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AG Bad Salzungen zu Gebühren im Bußgeldverfahren, oder: Kreativ, aber doppelt falsch

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Nach der schönen Entscheidung des OLG Hamm zur Entschädigung bei verzögerter Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren (vgl. hier Verzögerte Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren, oder: Warten auf Aktenrückkehr „rechtswidrige Praxis“) eine nicht so schöne Entscheidung des Bad AG Salzungen zur Gebührenbemessung im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren.

Entschieden hat das AG über die Klage einer Rechtsanwältin, die die Beklagte in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren vertreten hatte. Die Klägerin verlangte noch restliche Gebühren in Höhe von 188,79 EUR. Diesen Betrag hat die Beklagte bzw. ihre Rechtsschutzversicherung von der Gebührenrechnung der Klägerin nicht gezahlt. Die Rechtsanwältin hatte ihrer Gebührenrechnung jeweils die Mittelgebühr zugrunde gelegt. Gezahlt worden sind nur niedrigere Gebühren. Die Gebührenklage hatte dann keinen Erfolg. Das AG hat im AG Bad Salzungen, Urt. v. 30.09.2021 – 1 C 121/21 –  die Klageabweisung wie folgt begründet:

„Der Klägerin steht der geltend gemachte Restbetrag nicht zu. Die folgt daraus, dass die Klägerin im Rahmen der Gebührenfestsetzung gemäß § 14 RVG im vorliegenden Fall nicht zum Ansatz der Mittelgebühren berechtigt war. Der diesbezügliche Ansatz der Klägerin war mithin unbillig und damit unverbindlich; zutreffend hat die Rechtsschutzversicherung der Beklagten ausweislich der Anlagen B2 und B3 lediglich unterhalb der Mittelgebühr liegende Gebühren angesetzt. Zu Recht geht die Beklagte davon aus, dass bezüglich der Ziffer 5100 VV RVG nur 75,00 €, hinsichtlich der Ziffer 5103 VV RVG nur 125,00 €, bezüglich der Ziffer 5109 VV RVG 125,00 € und hinsichtlich der Ziffer 5110 VV RVG 200,00 € seitens der Klägerin beansprucht werden können. All dies beruht darauf, dass der klägerseits gewählte Gebührenansatz unbillig und damit gemäß § 315 BGB unverbindlich ist.

Zunächst ist der Klägerin zwar zuzugestehen, dass sie sich bei Zugrundelegung der Entscheidung des BGH vom 31.10.2006, Az.: VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420 noch innerhalb des hieraus ergebenden Toleranzrahmens befindet, sodass, im Falle einer Vertretung der diesbezüglichen Auffassung auch durch das erkennende Gericht, der Gebührenansatz in der Tat nicht gerichtlich überprüfbar wäre (Schriftsatz der Klägerin vom 24.06.2021, Seite 3). Dies würde im Übrigen auch insofern gelten, als das Gericht den Entscheidungen des BGH vom 13.11.2001, Az.: IX ZR 110/10 bzw. vom 08.05.2012, Az.: VI ZR 273/11 folgen wollte. Dies ist indes nicht der Fall, vielmehr schließt sich das erkennende Gericht der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des BGH an. Dieser entschied am 11.07.2012 (Az.: VIII ZR 323/11), dass eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus nur dann gefordert werden könne, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und deshalb nicht unter dem Aspekt der Toleranzrechtsprechung bis zu einer Überschreitung vom 20 % der gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. Nach alledem ist zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch der vorliegende Gebührenansatz einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich.

Hierbei gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass der (jeweilige) Ansatz einer Mittelgebühr nicht gerechtfertigt war.

Die Gebühr gemäß § 14 RVG ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vor allem anhand des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers zu ermitteln. Maßgeblich sind insbesondere die rechtlichen Schwierigkeiten und das Ausmaß der erforderlichen Sachaufklärung.

