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StPO III: Polizei vor Ort ==> Gefahr im Verzug?, oder: OStAin sieht das anders ==> Beweisverwertungsverbot

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Ich hatte im Frühsommer über das AG Hamburg- St. Georg, Urt. v. 19.04.2022 – 942 Ls 209/21 berichtet (vgl. Durchsuchung II: OStAin sollte zur Fortbildung, oder: Wenn Polizei vor Ort keine “Gefahr im Verzug”). Dem Verfahren lag u.a. das Ergebnis einer Durchsuchung bei dem Angeklagten zugrunde, die wegen Gefahr im Verzug von der (zuständigen) OStAin angeordnet worden war, nachdem sich eine Polizeibeamtin bei ihr gemeldet hatte, die morgens um gegen 10.00 Uhr eine Durchsuchung durchführte, die sich gegen andere Beschuldigte richtete. Dabei war man auch bei dem in der Wohnugn anwesenden Angeklagten auf BtM gestoßen. Die Polizei war und blieb vor Ort. Eine richterliche Anordnung der Durchsuchung der Räume des Angeklagten wurde nicht eingeholt.

Wegen des genauen Sachverhalts verweise ich auf das o.a. AG-Urteil und auf das LG Hamburg, Urt. v. 02.11.2022 – 711 Ns 45/22, das nun vorliegt. Denn: Die Staatsanwaltschaft ist gegen den Freispruch durch das AG natürlich in Berufung gegangen und hat sich jetzt auch beim LG eine Abfuhr geholt. Denn auch das LG geht von der Unverwertbarkeit der gefundenen „Beweismittel“ aus:

„Die im Rahmen der Zimmerdurchsuchung aufgefundenen Gegenstände konnten auf Grund eines Beweisverwertungsverbotes nicht zu Lasten des Angeklagten bei den Fest-stellungen berücksichtigt werden, so dass er aus rechtlichen Gründen freizusprechen war.

Die erfolgte Durchsuchung war rechtswidrig. Eine Durchsuchung darf nur mit Zustimmung des Betroffenen oder nach §§ 102, 105 StPO nach richterlichem Beschluss oder bei Gefahr im Verzuge durchsucht werden. Eine gemäß § 105 Abs. 1 StPO grundsätzlich erforderliche richterliche Durchsuchungsanordnung lag nicht vor. Die handelnden Beamten haben auch keine Zustimmung des Angeklagten im Vorwege eingeholt. Das bloße Dulden einer Durchsuchung stellt keine konkludente Zustimmung zur Durchsuchung dar (vgl. Urteil des OLG Köln vom 27.10.2009, 81 Ds 65/09, juris).

Die Anordnung der Durchsuchung durch die Staatsanwältin beruhte auch nicht auf einer rechtmäßigen Inanspruchnahme der Eilkompetenz.

Es lag keine Gefahr im Verzug vor, da ein Beweismittelverlust nicht zu befürchten war. Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die vorherige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährdet hätte (vgl. BVerfGE 103, 142 ff., BGHSt 51, 285ff). Die Ermittlungsbehörden haben dabei grundsätzlich ein eigenes Prüfungsrecht, ob ein angemessener Zeitraum zur Verfügung steht oder nicht, dürfen aber Gefahr im Verzug nicht vor-schnell annehmen, damit bei Wohnungsdurchsuchungen nicht die grundgesetzlich verankerte Regelzuständigkeit des Richters unterlaufen wird. Aus diesem Grund reichen Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder auf Alltagserfahrungen gestützte fallunabhängige Vermutungen nicht aus, Gefahr im Verzug zu begründen. Regelmäßig ist daher der Versuch zu unternehmen, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen.

Gemessen hieran ist die Annahme von Gefahr im Verzug nicht tragfähig begründet. Das Zimmer war gesichert, der Angeklagte machte keinerlei Anstalten, sein Zimmer betreten zu wollen. Auf die Frage, ob der Angeklagte mit Zwangsmitteln an einem Betreten seines Zimmers hätte gehindert werden dürfen oder nicht kommt es daher nicht an. Es handelt sich hierbei um eine nicht durch Tatsachen belegte hypothetische Erwägung, die im Widerspruch zum tatsächlichen Geschehen stand. Es drohte kein Beweismittelverlust, was die Beamtin vor Ort auch so eingeschätzt hat. Die zuständige Ermittlungsrichterin oder ein Vertreter im Amt wäre an einem Donnerstag um 10.30 Uhr unfraglich unverzüglich erreichbar gewesen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass hier keine zügige Entscheidung hätte ergehen können.

