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Beleidigung I: „Hurensöhne“ nach Polizeikontrolle, oder: Strafloses Selbstgespräch?

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Heute dann StGB-Delikte, und zwar drei Entscheidungen zur  Beleidigung (§ 185 StGB).

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 01.03.2023 – 203 StRR 38/23. Das AG hat die Angeklagte wegen Beleidigung in drei Fällen verurteilt. Dagegen die Revision, die keinen Erfolg hatte. Das BayObLG hat die Revision gem. § 349 Abs. 2 StGb verworfen:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

1. Das Amtsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass sich die Angeklagte durch die Äußerung gegenüber ihrer Freundin der Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen gemäß § 185 StGB schuldig gemacht hat.

Dass mit den Worten „Hurensöhne“ sämtliche mit der vorhergehenden Kontrolle der Angeklagten befassten Beamten, also auch die Geschädigte POM`in I. gemeint waren, wird von der Beweiswürdigung getragen. Die funktionsbezogene Individualisierung der betroffenen Beamten ist hinreichend dargetan. Spontane Formalbeleidigungen gehen nicht zwingend mit einem geschlechtersensiblen Formulieren einher.

Entgegen der Rechtsauffassung der Revision ist der Tatbestand der Beleidigung auch dann erfüllt, wenn die Kundgabe der Missachtung nicht unmittelbar gegenüber dem Geschädigten, sondern gegenüber einem Dritten in Bezug auf den Geschädigten erfolgt (vgl. Hilgendorf in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl., § 185 Beleidigung Rn. 10; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 185 Rn. 6). Ein Selbstgespräch, das von niemandem gehört werden sollte, liegt auch nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nicht vor. Selbst wenn die Angeklagte nicht damit rechnete, dass ein Beamter die Äußerungen hörte, ist der Tatbestand der Beleidigung erfüllt. Denn der Vorsatz des Täters muss sich nur darauf richten, dass ein Dritter, hier die Freundin, die Ehrverletzung zur Kenntnis nimmt und den ehrverletzenden Gehalt versteht. Es ist ohne Bedeutung, wenn die Äußerung – auch – einem anderen zugeht (vgl. Regge/Pegel in Münchener Kommentar, StGB, 4. Aufl., § 185 Rn. 40 f.).

2. Der von der Revision in Betracht gezogene Ausnahmefall, dass die Angeklagte die Äußerung ihrer Freundin gegenüber innerhalb einer „beleidigungsfreien Sphäre“ getätigt hätte, ist hier nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Tatgerichts nicht gegeben. In der Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass es einen Bereich vertraulicher Kommunikation innerhalb besonders ausgestalteter Vertrauensbeziehungen gibt, in der der Äußernde ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen und ohne Sorge vor staatlicher Sanktionierung kommunizieren darf (vgl. KG, Beschluss vom 14. Juli 2020 – (4) 161 Ss 33/20 (43/20) –, juris Rn. 22; OLG Frankfurt, Urteil vom 17. Januar 2019 – 16 W 54/18 –, juris Rn. 22; OLG Koblenz, Urteil vom 24. April 2008 – 6 U 81/08 –, juris Rn. 29; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22. Februar 1995 – 2 Ws 30/95 –, juris Rn. 14; Hilgendorf a.a.O. Rn. 11 ff.; Eisele/Schittenhelm in Schönke/Schröder, StGB 30. Aufl., Vorbem. §185 Rn. 9a m.w.N.). Äußerungen, die gegenüber Außenstehenden oder der Öffentlichkeit wegen ihres ehrverletzenden Gehalts eigentlich nicht schutzwürdig wären, genießen in solchen privaten Vertraulichkeitsbeziehungen verfassungsrechtlichen Schutz, welcher dem Schutz der Ehre des durch die Äußerung Betroffenen vorgeht (vgl. KG a.a.O. m.w.N.). Voraussetzung für die Straffreiheit ist jedoch, dass es sich um eine Äußerung gegenüber einer Vertrauensperson handelt, die in einer Sphäre fällt, die gegen die Wahrnehmung von Seiten weiterer Personen abgeschirmt ist (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 20. Mai 2010 – 2 BvR 1413/09 –, BVerfGK 17, 311-319 Rn. 20 zitiert nach juris; KG a.a.O. Rn. 23 und 25 m.w.N.; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 23. Januar 1990 – 2 Ss 103/89 –, juris Rn. 13 m.w.N.; Eisele/Schittenhelm a.a.O.Rn. 9b). Dies war hier nach den Feststellungen nicht der Fall. Die Angeklagte äußerte sich nicht vertraulich in einer Sphäre, in der sie davon ausgehen konnte, dass ihre Worte gegen die Wahrnehmung durch den Betroffenen und Dritte abgeschirmt waren, sondern schreiend im öffentlichen Raum beim Verlassen einer Polizeidienststelle.

