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Erwerb eines neuen Fahrzeugs nach wirtschaftlichem Totalschaden, oder: Ersatzfähige Ausfallzeit

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Und an zweiter Stelle der Bericherstattung heute dann das LG Saarbrücken, Urt. v. 23.12.2020 – 13 S 82/20.

Gestritten wurde um restliche Nutzungsausfallentschädigung nach einem Verkehrsunfall. Ausweislich eines Schadensgutachtens lag an dem durch den Unfall beschädigten Ford Grand C-Max der Klägerin ein wirtschaftlicher Totalschaden vor (Bruttoreparaturkosten 8.594,51 EUR, Wiederbeschaffungswert 6.150 EUR, Restwert 2.606 EUR). Die Wiederbeschaffungsdauer schätzte der Sachverständige auf 8 Tage. Unter dem 14.09.2019 bestellte die Klägerin einen neuen Dacia Sandero Stepway zu einem Preis von 13.730 EUR mit einer voraussichtlichen Lieferzeit von ca. 3 Wochen. Nachdem es bei der Lieferung zu Verzögerungen kam, entschloss sich die Klägerin ein von der Verkäuferin angebotenes Ersatzfahrzeug gleichen Fahrzeugtyps zu erwerben, welches nach weiteren Verzögerungen am 26.11.2019 auf sie zugelassen werden konnte. Die Beklagte zahlte u.a. ausgehend von einem unstreitigen Tagessatz von 50 EUR an die Klägerin eine Nutzungsausfallentschädigung von 950 EUR (19 Tage).

Mit der Klage hat die Klägerin u.a. restliche Nutzungsausfallentschädigung von 3.000 EUR  begehrt. Das Amtsgericht  ist von einer fiktiven Abrechnung ausgegangen und hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Die hatte keinen Erfolg:

„1. Dem Ansatz des Amtsgerichts, es handele sich vorliegend um eine fiktive Schadensabrechnung, weshalb auf die objektiv erforderliche Nutzungsausfalldauer abzustellen sei, vermag die Kammer allerdings nicht zu folgen.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt auch der vorübergehende Verlust der Gebrauchsmöglichkeit eines Kraftfahrzeugs einen ersatzfähigen Schaden im Sinne der §§ 249 ff BGB dar, wenn der Geschädigte sich für die Zeit des Nutzungsausfalls keinen Ersatzwagen beschafft hat (st. Rspr., vgl. BGHZ 40, 345, 347 ff; 56, 214, 215; BGH, Urteile vom 10.06.2008 – VI ZR 248/07, NJW-RR 2008, 1198; vom 10.03.2009 – VI ZR 211/08, NJW 2009, 1663 und vom 14.04.2010 – VIII ZR 145/09, VersR 2010, 1463, jeweils m.w.N.). Dieser Nutzungsausfall setzt neben dem Verlust der Gebrauchsmöglichkeit voraus, dass der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis zur Nutzung des Fahrzeugs willens und fähig gewesen wäre (Nutzungswille und hypothetische Nutzungsmöglichkeit; st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18.12.2007 – VI ZR 62/07, VersR 2008, 370, und vom 14.04.2010 aaO, jeweils m.w.N.), und besteht für die erforderliche Ausfallzeit, d.h. für die notwendige Reparatur- bzw. Wiederbeschaffungsdauer zuzüglich der Zeit für die Schadensfeststellung und gegebenenfalls einer angemessenen Überlegungszeit (vgl. BGH, Urteil vom 05.02.2013 – VI ZR 363/11, VersR 2013, 471).