Das Fehlen einer richterlichen Durchsuchungsanordnung führt im vorliegenden Fall auch zu einem Beweisverwertungsverbot.

Grundsätzlich muss im Einzelfall auf Grund einer umfassenden Abwägung des Interesses der Allgemeinheit nach einer wirksamen Strafverfolgung mit dem Interesse des Betroffenen an der Einhaltung der Verfahrensvorschriften geprüft werden, ob eine rechtswidrige Durchsuchung auch eine Unverwertbarkeit der aufgefundenen Beweismittel zur Folge hat. Bei der Abwägung bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall angenommen werden kann. Maßgeblich mit beeinflusst wird das Ergebnis durch das Gewicht des infrage stehenden Verfahrensverstoßes. Dabei ist ein Beweisverwertungsverbot zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen geboten, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen wurden (vgl. Urteil des BGH vom 6.10.2016 mwN, NStZ 2017, S. 367ff.).

Ein solcher schwerwiegender Verfahrensverstoß lag zur Überzeugung der Kammer im vorliegenden Fall vor.

In der vorgenannten Entscheidung vom 6. Oktober 2016 hat der BGH es für einen schwerwiegenden Verstoß ausreichen lassen, dass die Staatsanwältin nach einem Kontakt mit dem Eildienstrichter, der eine Papierlage verlangte, um zu entscheiden, Eilbedürftigkeit angenommen hat. Der BGH hat in einem anderen Fall, in dem ein Angeklagter nachmittags wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln festgenommen wurde, eine Durchsuchung aber erst um 20 Uhr auf Gefahr im Verzuge von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde, einen vergleichbar schwerwiegenden Verstoß angenommen (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 2007, BGHSt 51, 285ff.). Danach habe der Staatsanwalt eine Stunde vor Beginn der Nachtzeit nicht einmal erwogen, einen Ermittlungsrichter zu kontaktieren und auch nicht die ihm obliegende Pflicht erfüllt, für die Rechtmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens und damit für die Einhaltung des Richtervorbehaltes durch die Polizei Sorge zu tragen, nämlich möglichst frühzeitig auf den Erlass eines Beschlusses hinzuwirken.

Das hier vorliegende Geschehen ist mit dem Verhalten der Staatsanwaltschaft in den vom BGH entschiedenen Fällen vergleichbar, zur Überzeugung der Kammer sogar schwerwiegender. Vorliegend hatte die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal versucht, ei-nen Ermittlungsrichter zu erreichen, sondern hatte die Gefahr im Verzug auf eine hypothetische Annahme gestützt. Die Beamtin Noack war nach ihren Angaben in der Hauptverhandlung davon ausgegangen, dass die StAin versucht habe, einen Ermittlungsrichter zu erreichen, dafür sei genügend Zeit gewesen. Die Annahme wegen Gefahr im Verzug wurde im vorliegenden Fall zumindest ohne Nachfrage zur konkreten Situation einfach aus allgemeinen kriminalistischen Überlegungen dahingehend, dass bei einer geplanten Durchsuchung eines bei der Durchsuchung anwesenden Beschuldigten stets ein Beweismittelverlust drohe, getroffen. Würde man dies zulassen, könnte in der Folge in allen Fällen der An-wesenheit des Beschuldigten Gefahr in Verzug angenommen werden. Eine solche generelle Regel wäre aber grob grundrechtswidrig und würde den Richtervorbehalt erheblich aushöhlen.

Im vorliegenden Fall hat die Polizeibeamtin entweder unvollständige oder unklare Angaben gemacht zur Situation, so dass hierin ein erheblicher Verstoß zu liegen wäre oder die Staatsanwältin hat es versäumt, zur konkreten Situation und einem drohenden Beweismittelverlust nachzufragen, was ihr als „Herrin des Verfahrens“ oblegen hätte. Bereits bei Nachfrage zur aktuellen Situation wäre der Staatsanwältin von der Beamtin erklärt worden, dass keine Gefahr im Verzug vorlag, so dass die Annahme von Gefahr in Verzug nicht erfolgt wäre. Damit wurde die konkrete Situation nicht ausreichend aufgeklärt, was ein erheblicher Verstoß gegen die notwendige Aufklärungspflicht darstellt.

Soweit der BGH in dem Urteil vom 17. Februar 2016 (2 StR 25/15, juris) angenommen hat, dass trotz Verstoßes gegen den Richtervorbehalt bei einer Durchsuchung kein Verwertungsverbot vorliege, besteht der wesentliche Unterschied darin, dass es hier nicht um die grundgesetzlich geschützte Durchsuchung einer Wohnung ging, sondern um die Durchsuchung eines in einem sichergestellten und zuvor entwendeten Autos befindlichen Rucksackes und einer darin befindlichen Geldkassette zur Identitätsfeststellung.