Nach Auffassung des Gerichts ist im Falle durchschnittlicher Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich die sogenannte herabgesetzte Mittelgebühr anzusetzen. Dies deshalb, weil durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten typischerweise mit einfach Sach- und Rechtsfragen, niedrigen Geldbußen und vergleichsweise wenigen Punkten im Zentralregister einhergehen.

Vorliegend war die Beklagte des Vorwurfs der Missachtung der Vorfahrt mit Unfallverursachung ausgesetzt, die ursprünglich mit einem Bußgeld von 120,00 € geahndet worden war. Es drohte ein Punkt im Fahreignungsregister, jedoch kein Fahrverbot.

Es handelte sich mithin um eine alltägliche Verkehrsordnungswidrigkeit; zudem lag keine individuelle fahrerlaubnisrechtliche Situation vor. Auch im Übrigen ist eine besondere Bedeutung der Angelegenheit für die Beklagte nicht ersichtlich.

Die Klägerin nahm zweimal Akteneinsicht. Nachdem sich die Klägerin in Bezug auf den ersten im Ordnungswidrigkeitsverfahren angesetzten Termin vom 15.06.2020 aufgrund eines Staus verspätet hatte, wurde der Beklagten sodann Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt. Am 21.09.2020 wurde das Verfahren gegen die Beklagte eingestellt.

Die vorgenannten Tätigkeiten der Klägerin stellen aus Sicht des Gerichts Standardtätigkeiten dar. Der zu Grunde liegende Sachverhalt war wenig kompliziert, rechtliche Schwierigkeiten sind nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund war lediglich der Ansatz einer herabgesetzten Mittelgebühr gerechtfertigt, sodass ein weiterer Vergütungsanspruch der Klägerin, wie er im vorliegenden Rechtsstreit geltend gemacht wird, nicht besteht.“

Kreativ, aber m.E. falsch, und zwar in doppelter Hinsicht.

Die vom AG vertretene Ansicht, die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH vom 11.07.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2021, 373) gebe die Möglichkeit, auch im sog. „20–%-Toleranzbereich“ in die gem. § 14 Abs. 1 RVG vorgenommene Gebührenbemessung des Rechtsanwalts einzugreifen, ist falsch und wird – so weit ersichtlich – in Rechtsprechung und Literatur auch nicht vertreten. Das AG übersieht den Zusammenhang, in dem die Entscheidung des BGH ergangen ist. Es ging um die Frage, ob eine Geschäftsgebühr von mehr als 1,3 gefordert werden konnte. Das AG übesieht, dass es in dem Urteil des BGH v. 11.07.2012 um das Eingreifen des sog. Schwellenwertes von 1,3 ging, der nur überschritten werden darf, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts „umfangreich oder schwierig“. Für die Bestimmung der Gebühr sind bei der Nr. 2300 VV RVG drei Schritte zu gehen: Ausgangspunkt Mittelgebühr von1,5, Prüfung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG, bei nur durchschnittlicher Angelegenheit dann nur Schwellenwert von 1,3 . Die BGH-Entscheidung bezieht sich auf den dritten Schritt und verneint eine Bindung/Geltung der 20-%-Rechtsprechung bzw. Regel für diesen Schritt. Der entscheidende Unterschied zur Gebührenbestimmung der Rahmengebühren im Bußgeldverfahren und auch Strafverfahren nach Teil 4 und 5 VV RVG ist nun aber, dass dort der dritte Schritt fehlt. Die Rechtsprechung ist daher nicht anwendbar. Sie würde im Übrigen dazu führen, dass nichts mehr verbindlich ist.