3. Der Ehrangriff auf die Polizeibeamten war nicht durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt (§ 193 StGB). Die Angeklagte hat hier die ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG durch § 185 StGB gesetzte Grenze überschritten, Art. 5 Abs. 2 GG.

Bei der Bezeichnung der Beamten als „Hurensöhne“ handelt es sich – wie auch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme angenommen hat – um eine Formalbeleidigung. Die Angeklagte hat ein nach allgemeiner Auffassung besonders krasses, aus sich heraus herabwürdigendes Schimpfwort verwendet, das eine kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit darstellt. Die verwendete Beschimpfung verlässt das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts und kann unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar sein. Ein Kontext, in dem die Bezeichnung eines Amtsträgers als Hurensohn gesellschaftlich billigenswert erscheinen könnte, ist nicht denkbar (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19-, juris Rn. 21, 23; BayObLG, Beschluss vom 07. September 2020 – 206 StRR 220/20-, juris Rn. 13, 14). Bei einer solchen Formalbeleidigung tritt ohne weitere Gewichtung und kontextspezifische Einzelfallabwägung die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hinter den Ehrenschutz zurück (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 15 m.w.N.; BayObLG, a.a.O., juris Rn. 12).

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass eine – hilfsweise – vorgenommene Abwägung der widerstreitenden Interessen (Ehrenschutz / Meinungsfreiheit, vgl. insoweit BVerfG, a.a.O., juris Rn. 25; BayObLG, a.a.O., juris Rn. 15) auf der Grundlage der im Urteil insoweit noch ausreichend festgestellten Umstände des Einzelfalls zu keinem anderen Ergebnis führen könnte. Das Recht des Bürgers, gerichtliche Entscheidungen ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen zu kritisieren, gehört zum Kernbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, weshalb deren Gewicht in diesen Fällen besonders hoch zu veranschlagen ist. Dabei fallen grundsätzlich auch scharfe und übersteigerte Äußerungen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. Befindet sich jemand im sogenannten „Kampf ums Recht“, ist es ihm zur plastischen Darstellung seiner Position grundsätzlich auch erlaubt, starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, ohne jedes Wort auf die Waagschale legen zu müssen. Allerdings bleiben auch die Gesichtspunkte der Machtkritik und des „Kampfs ums Recht“ in eine Abwägung eingebunden und erlauben nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern (BayObLG, a.a.O., juris Rn. 18). Die betroffenen Beamten bedürfen als Träger einer hervorgehobenen staatlichen Funktion im Interesse einer wirkungsvollen Erfüllung öffentlicher Aufgaben des besonderen staatlichen Schutzes (vgl. BayObLG, Beschluss vom 3. Februar 2022 – 204 StRR 20/22 –, juris Rn. 16).

Im konkreten Fall sind zwar die Rechtmäßigkeit und der Ablauf der Kontrolle nicht feststellbar. Jedoch fällt als Abwägungsgesichtspunkt zugunsten des Ehrenschutzes und des sozialen Geltungsanspruches der Beamten der als besonders grob herabwürdigend einzuordnende Inhalt der Äußerung beträchtlich ins Gewicht. Der abschätzige Begriff „Hurensohn“ weist inhaltlich keinen erkennbaren Bezug zu der Polizeikontrolle auf, sondern trifft die Person (vgl. BVerfG a.a.O., juris Rn. 28; BayObLG a.a.O. Rn. 16) und insbesondere die Abstammung der Beamten und verletzt auch den sozialen Achtungsanspruch von deren Müttern (vgl. Hilgendorf in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl., § 185 Rn. 43; Eisele/Schittenhelm in: Schönke/Schröder, StGB 30. Aufl. § 185 Rn. 10). Selbst wenn es im Kontext von Auseinandersetzungen mit Amtsträgern grundsätzlich erlaubt ist, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen, wäre situationsunabhängig das Betiteln mit unflätigen Schimpfwörtern unter der Einbeziehung von Verwandten der Geschädigten nicht mehr gerechtfertigt. Die Angeklagte hätte mit der Verwendung der Schimpfwörter das Maß und die Form durch die Meinungsfreiheit gedeckter Kritik und Empörung eindeutig verlassen.“

Rechtsmittel II: Unwirksame Rechtsmitteleinlegung, oder: Nach Belehrung war wirksame Nachholung möglich

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Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 23.03.2023 – 203 StObWs 48/23. Der ist in einem Strafvollzugsverfahren ergangen. DerGefangene hatte gegen einen Beschluss der StVK Rechtsbeschwerde eingelgt. Die ist als unzulässig verworfen worden, da keiner der Schreiben, die man Rechtsbeschwerde auslegen konnte,  von einem Rechtsanwalt unterzeichnet oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt worden war.