b) Einigkeit besteht, dass diese erforderliche Ausfallzeit grundsätzlich entscheidend durch die Art der vom Geschädigten gewählten Schadensabrechnung beeinflusst wird. Rechnet der Geschädigte seinen Schaden fiktiv ab, kommt es maßgeblich auf die objektiv erforderliche Dauer an (vgl. BGH, Urteil vom 15.07.2003 – VI ZR 361/02, NJW 2003, 3480 f.; Kammer, Urteil vom 15.05.2015 – 13 S 12/15, NZV 2015, 547 m.w.N.). Rechnet der Unfallgeschädigte seinen Schaden demgegenüber konkret ab, ist Nutzungsausfall grundsätzlich für die gesamte erforderliche Ausfallzeit zu leisten, d.h. für die im konkreten Fall notwendige Wiederbeschaffungsdauer zuzüglich der Zeit für die Schadensfeststellung und ggfls. einer angemessenen Überlegungszeit. Auch konkret eingetretene Verzögerungen wie sie etwa durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens entstanden sind, muss der Schädiger jedenfalls im üblichen zeitlichen Rahmen hinnehmen (vgl. Kammer, Urteil vom 23.09.2016 – 13 S 53/16, NJW-RR 2017, 355 für Mietwagenkosten). Denn er trägt im Rahmen des Üblichen grundsätzlich das Risiko, dass sich die Wiederbeschaffung verzögert. Dies gilt regelmäßig auch bei einer zunächst fehlgeschlagenen Ersatzbeschaffung („Prognoserisiko“, vgl. Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 249 BGB Rn. 76 m.w.N.). Eine Grenze besteht jedoch, wenn und soweit sich der Nutzungsausfall verlängert, weil der Geschädigte seiner Schadensminderungspflicht gem. § 254 Abs. 2 BGB nicht nachkommt (vgl. Kammer, Urteil vom 10.11.2017 – 13 S 97/17, NJW-RR 2018, 27 m.w.N.).

c) Entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung ist vorliegend von einer konkreten Schadensabrechnung auszugehen. Unstreitig hat die Klägerin ein Ersatzfahrzeug zum Preis von 13.730,01 € (brutto) erworben und dies der Beklagten auch mitgeteilt. Weder dass die Klägerin ihrer Schadensabrechnung zunächst das Gutachten des vorgerichtlich tätigen Sachverständigen … zugrunde gelegt hatte – ein Übergang von fiktiver zu konkreter Schadensabrechnung im Falle einer kostenintensiveren konkreten Ersatzbeschaffung ist jederzeit möglich (vgl. BGH, Urteil vom 02. Oktober 2018 – VI ZR 40/18, NJW-RR 2019, 144) – noch, dass sie ein Neufahrzeug einer anderen Fahrzeugmarke statt eines Gebrauchtwagens der gleichen Marke erworben hat, ändert etwas an ihrer zum Ausdruck gebrachten Entscheidung sowie der Möglichkeit, den Schaden konkret abzurechnen.

2. a) Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Fahrzeugschäden neben der Reparatur der beschädigten Sache nur die Anschaffung einer „gleichwertigen“ oder „gleichartigen“, also vergleichbaren und verfügbaren Ersatzsache als Möglichkeit der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes i.S.d. § 249 Abs. 1 BGB in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 02. März 2010 – VI ZR 144/09, NJW 2010, 212 m.w.N.), ist damit nicht gemeint, dass dem Eigentümer eines unfallbeschädigten Gebrauchtwagens die konkrete Ersatzbeschaffung durch Ankauf eines Neuwagens einer anderen Fahrzeugmarke verwehrt ist. „Vergleichbar“ ist im Sinne gleicher Funktionserfüllung, also nicht im engen Sinne eines Fahrzeugs gleichen Alters oder Zustands zu verstehen, weshalb auch die Wiederbeschaffung durch ein Neufahrzeug oder durch Ersatz eines anderen Fahrzeugtyps erfolgen kann (vgl. Freymann, „Fiktive Schadensabrechnung“, Zfs 1/19, S. 4 ff.; Kammerurteil vom 21. Mai 2010 – 13 S 5/10, juris, vgl. auch BGH, Urteil vom 01. März 2005 – VI ZR 91/04 „TDI-Trendline“, Kauf eines teureren Ersatzfahrzeugs anderen Typs).

b) Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, welche Art der Ersatzbeschaffung aus wirtschaftlicher Sicht zur Herstellung des früheren Zustands erforderlich war und deshalb als ersatzfähig i.S.v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB anzusehen ist. Übersteigen, wie vorliegend, die Kosten der konkreten Ersatzbeschaffung die in dem Sachverständigengutachten ermittelten Kosten, so ist der Schadensersatzanspruch auch bei konkreter Schadensabrechnung auf den sich aus dem Sachverständigengutachten ergebenden, dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechenden (Brutto-)wert der Wiederherstellung begrenzt. Für den Fall, dass der Geschädigte neben dem Betrag sachverständig ermittelter Reparaturkosten die bei einer tatsächlich vorgenommenen, kostenintensiveren Ersatzbeschaffung angefallene Umsatzsteuer in der Höhe ersetzt verlangt, wie sie bei Durchführung der kostengünstigeren Wiederherstellung im Wege der Reparatur angefallen wäre, hat der Bundesgerichtshof insoweit bereits festgestellt, dass keine unzulässige Kombination von konkreter und fiktiver Abrechnung, sondern eine konkrete Schadensabrechnung auf der Grundlage einer Ersatzbeschaffung vorliegt (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – VI ZR 363/11, NJW 2013, 1151; Kammer Urteil vom 03. Juli 2020 – 13 S 45/20,NJW-RR 2020, 1423 mwN). Nichts Anderes kann nach Auffassung der Kammer gelten, wenn beim Vorliegen eines wirtschaftlichen Totalschadens eines Gebrauchtwagens der Geschädigte statt eines anderen Gebrauchtfahrzeugs, das in etwa Alter, Laufleistung und Fahrzeugklasse des beschädigten Fahrzeugs entspricht, ein teureres Neufahrzeug erwirbt, sich bei der Schadensabrechnung aber auf den Brutto-Wiederbeschaffungsaufwand laut Gutachten beschränkt.

c) Soweit die erstinstanzliche Entscheidung auf das Urteil der Kammer vom 15. Mai 2015 – 13 S 12/15, NJW-RR 2015, 1437 hinweist, kann dieser weder entnommen werden, dass es sich im Falle einer Ersatzbeschaffung in Form eines Neufahrzeugs anderen Fahrzeugtyps zwangsläufig um eine fiktive Schadensabrechnung handeln muss, noch, dass die Geltendmachung konkreter Verzögerungen im Rahmen der Ersatzbeschaffung zu einer unzulässigen Kombination von fiktiver und konkreter Abrechnung führt.

3. Dies bedeutet für die hier streitgegenständliche Nutzungsausfallentschädigung, dass zwar von einer konkreten Schadensabrechnung auszugehen ist, die ersatzfähige konkrete Nutzungsausfalldauer jedoch begrenzt ist auf die objektiv erforderliche Zeitspanne, welche für die Beschaffung eines nach dem Gutachten als wirtschaftlich vergleichbar anzusehenden Ersatzfahrzeugs erforderlich ist. Denn im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass der Geschädigte unter mehreren möglichen Wegen des Schadensausgleichs im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg zu wählen hat. Das gilt nicht nur für die eigentlichen Reparatur- oder Wiederbeschaffungskosten, sondern gleichermaßen für die Mietwagenkosten und ebenso für die Nutzungsausfallentschädigung. Kauft der Geschädigte also in frei gewählter Abkehr vom Wirtschaftlichkeitsgebot einen höherwertigen Neuwagen, obwohl er nach den Grundsätzen des Schadensrechts nur Anspruch auf die Reparatur oder die Kosten eines Gebrauchtwagens hat, so kann er Nutzungsausfall auch nur bis zu dem Zeitpunkt beanspruchen, der für eine Unfallreparatur oder die Ersatzbeschaffung eines gleichwertigen Gebrauchtwagens angefallen wäre (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 22. Juli 2019 – 5 U 696/19, Rn. 26, juris mwN). Vorliegend hat sich die Klägerin ein Neufahrzeug bestellt, dessen Lieferzeit von vorneherein bereits auf drei Wochen angelegt war. Diese gegenüber der Ersatzbeschaffung eines vergleichbaren Gebrauchtwagens verlängerte Wartezeit kann nicht zu Lasten des Schädigers gehen, weil sie auf der freien Disposition der Geschädigten beruht (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2007 – VI ZR 62/07, NJW 2008, 915). Gleiches muss dann aber auch für Verzögerungen gelten, die sich an diese längere Wartezeit anschließen und zwar unabhängig davon, ob – wie vorliegend nicht – der Klägerin diesbezüglich ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht i.S.v. § 254 BGB vorzuwerfen ist.