Auch die Ausführungen des AG zum Ansatz der Mittelgebühr sind unzutreffend. Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen: Eine „herabgesetzten Mittelgebühr“ für durchschnittlich Verkehrsordnungswidrigkeiten gibt es im RVG nicht. Vielmehr ist auch in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren von der Mittelgebühr auszugehen und dann anhand der Umstände des Einzelfalls ggf. eine Reduzierung oder Erhöhung der Mittelgebühr vorzunehmen und so die insgesamt angemessene Gebühr zu bestimmen. Alles andere ist contra legem, auch wenn das zum Teil von Amts- und Landgerichten anders gesehen wird- Legt man diese zutreffende Sichtweise zugrunde, bieten die vom AG mitgeteilten Verfahrensumstände keinen Anlass, die Mittelgebühren zu erhöhen oder zu reduzieren. Es hat sich um ein durchschnittliches (verkehrsrechtliches) Bußgeldverfahren, für das eben die Mittelgebühr vorgesehen ist, gehandelt. Die Einstufung durch das AG ist nicht nachvollziehbar.

Wie gesagt: Kreativ, aber falsch.

AE II: AE im Bußgeldverfahren, oder: (Beschränkte) Akteneinsicht in SV-Gutachten eines anderen Verfahrens

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In der zweiten Entscheidung, dem LG Chemnitz, Beschl.v. 22.07.2021 – 2 Qs 127/21, über die der Kollege Gratz schon im VerkehrsrechtsBlog berichtet hat, geht es auch um Akteneinsicht im Bußgeldverfahren, und zwar in Zusammenhang mit Leivtec XV 3.

Das AG hatte dazu in einem Verfahren ein Sachverständigengutachten eingeholt. Es haben dann  Verteidiger von Betroffenen aus anderen Verfahren, über § 475 StPO Einsicht in das Gutachten verlangt. Das AG hat das abgelehnt, das LG Chemnitz hat Akteneinsicht gewährt:

„Die Beschwerden sind zulässig und begründet.

Da die Beschwerdeführer am hier zugrundeliegenden Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht beteiligt sind, gelten für diese die Beschränkungen des § 305 S. 1 StPO nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 304 Rn. 7).

Die Beschwerdeführer haben gem. § 475 Abs. 1 StPO einen Anspruch auf beschränkte Akteneinsicht durch Übersendung einer anonymisierten Form des Sachverständigengutachtens ohne Falldaten; schutzwürdige Belange des Betroffenen stehen nicht entgegen.

Das berechtigte Interesse liegt in der Verteidigung von Mandanten in anderen Verfahren, bei denen ebenfalls ein Messgerät des genannten Typs zum Einsatz kam. Die hier mit dem Sachverständigengutachten gewonnenen Erkenntnisse können für die Frage der Geeignetheit des Messgerätetyps auch in anderen Ordnungswidrigkeitenverfahren bedeutsam sein. Entgegenstehende schutzwürdige Belange des hier Betroffenen sind weder dargelegt noch ersichtlich. Datenschutzbelange können gewahrt werden, indem eine anonymisierte Gutachtenfassung zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt wird.

Die begehrte Einsichtnahme war daher – beschränkt – zu gewähren. Die Kammer hat gem. § 309 Abs. 2 StPO die in der Sache erforderliche Entscheidung getroffen.“

AE I: AE im Bußgeldverfahren, oder: skandalös, wenn die Behörden die eindeutige Rechtslage ignorieren

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Heute dann mal ein Tag mit Akteneinsichtsentscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem AG Bergisch-Gladbach, Beschl. v. 09.09.2021 – 48 OWi 410/21 [b] zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren. Den Beschluss muss man in die Kategorie: Wenn dem AG der Draht aus der (sprichwörtlichen) Mütze springt, einordnen. Oder in: Deutliche Worte.

Es geht um die Gewährung vollständiger Akteneinsicht in Form der Übermittlung der gesamten Messreihe zu einer Geschwindigkeitsmessung in einem Bußgeldverfahren. Der Verfahrensgang eribt sich aus dem Beschluss, der einen bemerkenswerten letzten Absatz hat:

„Die Verwaltungsbehörde hat am 19.05.2021 gegen 09:16 Uhr eine Verkehrsordnungswidrigkeit (Geschwindigkeitsübertretung) festgestellt, welche vom Führer des Kraftrades mit dem amtlichen Kennzeichen pp. begangen wurde.

Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit hat die Verwaltungsbehörde den Betroffenen als Halter des Fahrzeuges am 29.06.2021 angehört.

Hierauf hat sich der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 24.06.2021 bestellt und beantragt, die Ermittlungsakte einzusehen. Insbesondere hat er beantragt, einem vom Mandanten selbst ausgewählten Sachverständigen Einblick in die unverschlüsselten Messdaten aller Messungen des Tattages zu gewähren. Die Behörde hat daraufhin dem Verteidiger die gesamte Bußgeldakte in Kopie kommentarlos überlassen. Hieraus ist zu entnehmen, dass die Kreispolizeibehörde des Rheinisch Bergischen Kreises der Bußgeldstelle des Rheinisch Bergischen Kreises mitgeteilt hat, dass die Herausgabe von Rohmessdaten der gesamten Messreihe nur auf gerichtliche Anforderung erfolgen werde.

Der Betroffene hat dies als Verweigerung gewertet, ihm die Daten der gesamten Messreihe zu übermitteln und daher diesbezüglich am 09.07.2021 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG gestellt.

Die Bußgeldbehörde hat – wie mittlerweile üblich – diesen Antrag ohne weiteren Kommentar an das Gericht weitergeleitet. Eine Begründung der Verweigerung erfolgte nicht.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig.

In der Sache hat er auch Erfolg.

Es ist mittlerweile einhellige und bis zum Bundesverfassungsgericht anerkannte obergerichtliche Rechtsprechung, dass auch und gerade im standardisierten Messverfahren der Betroffene nicht nur Anspruch darauf hat, dass ihm im Rahmen der Akteneinsicht die digitalen Daten bezüglich der ihn betreffenden Messung überlassen werden, sondern die digitalen Daten bezüglich der gesamten vollständigen Messserie.

Die diesbezügliche Rechtsauffassung des Gerichtes ist der Verwaltungsbehörde hinreichend bekannt. Das Gericht erspart sich daher eine weitergehende Begründung. Die Behörde und die Kreispolizeibehörde mögen die nachvollziehbare Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.11.2020 (Az. 2 BvR 1616/18) entnehmen.

Aus vorstehenden Gründen trägt die Verwaltungsbehörde selbstverständlich auch die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen.

Für das Gericht ist es schlichtweg skandalös, dass sowohl der Rheinisch Bergische Kreis als auch die Kreispolizeibehörde in schlichter lgnorierung der mittlerweile eindeutigen Rechtslage in nahezu jedem streitigen Bußgeldverfahren bezüglich einer Geschwindigkeitsübertretung Kosten zulasten des Steuerzahlers produzieren, die regelmäßig deutlich über den „Einnahmen“ aus der Geldbuße stehen.“

Die Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren, oder: Wenn das Lichtbild nicht passt

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Im zweiten Posting des Tages dann mal wieder etwas zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren.

Anhängig war gegen den 72jährigen Betroffenen ein Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Bereits nach Erhalt des Anhörungsbogens hatte der Betroffene seinen Verteidiger beauftragt, der daraufhin Akteneinsicht beantragte und mitteilte, dass der Betroffene keine Angaben zur Sache machen werde. Das Regierungspräsidium Kassel forderte daraufhin zur Identifizierung des Betroffenen von der Stadt Idstein ein Vergleichsfoto . Es handelte sich dabei um ein zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre altes Vergleichsfoto des Betroffenen aus dem Jahre 2017. Dem Verteidiger wurde dem Akteneinsicht gewährt.

Gegen den dann später ergehenden Bußgeldbescheid, legte der Betroffene Einspruch ein und gab an, dass der Betroffene und die auf den Fahrerfotos abgebildete Person nicht identisch seien, da die abgebildete Person deutlich jünger sei. Er wies zudem auf die Unterschiede bei der Augenstellung und der Ohren hin und teilte mit, dass das betreffende Fahrzeug in der Vergangenheit von weiteren Personen gefahren worden sei.