Zur Wiedereinsetzung von Amts wegen merkt das BayObLG an:

„Nach § 118 Abs. 1 StVollzG beträgt die Rechtsbeschwerdefrist für die Einlegung und Begründung des Rechtsmittels einen Monat nach förmlicher Zustellung des angefochtenen Beschlusses. Nach Abs. 3 der Regelung hat der Antragsteller die Begründung der Rechtsbeschwerde in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift zu veranlassen oder zu Protokoll der Geschäftsstelle vorzunehmen. Entspricht eine auch fristgerecht eingelegte Begründung nicht den gesetzlichen Anforderungen, ist bei einer unverschuldeten Fristversäumnis nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, §§ 44 ff. StPO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässig, wenn den Antragsteller an dem Formfehler kein Verschulden trifft und er die formgerechte Begründung innerhalb der Frist von einer Woche (§ 45 Abs. 1 Satz 1 StPO) nachholt (vgl. dazu Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 118 Rn. 4 m.w.N.). Geht die Versäumung der formgerechten Rechtsbeschwerdebegründung auf einen dem Gericht zuzuordnenden Fehler zurück, ist der Betroffene nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung zu belehren; erst die Zustellung dieser Belehrung setzt die Frist zur Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist in Lauf (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. September 2005 – 2 BvR 172/04, 2 BvR 834/04, 2 BvR 907/04 -, juris, Rn. 16; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Februar 2012 – 2 BvR 2911/10 -, juris, Rn. 8; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2012 – 2 BvR 1095/12 -, juris, Rn. 5; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Oktober 2013 – 2 BvR 28/13 -, juris, Rn. 6; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Oktober 2013 – 2 BvR 1541/13 -, juris, Rn. 3; abw. insoweit, als die Frist zur Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist in Lauf gesetzt wird BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2001 – 2 BvR 1471/01 -, juris, Rn. 15; OLG Hamm, Beschluss vom 3. Mai 2016 – III – 1 Vollz (Ws) 135/16-, juris Rn. 7). Bei rechtzeitiger Nachholung der zuvor nicht wirksam eingelegten Rechtsbeschwerde ist die Wiedereinsetzung dann auch ohne Antrag von Amts wegen zu gewähren; es gilt die unwiderlegbare Annahme einer unverschuldeten Versäumung (§ 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 44 S. 2 StPO).

Nach diesen Vorgaben kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen gegen die Versäumung der Frist von § 118 StVollzG hier nicht in Betracht. Sollte dem Beschwerdeführer am 8. September 2022 zunächst eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung übermittelt worden sein, wäre die Zustellung des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer an diesem Tage gleichwohl wirksam erfolgt mit der Folge, dass die Monatsfrist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 43 StPO am 10. Oktober 2022 geendet hätte. Das handschriftliche Schreiben des Beschwerdeführers vom 9. September 2022 ist demnach zwar innerhalb der Monatsfrist von § 118 StVollzG bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen, entspricht jedoch nicht den formalen Anforderungen von § 118 StVollzG. Jedenfalls am 22. Dezember 2022 ist dem Beschwerdeführer die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebotene Belehrung, dass und wie der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung erlangen konnte, nämlich mit der Nachholung einer den Anforderungen von § 118 StVollzG entsprechenden Rechtsbeschwerde innerhalb einer Frist von einer Woche, im Wege der förmlichen Zustellung erteilt worden. Danach hätte der Beschwerdeführer spätestens mit Ablauf des 29. Dezember 2022 eine formwirksame Rechtsbeschwerde einreichen müssen. Dies hat der Beschwerdeführer jedoch bewusst unterlassen und in seinem Schreiben vom 22. Dezember 2022 ausdrücklich die Notwendigkeit einer Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in Abrede gestellt. Darauf, dass auch die weiteren, nach Ablauf der Wochenfrist des § 45 StPO eingegangenen Schreiben des Antragstellers nicht den Erfordernissen einer Rechtsbeschwerde nach § 118 StVollzG genügen, kommt es nicht mehr an. Die Rechtsbeschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen. Die Nebenentscheidungen folgen aus § 121 Abs. 1 und 2 StVollzG, §§ 60, 52 GKG.“

Strafvollzug I: Menschenwürdige Unterbringung, oder: Anforderungen an den Haftraum

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Und ich starte in die neue Woche mit zwei OLG-Entscheidungen zum Strafvollzug.