In dem Beschluss des BGH vom 21. April 2016 (2 StR 394/15, juris) wurde wiederum vom BGH ein Beweisverwertungsverbot angenommen: Die Polizei hatte den dortigen An-geklagten wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung festgenommen und ihm Fahrzeugschlüssel abgenommen und 10 Tage später das passende Fahrzeug auf der Straße abgeparkt entdeckt. Der Staatsanwalt, der nicht wusste, dass die Tat 10 Tage zuvor begangen worden war, ordnete eine Durchsuchung wegen Gefahr im Verzug an ohne auch nur versucht zu haben, einen Ermittlungsrichter zu kontaktieren. Der BGH hat in diesem Verfahren deutlich gemacht, dass es auf die Frage einer etwaigen Fehlvorstellung des Staatsanwaltes nicht ankomme, da diese Fehlvorstellung – wie im vorliegenden Fall – auf nicht nachzuvollziehender unvollständiger Information beruht und diese auch nicht rechtfertige, dass es an einem Werktag zu dienstüblichen Zeiten nicht einmal versucht wurde, eine richterliche Entscheidung zu erlangen. Zwar war im dortigen Fall der An-geklagte in Untersuchungshaft und nicht wie im vorliegenden Fall vor Ort, jedoch bestand dennoch eine damit vergleichbare stabile Situation ohne drohender Gefahr eines Beweismittelverlustes und eine Entscheidung auf unvollständiger Datenbasis.

Insoweit kommt es auch auf die Tatsache, ob bei einem hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlauf ein Durchsuchungsbeschluss erlassen worden wäre und ob es sich bei der Durchsicht des Zimmers des Angeklagten um tatsächlich eine solche handelte, da man bereits von der Tür aus erkennen konnte, ob jemand im Zimmer ist oder nicht, nicht an.

Dem Aspekt des möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufes kommt bei -wie hier – grober Verkennung des Richtervorbehaltes nämlich keine Bedeutung zu. Würde man in solchen Fällen stets anerkennen, dass der hypothetische rechtmäßige Ersatzeingriff eine Rolle spielen dürfte, würde dadurch der Richtervorbehalt unterlaufen werden und auf eine nachträgliche Überprüfung beschränkt werden, was vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt war. Es würde sogar ein Ansporn entstehen, die Ermittlungen ohne Einschaltung des Ermittlungsrichters einfacher und möglicherweise erfolgversprechender zu gestalten. Damit würde aber das wesentliche Erfordernis eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens aufgegeben, dass Beweise nicht unter bewusstem Rechtsbruch oder gleichgewichtiger Rechtsmissachtung erlangt werden dürfen.

Angemerkt sei darüber hinaus, dass die Staatsanwältin vorliegend auch nur von dem Verdacht des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln ausgegangen ist und nicht von einem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und eine Wohnungsdurchsuchung regelmäßig dann nicht rechtmäßig ist, wenn konkrete Hinweise auf größere Mengen von Betäubungsmitteln nicht vorliegen (vgl. Urteil des OLG Hamburg vom 23. März 2007, 3-4/07 (REV) 1 Ss 5/07, juris).“

OWi II: Rechtzeitiger Hinweis auf Vorsatz fehlt, oder: Verfahrensaussetzung wegen BVerfG 2 BvR 1167/20?

Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.2022 – 2 RBs 155/22 – ist in mehrfacher Hinsicht interessant.

Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 71 km/h zu einer Geldbuße von 1.920 EUR (!) verurteilt und ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt. Die Hauptverhandlung war nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt worden. Auch der Verteidiger hatte nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg:

„1. Die Rüge des Betroffenen, er sei nicht rechtzeitig darauf hingewiesen worden, dass abweichend von dem Bußgeldbescheid auch eine vorsätzliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Betracht komme, greift durch.

Wenn – wie hier – im Bußgeldbescheid keine Schuldform bezeichnet worden ist, so ist davon auszugehen, dass dem Betroffenen Fahrlässigkeit zur Last gelegt wird (vgl. OLG Jena NStZ-RR 1997, 116). Soll der Betroffene wegen Vorsatzes verurteilt werden, ist daher nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 265 Abs. 1 StPO ein Hinweis auf die Änderung der Schuldform erforderlich. Dies gilt auch im Abwesenheitsverfahren, wobei dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessenen Frist einzuräumen ist (vgl. OLG Bamberg DAR 2017, 383; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl. 2018, § 74 Rdn. 16).