Beim AG hat der Betroffene dann noch darauf hingewiesen, dass er sich zum Tatzeitpunkt am 20.07.2019 im Urlaub in Ägypten befunden habe und daher nicht Fahrer gewesen sein könne. Die Belege für die Unterlagen der Reise im Zeitraum vom 13.07.2019 bis zum 24.07.2019 wurden vom Verteidiger vorgelegt.

Das AG hat den Betroffenen dann aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Das Amtsgericht hat allerdings davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Dabei wurde hinsichtlich der Auslagenentscheidung die Vorschrift des § 109 a Abs. 2 OWiG angewandt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die mit dem LG Gießen, Beschl. v. 08.06.2021 – 7 Qs 45/21 – Erfolg hatte:

„Nach § 109a Abs. 2 OWiG kann von der Regel, dass bei einem Freispruch auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt werden, abgesehen werden, soweit dem Betroffenen Auslagen entstanden sind, die er durch ein rechtzeitiges Vorbringen entlastender Umstände hätte vermeiden können.

Dabei stellt § 109a Abs. 2 OWiG eine Modifikation der Grundregel des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO dar, der sich im Bußgeldverfahren als unbefriedigend und unzureichend erwiesen hatte.

Die Anwendung der Vorschrift des § 109a Abs. 2 OWiG setzt indes voraus, dass dem Betroffenen entlastende Umstände bekannt gewesen sind, die er nicht rechtzeitig vorgebracht hat, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre.

Entlastende Umstände müssen, wie in § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO wesentlich, d.h. für das „Ob“, das „Wie“ und die Dauer der Verfolgung des Betroffenen und den Umfang der Ermittlungen von maßgeblichem Einfluss sein (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Wie auch das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausführte, ist streitig, ob der Name des wahren Täters einen wesentlichen Umstand darstellt (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Insoweit kommt es im Einzelfall darauf an, ob der Name des anderen für den Gang und die Dauer der weiteren Ermittlungen, etwa zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, relevant ist (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10; LG Cottbus, Beschluss vom 25. 4. 2007 – 24 Qs 66/07).

Das Amtsgericht ist im Rahmen der von ihm vorgenommenen Einzelfallprüfung in unzutreffender Weise von einem wesentlichen Umstand ausgegangen. Gestützt hat es diese Feststellung darauf, dass im Falle der Benennung des wahren Fahrers ein Ab-gleich mit einem beigezogenen Lichtbild der benannten Person eine Abkürzung der Ermittlungen herbeigeführt hätte, sodass eine rechtzeitige Benennung des Fahrers für den Verfahrensausgang kausal gewesen sein würde.

Zwar mag es sein, dass eine Benennung des wahren Fahrers durch den Beschwerdeführer zu einer Abkürzung des Verfahrens gegen ihn geführt hätte, allerdings hat das Amtsgericht verkannt, dass es auf die namentliche Benennung des Fahrzeugführers hier ersichtlich nicht ankam.

Der Name des wahren Fahrzeugführers wurde im gesamten Verfahren, auch in der durchgeführten Hauptverhandlung, gerade nicht bekannt. Der Beschwerdeführer wurde durch das Amtsgericht bereits nach vergleichender Inaugenscheinnahme seiner Person in der Hauptverhandlung und einem Abgleich mit dem Messfoto freigesprochen. Entsprechend führte das Amtsgericht in den Urteilsgründen aus, dass bei Ansehung des Betroffenen in der Hauptverhandlung und Abgleich mit dem Lichtbild keine Zweifel daran bestünden, dass es sich um unterschiedliche Personen handele. Eines Vergleichs mit dem wahren Fahrzeugführer bedurfte es damit nicht.

Im Übrigen wurde der Name des tatsächlichen Fahrers auch nicht in der Weise relevant, dass er zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, der die Fahrereigenschaft gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Amtsgericht stets bestritten hatte, erforderlich gewesen wäre.