4. Damit beläuft sich der Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung der Klägerin auf die erforderliche Ausfallzeit, d.h. die notwendige Reparatur- bzw. Wiederbeschaffungsdauer zuzüglich der Zeit für die Schadensfeststellung und gegebenenfalls einer angemessenen Überlegungszeit. Angesichts einer Begutachtungszeit von 4 Tagen (Erhalt des Gutachtens am 13.09.2019), einer gutachterlich ermittelten Wiederbeschaffungsdauer von 8 Kalendertagen sowie einer angemessenen Überlegungszeit ist die seitens der Beklagten bereits erstattete Nutzungsausfalldauer von 19 Tagen jedenfalls nicht zu kurz bemessen. Ein über die bereits geleistete Zahlung von 950 € hinausgehender Zahlungsanspruch besteht daher nicht, so dass die angefochtene Entscheidung im Ergebnis zutreffend ist.“

Nach dem Unfall Pflegefall, oder: Anrechenbarkeit von Leistungen der Pflegekasse?

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Schon etwas älter ist das OLG Köln, Urt. v. 20.05.2020 – 5 U 137/19 -, das ich dann heute im „Kessel Buntes“ aber endlich vorstellen möchte.

In der Sache geht es um die Frage, ob im Rahmen der Unfallschadenregulierung Leistungen der Sozialversicherungsträger auf den persönlichen Schaden des Verletzten – hier geht es um Pflegegeld – anrechenbar sind.

Der Kläger ist bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, als sein Vater schuldhaft die Gewalt über das bei dem Beklagten haftpflichtversicherte Fahrzeug verlor, welches mit einem LKW kollidierte. Bei dem Unfallereignis zog sich der Kläger u.a. ein schweres Schädelhirntrauma zu. Er leidet seitdem unter einer spastischen Tetraparese, epileptischen Anfällen und ausgeprägten neuropsychologischen Defiziten. Er ist in seiner Entwicklung verzögert und bedarf vielfältiger Hilfestellung im Alltag. Der Kläger ist über die freiwillige gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung seines Vaters bei einer Pflegekasse versichert. Die Kasse zahlt an ihn ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 728 EUR (Pflegegrad 4). Um die Anrechnung dieser Zahlungen wird gestritten.

Das OLG hat – mit dem LG – die Anrechenbarkeit verneint:

„Zu Recht hat das Landgericht festgestellt, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen.

1. Die auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses gemäß § 256 Abs. 1 ZPO gerichtete Klage ist zulässig. Ihr fehlt trotz der Möglichkeit des Klägers, den Beklagten auf Zahlung der von ihm in Abzug gebrachten Beträge gerichtlich in Anspruch zu nehmen, nicht das Feststellungsinteresse.

Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, lässt eine mögliche Leistungsklage das rechtliche Interesse an der Feststellung nicht entfallen, wenn die Durchführung einer Feststellungsklage unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der Streitpunkte führt. Davon ist vorliegend auszugehen. Die grundsätzliche Einstandspflicht der Beklagten für die unfallbedingten materiellen Schäden des Klägers ist zwischen den Parteien unstreitig. Streit besteht lediglich darüber, ob der Beklagte bei der Berechnung der von ihm zu erstattenden Pflege- und Betreuungskosten die von der Pflegekasse geleisteten Zahlungen in Abzug bringen darf. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte im Falle seines Unterliegens nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens weiter einen Abzug vornehmen wird und die zu Unrecht einbehaltenen Beträge nicht an den Kläger auszahlt und deswegen von dem Kläger auf Leistung gerichtlich in Anspruch genommen werden muss, bestehen nicht. Der Beklagte ist ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Bei Klagen gegen Versicherungsunternehmen ist davon auszugehen, dass sie sich in der Regel einem Feststellungsurteil beugen werden und es nicht eines auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitels gegen sie bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2004 – VI ZR 439/02 -, juris Rn. 6; Urteil vom 25.10.2004 – II ZR 413/02 -, juris Rn. 1).

2. Die Feststellungsklage ist auch begründet.

Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Erstattung von unfallbedingt entstandenen Pflege- und Betreuungskosten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVersG. Seine Ansprüche waren und sind auch insoweit gegeben, als er durch die Pflegekasse kongruente Leistungen erhalten hat und in Zukunft erhalten wird. Der Kläger verliert seine Anspruchsberechtigung nicht durch Zahlungen der Pflegekasse. Ein Verlust seiner Aktivlegitimation durch Übergang seiner Forderungen auf die Pflegekasse als Sozialversicherungsträger gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X ist aufgrund des Familienprivilegs aus § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ausgeschlossen.

a) Gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X geht ein Schadensersatzanspruch auf den Sozialversicherungsträger über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen. Die Zession soll bewirken, dass der Sozialversicherungsträger, durch dessen Leistungen der Geschädigte schadensfrei gestellt wird, Rückgriff nehmen kann. Der Schädiger soll durch die Versicherungsleistungen nicht unverdient entlastet werden, zugleich soll eine doppelte Entschädigung des Geschädigten vermieden werden (BGH, Urteil vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16 -, juris Rn. 12 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung).

b) Sinn und Zweck des in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X geregelten sogenannten „Familienprivilegs“ ist es hingegen, zu verhindern, dass der Geschädigte, der Sozialleistungen bezieht, durch einen Rückgriff des Sozialversicherungsträgers gegen den in seiner häuslichen Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen selbst in Mitleidenschaft gezogen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass die in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebenden Familienangehörigen meist eine gewisse wirtschaftliche Einheit bilden und dass bei der Durchführung des Rückgriffs der Geschädigte im Ergebnis das, was er mit der einen Hand vom Sozialversicherungsträger erhalten hat, mit der anderen wieder herausgeben müsste. Zugleich soll im Interesse der Erhaltung des häuslichen Familienfriedens verhindert werden, dass Streitigkeiten über die Verantwortung für Schadenszufügungen gegen Familienangehörige ausgetragen werden (BGH aaO, Rn. 14).

c) Nach gefestigter und mit Urteil vom 17.10.2017 erneut bestätigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt der Forderungsausschluss nach § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X nicht nur für den gegen den Familienangehörigen gerichteten Schadensersatzanspruch, sondern auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer (BGH, Urteil vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16 -, juris Rn. 15, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung). Zwar erscheine, so der Bundesgerichtshof, bei einer Inanspruchnahme des Haftpflichtversicherers weder der Familienfrieden gefährdet noch die Familie als Wirtschaftseinheit unmittelbar belastet. Einem getrennten, vom Haftpflichtanspruch losgelösten Übergang des Direktanspruchs auf den Sozialversicherungsträger stehe aber die Rechtsnatur des Direktanspruchs als akzessorisches Recht entgegen (BGH aaO, Rn. 15).

d) Nimmt der Geschädigte den in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebenden Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer in Anspruch, so findet eine Vorteilsausgleichung im Hinblick auf kongruente Leistungen des Sozialversicherungsträgers nicht statt. Leistungen eines Sozialversicherungsträgers, die gerade im Hinblick auf eine besondere Situation des Geschädigten erbracht werden, in die er durch das schädigende Ereignis geraten ist, sollen nach ihrem Sinn und Zweck nicht dem Schädiger, sondern dem Geschädigten zugutekommen.