Die erste kommt aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 19.07.2022 – 203 StObWs 249/22 – Stellung genommen zur Frage der menschenunwürdigen Unterbringung.

Auszugehen war von folgendem Sachverhalt:

„Der Antragsteller hat im gegenständlichen Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer mit Schreiben vom 1. November 2020 zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Unterbringung im Haftraum C II der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kaisheim, die Feststellung eines Anspruchs auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 100.- Euro täglich fortlaufend ab dem 21. September 2020 und eine Verlegung in eine andere Zelle beantragt. Zudem hat er einen Amtshaftungsanspruch geltend gemacht. Mit Schreiben vom 15. Februar 2021 hat er beantragt, die Rechtswidrigkeit der Unterbringung im Haftraum C II sowie der Lochbleche vor dem Fenster im Haftraum DK 15  festzustellen, die Justizvollzugsanstalt zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 860.- Euro und 1290.- Euro sowie von 15.- Euro täglich ab dem 3. November 2020 zu verpflichten, und den Antrag auf Verlegung für erledigt erklärt.

Der Antragsteller verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe. Vom 21. September bis zum 2. November 2020 befand er sich als alleiniger Insasse im Haftraum C II 26 in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim (im Folgenden: Antragsgegnerin). Bei der Zelle handelt es sich um einen Einzelhaftraum im zweiten Stock des Zellenneubaus der Einrichtung. Ihre Grundfläche beträgt nach dem Vortrag des Antragstellers mindestens 7,58 qm, nach der Berechnung der Antragsgegnerin 8,04 qm. Das im Raum integrierte WC ist baulich nicht abgetrennt und verfügt nicht über eine gesonderte Abluftvorrichtung. Der Haftraum weist in einer Brüstungshöhe von etwa 180 cm ein Oberlichtfenster mit einer Gesamtfläche von etwa 1,30 qm auf. Ein Fensterflügel, der nach den Angaben des Antragstellers in einer seinem Schreiben vom 22. Oktober 2021 beigefügten Skizze mit mindestens 40 x 80 cm etwa ein Drittel der Fensterfront bildet, kann zur Belüftung geöffnet werden. Die übrigen zwei Drittel des Fensters sind nicht zu öffnen und bestehen aus einer Glasscheibe.  Zum Schutz vor Überwürfen ist vor dem Fenster ein Vorsatzgitter angebracht. Im verfahrensrelevanten Zeitraum war der Antragsteller bis zum 19. Oktober 2020 ohne Beschäftigung und befand sich ab dem 20. Oktober 2020 regelmäßig wöchentlich 36 Stunden und 45 Minuten im Arbeitsbetrieb. Die Aufschlusszeiten einschließlich der Aufenthaltsmöglichkeit im Freien betrugen außerhalb der Arbeitswochen von Montag bis Freitag insgesamt 5 Stunden 30 Minuten und am Wochenende 6 Stunden 30 Minuten. Die Reinigung mittels ihm zur Verfügung gestellten Reinigungsmitteln und die Belüftung des Haftraumes oblagen dem Gefangenen. Nachdem der Antragsteller am 30. Oktober 2020 der Antragsgegnerin seine Bedenken gegen die Bedingungen seiner Unterbringung in einem Gespräch mitgeteilt hatte, wurde er am 2. November 2020 in einen anderen Haftraum verlegt.

Der Antragsteller ist der Auffassung, sein Aufenthalt im Raum C II 26 sei aufgrund der Größe des Raumes und der Installation des WCs ohne Abluftvorrichtung und ohne bauliche Abtrennung mit der Menschenwürde nicht vereinbar gewesen und müsse mit einer Geldzahlung ausgeglichen werden. Er hält zudem ein Oberlichtfenster generell für unzulässig. Der Einbau hätte auch nicht den DIN-Vorgaben entsprochen. Das Fensterglas wäre nur mit einfachem Kitt befestigt gewesen. Das Fenster hätte zudem keine ausreichende Belichtung und Beleuchtung des Raumes zugelassen. Selbst bei Tag wären das Lesen und Schreiben nicht ohne künstliche Beleuchtung möglich gewesen. Die Aufschlusszeiten stellten sich ebenfalls als menschenunwürdig dar.