Die Kostenfolge des § 109a Abs. 2 OWiG vermag schließlich auch nicht der Umstand rechtfertigen, dass erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020 das Amtsgericht darauf hingewiesen wurde, dass der Betroffene sich zum Zeitpunkt der Fahrt im Sommerurlaub befunden habe und entsprechende Buchungsunterlagen für den Zeitraum vom 13.07.2019 bis 24.07.2019 vorgelegt wurden.

Es lässt sich zum einen nicht annehmen, dass durch ein rechtzeitiges Vorbringen der Urlaubsabwesenheit des Betroffenen das Verfahren zu einem früheren Zeitpunkt eingestellt und das Entstehen der Auslagen des Betroffenen vermieden worden wäre, da auch dem Amtsgericht im Hinblick auf die Möglichkeit des Nichtantretens von gebuchten und bereits bezahlten Reisen die Reiseunterlagen für eine Einstellung des Verfahrens nicht ausgereicht haben. Die Durchführung der Hauptverhandlung wurde dennoch für erforderlich gehalten, weil aus Sicht des Amtsgerichts aufgrund der in der Akte befindlichen Lichtbilder – auch für die Verwaltungsbehörde — nicht ersichtlich oder gar offensichtlich sei, dass der Betroffene tatsächlich nicht der Fahrer des Fahrzeuges zur Tatzeit gewesen sei. Diese Zweifel vermochten die erst mit anwaltlichem Schreiben vom 10.08.2020 eingereichten Reiseunterlagen auch nicht ausräumen.

Zum anderen ist bei der vorzunehmenden Ermessensausübung der Normzweck der Regelung des § 109a OWiG zu beachten. Er will Missbräuchen vorbeugen und ist deshalb nur in Fällen heranzuziehen, in denen nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen ist. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.08.2013 – 2 BvR 864/12)

Ein solches missbräuchliches oder unlauteres Verteidigungsverhalten lässt sich hier nicht annehmen. Der nicht rechtzeitige Vortrag zur Urlaubsabwesenheit erfolgte nach der unwiderlegten Begründung des Betroffenen deshalb erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020, da dem Beschwerdeführer dies erst zu diesem Zeitpunkt aufgefallen sei. Die Fahrereigenschaft hat der Betroffene vor Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht gegenüber der Verwaltungsbehörde und sodann auch mit weiteren anwaltlichen Schreiben gegenüber dem Amtsgericht indes stets bestritten.“

Die Erstattung der Kosten für ein SV-Gutachten, oder: Anthropologie kann doch wohl jeder

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Und wenn ich den Tag schon mit einer falschen Entscheidung begonnen habe, dann schiebe ich gleich noch eine hinterher. Es handelt sich um den LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 – 27 Qs 35/21. Thematik: Erstattung der Kosten für ein Privatgutachten nach Einstellung des Bußgeldverfahrens. Das ist auch so ein Bereich, in dem sich die Vetreter der Staatskasse und die LG austoben und i.d.R. falsch entscheiden. So auch hier:

Dem Beschwerdeverfahren zugrunde liegt ein gegen die Betroffene geführtes Bußgeldverfahren wegen einer angeblichen Unterschreitung des gebotenen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeuges. Deswegen erging ein Bußgeldbescheid. Vor der Hauptverhandlung teilte der Verteidiger dem Gericht mit, dass bestritten wird, dass es sich bei der Betroffenen um den Fahrer des Pkws handelt und reichte ein zuvor eingeholtes anthropologisches Privatgutachten ein. Der Verteidiger beantragte zudem, das Verfahren gegen die Betroffene einzustellen. Das AG stellt ein und legt sowohl die Kosten des Verfahrens als auch die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auf.