e) Dass der Geschädigte kongruente Leistungen sowohl von dem Sozialversicherungsträger als auch von dem angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer erhält, er also doppelt entschädigt wird, ist Folge und Konsequenz des Familienprivilegs, wie es in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ausgestaltet ist (BGH aaO, Rn. 17 f, m. W. N.).

f) Aus der Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG ergibt sich im vorliegenden Fall nichts anderes. Nach dieser durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsgesetzes vom 23.11.2007 (Bundesgesetzblatt I 2007, 2631 ff.) neu gefassten Vorschrift kann der sich nach § 86 Abs. 1 VVG vollziehende Forderungsübergang auf den Versicherer nicht geltend gemacht werden, wenn sich der Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen eine Person richtet, mit der er bei Eintritt des Schadens in häuslicher Gemeinschaft lebt, es sei denn, diese Person hat den Schaden vorsätzlich verursacht. § 86 Abs. 3 VVG enthält damit wie § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ein Familienprivileg. Anders als es in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X geregelt ist, geht in den Anwendungsfällen des § 86 VVG die Forderung des Versicherungsnehmers jedoch auf den Versicherer über, der den Übergang, außer in Fällen der vorsätzlichen Schadensverursachung, nicht geltend machen kann. Sinn und Zweck des Familienprivilegs werden nach wie vor dadurch entsprochen, dass zum Schutz des Geschädigten der Versicherer bei dem Schädiger, der mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, keinen Rückgriff nehmen kann.

Diese für das Versicherungsvertragsgesetz erfolgte Änderung von einem Ausschluss des Forderungsübergangs hin zu einem Ausschluss des Regresses hat der Gesetzgeber bislang nicht auf § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X erstreckt (siehe aber den Regierungsentwurf vom 13.12.2019 „7. SGB IV-ÄndG“, veröffentlicht unter Internetadresse 1). Der Bundesgerichtshof hat in seiner wegweisenden Entscheidung vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16 – ausdrücklich klargestellt, dass eine Auslegung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X entgegen seines Wortlautes, wonach ein solcher Übergang ausdrücklich „ausgeschlossen“ ist, nicht möglich sei und dass sich die Gerichte mit der Annahme eines Forderungsübergangs im Anwendungsbereich des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X entgegen dem Wortlaut der Regelung und entgegen den unterschiedlichen gesetzgeberischen Entwicklungen im Versicherungsvertragsrechts einerseits und dem Sozialversicherungsrecht andererseits die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten würden. Dieser Auffassung schließt sich der Berufungssenat an.

g) Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, die unterschiedlichen Ausgestaltungen des Familienprivilegs in § 86 Abs. 3 VVG und § 116 Abs. 6 SGB X stellten eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von privat versicherten und gesetzlich versicherten Personen dar, hat auch der Senat Zweifel, ob eine unterschiedliche Ausgestaltung des Familienprivilegs für gesetzlich und privat Versicherte, die im Ergebnis dazu führt, dass gesetzlich Pflegeversicherte eine doppelte Entschädigung erhalten, sachlich gerechtfertigt ist.