Vor dem Hauptverhandlungstermin vom 14. März 2022 (Montag) ist der Hinweis an den Verteidiger (§ 74 Abs. 1 Satz 3 OWiG) erst mit Telefax vom 10. März 2022, 14.42 Uhr, erfolgt. Es drängt sich auf, dass die bis zum Hauptverhandlungstermin verbleibende Zeit, in die ein Wochenende fiel, für eine etwaige Stellungnahme des Verteidigers schon für sich betrachtet unangemessen kurz war, zumal auch der Zeitbedarf für eine etwaige Rücksprache mit dem Betroffenen zu berücksichtigen war.

Jedenfalls ist der Hinweis nicht rechtzeitig angebracht worden, da das Telefax vom 10. März 2022 irrtümlich nicht an die Kanzlei des Verteidigers in P., sondern an die Zweigstelle in B. übermittelt wurde. Geht ein Schriftsatz bei einem unzuständigen Gericht ein, darf der Absender nicht erwarten, dass bei der Weiterleitung an das zuständige Gericht Eilmaßnahmen getroffen werden. Es ist lediglich die Weiterleitung im normalen Geschäftsgang erforderlich (vgl. Senat NStZ-RR 2002, 216; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 283). Umgekehrt kann das Gericht keine Eilmaßnahmen erwarten, wenn es bei einem Telefax irrtümlich nicht die dem Kanzleisitz des Verteidigers zugeordnete Faxnummer verwendet. Vorliegend kann nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, dass dem in P. ansässigen Verteidiger das an die Zweigstelle in B. übermittelte Telefax vom 10. März 2022 mit dem gerichtlichen Hinweis erst nach dem Hauptverhandlungstermin vom 14. März 2022 zur Kenntnis gelangt ist.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Betroffene, hätte der Verteidiger den nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 265 Abs. 1 StPO zur Schuldform (Vorsatz statt Fahrlässigkeit) erforderlichen Hinweis rechtzeitig erhalten, seine Verteidigung in anderer Weise ausgeführt oder den Einspruch zurückgenommen hätte.

Das angefochtene Urteil unterliegt mithin der Aufhebung. Ob das (auch) auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs abstellende Beschwerdevorbringen, das nur unbestimmte Angaben zu der Reaktion, die im Falle rechtzeitiger Hinweiserteilung erfolgt wäre, enthält, den Anforderungen an eine Gehörsrüge genügt, kann dahinstehen, da die Rechtsbeschwerde vorliegend keiner Zulassung bedarf.“

So weit, so gut. Interessant dann aber auch die anderen Ausführungen des OLG. Wegen der Ausführungen zur Verwertbarkeit der mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP ermittelten Messergebnisses verweise ich auf den verlinkten Volltext; die Ausführungen entsprechen der OLG-Rechtsprechung.

Aber: Das OLG nimmt auch Stellung zur einem Aussetzungsantrag des Betroffenen, den der im Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1167/20 gestellt hatte. Den hat das AG abgelehnt, was das OLG nicht beanstandet.

3. Ferner hat das Amtsgericht den Antrag des Betroffenen, das vorliegende Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auszusetzen, rechtsfehlerfrei abgelehnt.

In diesem Verfahren geht es um eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Frage, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus einer fehlenden Speicherung von Messdaten bei Geschwindigkeitsmessungen im Bußgeldverfahren folgen (vgl. Übersicht für das Jahr 2022, Zweiter Senat, lfd. Nr. 48, abrufbar bei www.bundesverfassungsgericht.de). In diesem Fall wurde die Geschwindigkeitsmessung mit dem Infrarot-Lasermessgerät Leivtec XV3 durchgeführt (vgl. Beitrag „Bundesverfassungsgericht: Müssen Blitzer Rohmessdaten speichern?“ bei www.zimmer-gratz.de). Anzumerken ist, dass Geschwindigkeitsmessungen mit diesem Gerätetyp wegen unzulässiger Messwertabweichungen inzwischen nicht mehr als standardisiertes Messverfahren anerkannt werden (vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2021, 7922; BeckRS 2021, 19614 = NdsRpfl 2021, 321; OLG Celle BeckRs 2021, 15516 = DAR 2021, 524; BeckRS 2021, 35584 = ZfSch 2021, 650: OLG Hamm BeckRS 2021, 28656; BeckRS 2021, 37766; OLG Dresden BeckRS 2021, 36733; OLG Koblenz BeckRS 2021, 42233).