Im Kostenfestsetzungverfahren wird dann um die Erstattung der Kosten für das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten in Höhe von insgesamt 269,48 EUR gestritten. Die Bezirksrevisorin sieht die natürlich als nicht notwendig an. Das Gericht sei insoweit von Amts wegen dazu verpflichtet, entsprechende Feststellungen zur treffen. Die Rechtspflegerin hat dann nicht festgesetzt – wen wundert es? Dagegen das Rechtsmittel des Kollegen Urbanzyk, das keinen Erfolg hatte:

„Im Sinne des § 46 I OWiG i.V.m. § 464a II Nr. 2 StPO sind unter notwendigen Auslagen die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Aufwendungen zu verstehen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, zur Geltendmachung seiner prozessualen Rechte in der gebotenen Form notwendig waren. Hierbei sind Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen in der Regel nicht als notwendig Auslagen anzusehen, weil Ermittlungsbehörden und Gericht von Amts wegen nach § 244 II StPO zur Sachaufklärung verpflichtet sind (LG Aachen, Beschl. v. 12.7.2018, 66 Qs 31/18; LG Berlin, Beschl. v. 05.03.2018, 534 Qs 21/18, jeweils zitiert nach juris). Die Interessen des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren sind durch die gesetzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung gewahrt, auf die die Verteidigung zudem durch die Stellung von Beweisanträgen und -anregungen Einfluss nehmen kann (§§ 163a II, 219, 220, 244 III bis VI StPO). Dies gilt auch für das Bußgeldverfahren, in welchem die Einflussmöglichkeiten des Betroffenen gegenüber denjenigen im Strafverfahren deutlich gemindert sind (§§ 55 II 2, 77 II OWiG). Demgegenüber handelt sich aber auch insoweit um ein Amtsermittlungsverfahren, welches schon auf der Ebene der Ermittlungen auch auf alle dem Betroffenen günstigen Umstände zu erstrecken ist (§§ 160 II StPO, 46 II OWiG).

Von diesem Grundsatz der fehlenden Notwendigkeit der Einholung außergerichtlicher Gutachten im Bußgeldverfahren sind zwar Ausnahmen anerkannt, vorliegend aber nicht einschlägig. Abgesehen von der Konstellation, in der das Privatgutachten tatsächlich ursächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden ist, werden die Kosten ausnahmsweise z.B. auch dann als erstattungsfähig angesehen, wenn es ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft (LG Wuppertal, Beschl. v. 08.02.2018, 26 Qs 214/17, zitiert nach juris). Auch wird darauf abgestellt, ob die Behörden den Beweisanregungen oder -anträgen der Verteidigung nachkommen und ob ohne die private Ermittlung sich die Prozesslage des Betroffenen verschlechtern würde (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 20.02.2012, 1 Ws 72/09, zitiert nach‘ juris).

