollziehbar dargelegt hat, dass der Angeklagte trotz seiner Vorerkrankungen mangels einer Beeinträchtigung seiner Immunabwehr kein im Vergleich zur Allgemeinheit höheres Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus (SARS-CoV-2) hat, und wenn es im Rahmen einer tragfähigen Abwägung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dem mit einer möglichen Infektion einhergehen gesteigerten Risiko eines schweren Verlaufs durch die konkret getroffenen Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr (Hygienekonzept nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts) hinreichend begegnet werden kann.

3. Gerichtliche Zwischenentscheidungen, zu denen auch Terminsladungen gehören, können nur dann selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit sofort und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.

4. Zwar ist die Beschwerde gegen Terminsbestimmungen grundsätzlich nicht statthaft. Wendet sich ein Betroffener aber nicht gegen die Zweckmäßigkeit einer Terminsbestimmung, sondern macht er geltend, die Terminsanordnung sei rechtswidrig, weil das Gericht das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und in dieser fehlerhaften Ausübung eine besondere, selbständige Beschwer liege, steht § 305 Satz 1 StPO der Zulässigkeit einer Beschwerde nicht entgegen.

5. Drohen dem Angeklagten durch die Hauptverhandlung erhebliche Gesundheitsgefahren, so sind die Pflichten des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und zum Schutz der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Grundrechte andererseits gegeneinander abzuwägen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Gesundheitsschädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern. Den staatlichen Stellen kommt insoweit allerdings ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

6. Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsgefährdung ist in diesem Fall einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten. Dabei kann allerdings nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung rechtfertigen.

7. Die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr. Die Möglichkeit, dass ein Angeklagter den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen; derartige Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden.

M.E. überzeugend.

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