Vorliegend wurde der Laserscanner PoliScan M1 HP eingesetzt. Wegen der gleichgelagerten Fragestellung hinsichtlich der Nichtspeicherung der Messdaten kommt jedenfalls in Betracht, dass die Entscheidung in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auch von grundsätzlicher Bedeutung für die Verwertbarkeit der mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP erzielten Messergebnisse sein wird.

Die nach §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG anwendbaren Vorschriften der StPO sehen in einer solchen Konstellation unmittelbar keine Aussetzung des Verfahrens vor. Allerdings ist die entsprechende Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO in Betracht zu ziehen (vgl. Miebach in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Auf. 2016, § 262 Rdn. 19; Ott in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 262 Rdn. 7). Die entsprechende Anwendbarkeit des § 262 Abs. 2 StPO ist etwa bei anderweitiger Anhängigkeit eines Normenkontrollverfahrens zur Gültigkeit einer entscheidungsrelevanten Rechtsnorm (vgl. BayObLG NJW 1994, 2104) und im Falle einer anderweitigen Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG zu einer für die Entscheidung bedeutsamen Rechtsfrage (vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 2017, 102231) bejaht worden. Auf derselben Ebene liegt die Verfassungsbeschwerde eines Dritten, bei der die grundsätzliche Klärung einer im vorliegenden Verfahren entscheidungsrelevanten Rechtsfrage zu erwarten ist.

Es besteht indes keine Rechtspflicht, ein Bußgeldverfahren deshalb auszusetzen, weil anderweitig eine solche Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Vielmehr steht die Entscheidung über die Aussetzung des Bußgeldverfahrens im Ermessen des Gerichts, dessen Sachentscheidungskompetenz durch die Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht berührt wird.

Das Amtsgericht hat sich bei seiner rechtsfehlerfreien Ermessensentscheidung die Rechtsprechung nahezu sämtlicher Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte zu eigen gemacht, wonach die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. zu einem Aussetzungsantrag: OLG Brandenburg BeckRS 2022, 28361). Im Bereich der Fachgerichte ist die Fragestellung als geklärt anzusehen Das Amtsgericht hat ferner zutreffend darauf hingewiesen, dass eine funktionsfähige Verkehrsüberwachung empfindlich gestört würde, wenn Bußgeldverfahren, denen Geschwindigkeitsmessungen mit nicht speichernden Messgeräten zugrunde liegen, massenhaft ausgesetzt werden würden.

Die Verfassungsbeschwerde ist seit mehr als zwei Jähren anhängig. Eine Aussetzung entsprechend § 262 Abs. 2 StPO führt nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung (vgl. Gertler in: BeckOK, OWiG, 36. Edition 2022, § 32 Rdn. 23; Ellbogen in: Karlsruher Kommentar, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 32 Rdn. 15 Rdn. 7). Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG tritt im gerichtlichen Bußgeldverfahren vor Erlass des Urteils (§ 32 Abs. 2 OWiG) bereits nach sechs Monaten Verfolgungsverjährung ein. Im Falle erstinstanzlicher Aussetzung zwecks Abwarten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 wären inzwischen zahlreiche Bußgeldverfahren in die Verfolgungsverjährung gelaufen. Eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO liegt in Massenverfahren mit kurzer Verfolgungsverjährung fern und erscheint hier ohne gesetzliche Ruhensregelung ungeeignet. Vor diesem Hintergrund ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter seine Entscheidungskompetenz wahrnimmt und in Ausübung seines Ermessens von der Aussetzung des Verfahrens absieht. Dies gilt umso mehr, als das Beschleunigungsgebot auch im Bußgeldverfahren zu beachten ist (vgl. OLG Hamm BeckRS 2009 = SVR 2009, 465, 12428; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 13726).“

Dazu kurz Folgendes: Die Ausführungen des OLG zur Aussetzungsfrage sind m.E. erkennbar vom Ergebnis – drohender Verjährungseintritt – getragen. Sie sind im Übrigen aber auch nicht überzeugend. Denn, dass das AG sich eine – nach der ausstehenden Entscheidung des BVerfG ggf. falsche – Auffassung aller OLG zu eigen gemacht hat, rechtfertigt die Ablehnung der Aussetzung, für die auch mal wieder die „funktionsfähige Verkehrsüberwachung“ herhalten muss, nicht. Wenn die Verkehrsüberwachung eben nicht „funktionsfähig“ erfolgt, dann müssen die Verwaltungsbehörden die daraus entstehenden Folgen eben hinnehmen. Es erschließt sich mir auch nicht, warum man einerseits eine entsprechende Anwendung von § 262 Abs. 2 StPO grundsätzlich bejaht, dann aber andererseits, weil es dann doch nicht passt, die Regelung als „ungeeignet“ ansieht.