Nach der Auffassung des Landgerichts Aachen (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris), welcher sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, folgt aus dem das Bußgeld- wie auch das Strafverfahren beherrschenden Grundsatz der Amtsermittlung, dass allein die Entlegenheit der Materie die Einholung eines Privatgutachtens grundsätzlich nicht erstattungsfähig macht; Anders als im Zivilprozess, in dem die Natur des Parteiprozesses ein (weiteres) Privatgutachten zur Herstellung von ‚Waffengleichheit“ erforderlich machen kann, weil zum Beispiel dann, wenn die Gegenseite ihren Vortrag auf ein eigenes Privatgutachten stützen kann, der eigenen Substantiierungspflicht sonst nicht genügt werden kann, bietet die Verpflichtung des Gerichts und nach dem Gesetz auch der Anklagebehörde zur umfassenden Sachaufklärung zunächst Gewähr für die umfassende Objektivität auch eines von Amts wegen beauftragten Gutachtens. Demzufolge kann die Einholung eines Privatgutachtens aus der maßgeblichen ex ante-Sicht nur dann notwendig sein, wenn objektivierbare Mängel vorliegen, die zur Einholung des Gutachtens drängen. Ex-ante notwendig und damit erstattungsfähig kann ein Privatgutachten sowohl zur Überprüfung eines Erstgutachtens wie auch sonst zur ergänzenden Aufklärung also nur sein, wenn die bisher geführten Ermittlungen unzureichend sind. Allerdings ist es dem Betroffenen auch dann zuzumuten, die Behebung solcher Ermittlungslücken durch das Gericht zu beantragen. Zweite Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit von Gutachterkosten ex-ante ist es daher, dass dem Betroffenen andernfalls eine wesentliche Verschlechterung seiner Prozesslage droht. Dies kommt lediglich dann in Betracht, wenn die Ermittlungsbehörde bzw. das Gericht einem Beweisantrag nicht nachkommt und ein Zuwarten bis zur Hauptverhandlung nicht zumutbar ist. Im Bußgeldverfahren ist es insoweit dem Betroffenen stets zumutbar, auch ex-ante notwendig erscheinende Ermittlungen erst dann selbst zu veranlassen, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht diese abgelehnt hat. Wenn ein Privatgutachten in diesem Sinne ex-ante ausnahmsweise notwendig war, kommt es auf, die Relevanz für den späteren Freispruch ex-post auch nicht mehr an. Wenn dann aber zunächst auf eigenes Kostenrisiko veranlasste private Ermittlungen sich tatsächlich entscheidungserheblich zugunsten des Betroffenen auswirken, sind die Kosten hierfür stets zu erstatten (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris). Hinzu kommt vorliegend, dass das Gutachten der Frage diente, ob es sich bei der auf dem Lichtbild abgelichteten Person um die Betroffene gehandelt hat. Hierbei handelte es sich zum einen nicht um einen technisch anspruchsvollen und schwierigen, technischen Sachverhalt, welcher u.U. auch durch Inaugenscheinnahme durch das Amtsgericht selbst entschieden werden kann.

Unter Anwendung der zuvor ausgeführten Grundsätze sind die von der Beschwerdeführerin – verauslagten Sachverständigenkosten vorliegend nicht erstattungsfähig.

Die Berücksichtigung der von der Verteidigung zitierten Entscheidungen führt zu keiner abweichenden Bewertung. In dem der Entscheidung des Landgerichts Bielefeld (LG Bielefeld, Beschl. v. 19.12.2019, 10 Qs 425/19, zitiert nach juris) zugrunde liegenden Sachverhalt handelte es sich um ein Gutachten zu einer schwierigen technischen Fragestellung, so dass das Gericht die Einholung eines Privatgutachtens als notwendige Vorbereitung für die Prozessführung und Darlegung durch den Verteidiger ansah und sie somit als erstattungsfähig behandelt hat. In dem zitierten Beschluss des Landgerichts Dresden (LG Dresden, Beschl. v. 07.10.2009, 5 Qs 50/07, zitiert nach juris) war ein amtswegig eingeholtes Gutachten mit objektivierbaren Mängeln behaftet, so dass es der Überprüfung durch ein Privatgutachten bedurfte. Diese Konstellationen sind vorliegend nicht gegeben.

Nach den obigen Ausführungen war es dem Verteidiger insbesondere aufgrund des im Bußgeldverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zuzumuten, bei Zweifeln an der Fahrereigenschaft der Betroffenen die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu beantragen. Erst wenn das Amtsgericht diesem Antrag nicht entsprochen hätte oder wenn es zur Widerlegung des gerichtlich eingeholten Gutachten erforderlich erscheint, hätte es aus ex-ante Sicht der Einholung eines Privatgutachtens bedurft, welches auch zur Akte hätte gereicht werden müssen.“

Das LG scheint das ernst zu meinen: Das Gericht kann durch/nach Inaugenscheinsnahme des Betroffenen in der Hauptverhandlung selbst entscheiden. Ah ja, sicher. Und ein anthropologisches Gutachten ist kein Hexenwert. Das kann jeder. Von da bis zum standardisierten Verfahren ist es nicht mehr weit. Man glaubt es nicht. Schön übrigens auch immer die Passage in den Beschlüssen, in denen auf das Beweisantragsrecht verwiesen wird. Aber hallo? Blendet man eigentlich das Theater an den AG um Beweisanträge aus. § 77 OWiG lässt grüßen.