Die Antragsgegnerin ist dem Vorwurf einer menschenunwürdigen Unterbringung in ihrer Anstalt entgegengetreten. Die von ihr vorgetragene und mit einem Grundriß unterlegte Raumgröße von 8,04 qm, die von ihr dargestellte Ausstattung des Haftraumes und die von ihr detailliert aufgeführten Aufschlusszeiten entsprächen den Anforderungen an einen menschenwürdigen Strafvollzug. Die Gesamtfläche des Fensters würde 1,30 qm betragen.  Die Vorsatzgitter seien erforderlich geworden, nachdem Betäubungsmittel und Kommunikationsmittel in die Fenster der Anstalt hineingeworfen worden wären. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hätte die Gitter als gerechtfertigt beurteilt.

Der Verurteilte hatte im Verfahren keinen Erfolg. Hier die Leitsätze des BayObLG:

1. Die Frage nach der Menschenwürdigkeit der Unterbringung von Strafgefangenen hängt stets von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände ab. Eine maßgebliche Bedeutung kommt der Größe und Belegung des Raumes, der Lage und Größe des Fensters, der Ausstattung und Belüftung des Haftraums, den hygienischen und klimatischen Verhältnissen, der Heizung, der Luftmenge und der Beleuchtung, dem Zugang zum Freistundenhof oder zu Frischluft und Tageslicht zu. Längere Aufschlusszeiten sind geeignet, mögliche Defizite zu kompensieren.

2. Auch wenn die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze neben dem Erfordernis einer Sichtverbindung nach außen auch vorsehen, dass die Fenster zulassen, dass die Gefangenen unter normalen Bedingungen bei Tageslicht lesen und arbeiten können, führt eine Feinvergitterung nicht ohne weiteres dazu, eine Unterbringung als menschenunwürdig zu qualifizieren. Auch insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.

 

 

Bewährung I: Zweimal „besondere Umstände“, oder: Bewährungsgrund- und Reststrafenaussetzung

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Heute dann ein Tag mit Bewährungsentscheidungen.

Zunächst hier dann zwei Entscheidungen zu „besonderen Umständen“, und zwar einmal zu § 56 Abs. 2 StGB – also „Bewährungsgrundaussetzung“ – und einmal zu § 57 Abs. 2 StGB – also Reststrafenaussetzung. Und zwar:

1. Die Beurteilung, ob besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, die für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr erforderlich sind, hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vorzunehmen.

2. Besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, was sich auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben kann.

3. Die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, wenn das Tatgericht trotz Vorliegens mehrerer gewichtiger Milderungsgründe diesen ohne Begründung von vornherein jede Bedeutung für die nach § 56 Abs. 2 StGB zutreffende Entscheidung abspricht und auch die gebotene Gesamtbetrachtung unterlässt.

4. Will das Tatgericht die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung darauf stützen, dass die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Sinne des § 56 Abs. 3 StGB gebietet, ist auch hierfür eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich.

Ergibt das kriminalprognostische Gutachten, dass die positive Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges erheblich über das Maß hinausgeht, was zur Erstellung einer günstigen Prognose erforderlich ist, kann – insbesondere bei Zusammentreffen mit weiteren Milderungsgründen – auch das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu bejahen sein.

OWi I: Wegen Wiedereinsetzung keine Verjährung, oder: Erfolg bei der Einspruchverwerfung

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Und heute dann mal wieder ein OWi-Tag. Aber: Nichts bahnbrechend Neues, sondern weitgehend „alter Wein in neuen Schläuchen“.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23 -, der zur Verfolgungsverjährung nach Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist Stellung nimmt und sich auch noch einmal zu den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG äußert.

Zur Wiedereinsetzung bzw. zur Frage des Eintritts der Verfolgungsverjährung führt das bayObLg aus:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws [B] 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws [B] 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss [B] 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Göhler/Gürtler/Thoma OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; LK-StGB/Schmidt 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeitpunkt beginnen, in dem das rechtskräftig verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungsverjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws [B] 304/21 = BeckRS 2021, 45818).“

Aber dann zur Einspruchsveewerfung:

„3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Corona-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“