Für das weitere Verfahren hat das OLG übrigens darauf hingewiesen, dass eine Rücknahme oder Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht mehr wirksam erfolgen kann. Das ist zutreffend, denn die Rücknahme des Einspruchs ist grundsätzlich nur bis zur Verkündung des Urteils im ersten Rechtszug zulässig (§ 71 Abs. 1 OWiG, § 411 Abs. 3 Satz 1 StPO).

Und eine allgemeine Anmerkung – meinetwegen auch „Mecker“ 🙂 : Das OLG hat in seiner Entscheidung fast alle zitierten Entscheidungen anderer OLG nur mit „BeckRS“-Fundstellen angeführt. Das macht die Entscheidung zwar (noch) nicht unlesbar, aber: Das alleinige Anführen dieser Fundstellen ohne Entscheidungsdatum und Aktenzeichen macht das Auffinden der angeführten Entscheidung an anderen Stellen zwar nicht unmöglich, aber erschwert es ggf. ungemein. Denn die betreffende Entscheidung, die als Beleg angeführt worden ist, kann nur über Umwege, wenn überhaupt, gefunden werden kann. Diese „Unsitte“ muss nicht sein, zumal ja auch bei Beck-Online bei den „BeckRS“ Fundstellen Entscheidungsdatum und Aktenzeichen angeführt werden. Es sollte m.E. einem OLG keine Mühe machen, diese dann auch in einer Entscheidung, die man veröffentlicht, anzuführen, um so ein einfacheres Umgehen mit den Zitaten, vor allem eine Überprüfung der angeführten Entscheidungen darauf, ob sie tatsächlich dieselben Auffassung wie das OLG vertreten, zu ermöglichen. Zudem kann man m.E. auch nicht davon ausgehen, dass – anders als die Justiz – alle anderen Interessierten auch über einen „Beck-Zugang“ verfügen-

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.

StPO I: BVV wegen verbotener Vernehmungsmethoden, oder: Das Beweisverwertungsverbot gilt absolut

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Heute geht es in den „Regendienstag“ mit StPO-Entscheidungen.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 07.06.2022 – 5 StR 332/21 – zur Reichweite des Verwertungsverbotes des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO. Der BGh sagt: Das Verwertungsverbot gilt absolut und auch zugunsten von Mitbeschuldigten. Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Der Angeklagte hat gegen seine Verurteilung Revision eingelegt. Die hatte keinen Erfolg:

„Der näheren Erörterung bedarf nur die Aufklärungsrüge, mit der die Revision beanstandet, das Landgericht habe es unterlassen, über den ihn begünstigenden Inhalt der Angaben des Beschwerdeführers im Ermittlungsverfahren Beweis zu erheben, nachdem es deren Unverwertbarkeit auf Antrag der Verteidigung wegen eines Verstoßes gegen § 136a Abs. 1 StPO bejaht hatte.

Dieser Beanstandung liegt zugrunde:

Der Angeklagte hatte im Ermittlungsverfahren eine Einlassung abgegeben. Die Strafkammer hat diese – wie vom Angeklagten beantragt – wegen eines Verstoßes gegen § 136a StPO für unverwertbar gehalten. Soweit seine Einlassung auch Angaben zu anderen Tatbeteiligten enthielt, die möglicherweise eine Aufklärungshilfe im Sinne von § 31 BtMG darstellen könnten, hat sie erwogen, die Einlassung insoweit „vor dem Hintergrund des ‚Fair Trial‘-Grundsatzes“ gleichwohl zu verwerten, sich hieran jedoch aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 5. August 2008 – 3 StR 45/08, NStZ 2008, 706) gehindert gesehen.

1. Die Verfahrensrüge erweist sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), weil jeglicher Vortrag dazu fehlt, wie sich im Zeitpunkt der Einlassung des Angeklagten die Erkenntnislage hinsichtlich der von ihm belasteten Tatbeteiligten für die Ermittlungsbehörden darstellte. Da eine zulässige Aufklärungsrüge auch die Darlegung der Umstände und Vorgänge voraussetzt, die für die Beurteilung der Frage, ob sich dem Gericht die vermisste Beweiserhebung aufdrängen musste, bedeutsam sein können (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 1993 – 5 StR 180/93, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 6 mwN; vom 13. Dezember 2016 – 3 StR 193/16, NStZ-RR 2017, 119; Urteile vom 18. Juli 2019 – 5 StR 649/18 Rn. 12; vom 29. Juni 2021 – 1 StR 287/20 Rn. 14), wären hier solche Angaben erforderlich gewesen. Denn nur so konnte beurteilt werden, ob durch die Angaben des Angeklagten überhaupt ein für die Anwendung des § 31 BtMG erforderlicher wesentlicher Aufklärungserfolg hätte herbeigeführt werden können. War ein solcher nicht feststellbar, bedurfte es einer weiteren inhaltlichen Aufklärung der Angaben des Angeklagten schon deshalb nicht, weil das Landgericht aufgrund der Aussage eines Tatbeteiligten ohnehin die Voraussetzungen der Aufklärungshilfe bejaht und betreffend die nicht verwertbaren Angaben des Angeklagten bei der Strafzumessung zu seinen Gunsten Aufklärungsbemühungen berücksichtigt hat.

2. Es bedarf deshalb keines vertieften Eingehens auf die von der Revision unter Berufung auf Literaturmeinungen vertretene Auffassung, nach der auch im Fall eines Beweisverwertungsverbots gemäß § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO die entlastenden Angaben des Beschuldigten gleichwohl verwertbar sein sollen (vgl. dazu etwa Roxin/Schäfer/Widmaier, StV 2006, 655; Roxin, StV 2009, 113; MüKo-StPO/Schuhr, § 136a Rn. 90 mwN; vgl. auch KMR/Kulhanek, StPO, 105. EL, § 136a Rn. 52: zur Vermeidung der Verurteilung von Unschuldigen; offen gelassen von LR/Gleß, StPO, 27. Aufl., § 136a Rn. 71a; aA BGH, Beschluss vom 5. August 2008 – 3 StR 45/08, NStZ 2008, 706; SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 63; Radtke/Hohmann/Kretschmer, StPO; § 136a Rn. 40; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl., § 136a Rn. 105, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 136a Rn. 27; BeckOK-StPO/Monka, 43. Ed., § 136a Rn. 29; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 136a Rn. 38). Die in diesem Zusammenhang beiläufig vertretene Auffassung der Verteidigung, dass die – zu den Schuldspruch betreffenden Entlastungsbeweisen entwickelten – Grundsätze der Mindermeinung gleichermaßen Geltung beanspruchten, wenn – wie hier – nur der Rechtsfolgenausspruch betroffen ist, nimmt jedenfalls die Besonderheiten, die mit der Anwendung des § 31 BtMG verbunden sind, nicht hinreichend in den Blick:

Der gesetzliche Milderungsgrund kommt nur zur Anwendung, wenn das Gericht sich die Überzeugung davon verschafft hat, dass die Darstellung des Täters über die Beteiligung anderer an der Tat zutrifft (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2009 – 3 StR 561/08, NStZ 2009, 394 mwN), er mithin über den eigenen Tatbeitrag hinaus einen erheblichen Aufklärungsbeitrag geleistet hat. Der Zweifelsgrundsatz kommt ihm dabei nicht zugute (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 14. Juli 1988 – 4 StR 154/88, BGHR BtMG § 31 Nr. 1 Aufdeckung 7; Beschlüsse vom 28. August 2002 – 1 StR 309/02, NStZ 2003, 162; vom 27. November 2014 – 2 StR 311/14, NStZ-RR 2015, 77, 78). Wie aber ein Gericht unter (teilweiser) Verwertung einer an sich unverwertbaren Einlassung zu einer vollen tatgerichtlichen Überzeugung von deren Richtigkeit gelangen soll, soweit sie allein weitere Tatbeteiligte betrifft, erschließt sich nicht. Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO absolut und auch zugunsten von Mitbeschuldigten (BGH, Urteil vom 14. Oktober 1970 – 2 StR 239/70; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 136a Rn. 33; HK-GS/Jäger, 5. Aufl., StPO § 136a Rn. 43) gilt, sodass selbst bei einer den Angeklagten begünstigenden Berücksichtigung seiner Angaben ein Aufklärungserfolg im Sinne des § 31 BtMG über den eigenen Tatbeitrag hinaus grundsätzlich nicht bewirkt werden könnte. Auch die von der Verteidigung zitierte Literatur geht davon aus, dass mit unverwertbaren Beweismitteln kein „positiver Nachweis“ zu führen sei und sie nur die Überzeugungskraft anderer (belastender) Beweismittel erschüttern können sollen (MüKo-StPO/Schuhr, § 136a Rn. 90). Dann sind in solchen Fällen aber regelmäßig allenfalls Aufklärungsbemühungen strafmildernd zu berücksichtigen; genau dies hat die Strafkammer getan.“

Pflichti I: Unterlassenen Bestellung eines Verteidigers, oder: Der BGH schafft Pflichtverteidigung teilweise ab.

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Ich starte dann in den „Arbeitsteil“ der Pfingstwoche mit Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Als erste Entscheidung dann hier der BGH, Beschl. v. 05.04.2022 – 3 StR 16/22 – zur unterlassenen Bestellung eines Pflichtverteidigers und zum Beweisverwertungsverbot. M.E. eine „unsägliche“ Entscheidung. Aber: Es nutzt nichts, ich muss darüber berichten.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte ist vom OLG wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen eine Person in Syrien u.a. zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden . Die Tat soll im Juli 2012 begangen worden sein. Im Ermittlungsverfahren wurde der Angeklagte insgesamt drei Mal als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den  Vernehmungen wurde er jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers „beanspruchen“ könne. In der Folge äußerte er sich in zwei Vernehmungen zur Sache, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war.

In der Hauptverhandlung wurde einer der Vernehmungsbeamten als Zeuge gehört Der Beamte machte u.a. Angaben zu den Einlassungen des Angeklagten im Rahmen der Vernehmungen. Die Verteidigung widersprach der Verwertung der Angaben des Vernehmungsbeamten, soweit dieser sich zu Inhalten der ohne Verteidiger durchgeführten Vernehmungen äußerte. Das OLG stützte jedoch seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in einer der Vernehmungen auf die Bekundung des Vernehmungsbeamten.

Dagegen dann die des Angeklagten, mit der ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf die Verwertung der Angaben gegenüber der Polizei geltend gemacht worden ist. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Ich erspare mir hier einen Auszug aus der Entscheidung und überlasse sie dem Selbstleseverfahren. Der BGH hat seiner Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:

    1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO.
    2. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.
    3. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge.

Zu der Entscheidung könnte man eine Menge schreiben. Und es wird dazu sicherlich auch eine ganze Reihe ablehnender Anmerkungen geben. Und das m.E. zu Recht. Mich überrascht die Entscheidung zwar nicht, weil sie letztlich auf der Linie des BGH liegt, die Fragen der Pflichtverteidigung und der Beweisverwertungsverbote eng zu sehen. Dass der BGH dann aber nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung weiterhin so restriktiv entscheiden würde und damit m.E. entgegen dem Sinn und Zweck der Neuregelung, das überrascht dann doch. Denn wenn man die Entscheidung „zusammenfasst“ wird man sagen müssen:, da in etwa Folgendes gilt:

  • Die unterbliebene Verteidigerbestellung ist kaum noch rügbar. Der  BGH hat die Hürde für ein Verwertungsverbot so hoch gelegt, dass eine zwar an sich gebotene, aber gleichwohl unterbliebene Verteidigerbestellung von Amts wegen mit der Revision de facto kaum noch erfolgreich gerügt werden kann.
  • Der Angeklagte war mit dem Vorwurf konfrontiert,  vor nunmehr beinahe zehn Jahren in einem Bürgerkriegsgebiet schwere Straftaten nach dem VStGB begangen zu haben. Mithin lag dem Verfahren eine Konstellation zugrunde, die jedenfalls nicht zum Standardrepertoire eines deutschen Strafjuristen gehören dürfte. Die Beweiswürdigung bezeichnet der BGH selbst als ersichtlich sehr schwierig. Bereits dies lässt es als sehr restriktiv erscheinen, wenn dem Beschuldigten bescheinigt wird, seine individuelle Schutzbedürftigkeit sei nicht derart stark ausgeprägt, dass er bei den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren des Beistands eines Verteidigers bedurft hätte.
  • Darüber hinaus war der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig und wurde ferner, was der BGH nicht in Abrede stellt, teils unzutreffend belehrt. All dies führt nach Auffassung des BGH aber nicht, und zwar auch nicht im Rahmen einer – sonst so beliebten – Gesamtschau, zur Erforderlichkeit einer Verteidigerbestellung von Amts wegen und soll selbst dann, wenn man zu dem Ergebnis käme, dass es einer Bestellung bedurft hätte, nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben führen.
  • Ausnahmen sind nach Auffassung des BGH nur noch bei psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Einschränkungen denkbar.

Man fragt sich, warum der BGH nicht einen anderen Leitsatz gewählt hat, etwa: „Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO ist nach der Rechtsprechung des 3. Strafsenats des BGH ausgeschlossen.“