Die Frage der Verfassungsgemäßheit von § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X muss jedoch im vorliegenden Rechtsstreit offenbleiben. Aufgrund des klaren Wortlautes der Vorschrift ist der Senat an einer vom Beklagten geforderten „verfassungskonformen Auslegung“ gehindert. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Das Argument des Beklagten, schon einmal habe das Bundesverfassungsgericht im Interesse der Einheitlichkeit des Familienprivilegs eine nicht dem Wortlaut entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 116 SGB X vorgenommen, verfängt nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12.10.2010 (BVerfGE 127, 263 ff.) die Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass bei getrennt lebenden Eltern auch derjenige Elternteil die Tatbestandsvoraussetzungen eines Lebens in häuslicher Gemeinschaft erfülle, der mit seinem Kind zwar nicht ständig zusammenlebe, aber seine Elternverantwortung in dem ihm rechtlich möglichen Maße tatsächlich nachkomme und regelmäßig längeren Umgang mit seinem Kind pflege, so dass das Kind zeitweise auch in seinen Haushalt integriert sei und damit bei ihm ein Zuhause habe. Eine Auslegung der Vorschrift entgegen ihres Wortlautes hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgenommen. Der Begriff der häuslichen Gemeinschaft ist im Hinblick auf getrennt lebende Eltern, die zeitweise aber in unterschiedlichen Zeitumfang mit dem gemeinsamen Kind zusammenleben auslegungsfähig. Hingegen ist die Formulierung in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X „Ein Übergang nach Abs. 1 ist … ausgeschlossen“ der Auslegung nicht fähig. Sie kann insbesondere nicht dahingehend ausgelegt werden, dass ein Übergang zwar stattfinden, gegenüber dem Familienangehörigen aber nicht geltend gemacht werden könne.

h) Schließlich kommt auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht n Betracht.

Der Beklagte vertritt die Auffassung, dass durch die Gestaltung von § 86 Abs. 3 VVG einerseits und § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X andererseits privatversicherte Personen im Vergleich zu gesetzlich versicherten Personen benachteiligt seien. Dies stelle eine sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. Für die Zulässigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht wäre indes Voraussetzung, dass im vorliegenden Verfahren Ansprüche der benachteiligten Personengruppe strittig wären. Das ist hier nicht der Fall. Es steht die Verfassungsgemäßheit einer Vorschrift in Frage, die den Kläger begünstigt. Solange der Gesetzgeber einer Personengruppe Begünstigung gewährt, haben die Angehörigen dieser Gruppe einen gesetzlichen Anspruch, den sie nicht dadurch verlieren könnten, dass einer anderen Gruppe die Vergünstigungen nicht gewährt worden sind (BVerfG, Beschluss vom 18.07.1984 – 1 BvL 3/81, abgedruckt in NVwZ 1985, 481). Mit anderen Worten: Da der Kläger gesetzlich versichert ist und er durch die auf ihn anwendbare Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X begünstigt wird, hingegen privat Versicherte, die möglicherweise durch die Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden, an dem Verfahren nicht beteiligt sind, ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig.“

Verkehrsunfall auf einem BAB-Ausfädelungsstreifen, oder: Wer dort schneller als der übrige Verkehr fährt

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Und als zweite zivilrechtliche Entscheidung dann jetzt das LG Saarbrücken, Urt. v. 22.1.2021 – 13 S 110/20, das sich zur Mithaftung eines Verkehrsteilnehmers nach einem Verkehrunfall äußert, wenn der Verkehrsteilnehmer entgegen § 7a Abs. 3 Satz 1 StVO auf dem Ausfädelungsstreifen einer BAB schneller als der Verkehr auf dem durchgehenden Fahrstreifen fährt.

Folgender Sachverhalt: Der Kläger macht Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 24.4.2018 auf einer BAB in Höhe einer Ausfahrt ereignet hat. Dabei kollidierte der von dem Zeugen pp. gefahrene LKW (pp.) mit dem vom Zeugen pp. gefahrenen, in Belgien zugelassenen Kleinlaster, einem Mercedes Benz Sprinter (pp.). Hierdurch kam es zu einem Schaden am klägerischen Lkw in Höhe der geltend gemachten Forderung. Der Kläger behauptet, der Zeuge pp. sei auf der infolge einer Baustelle auf die rechte Fahrspur verengten Fahrbahn unterwegs gewesen, als ihn das Beklagtenfahrzeug auf dem Standstreifen überholt und gestreift habe. Die Beklagten sind dem entgegengetreten und haben behauptet, der Zeuge pp. habe an der Ausfahrt abbiegen wollen und habe bereits die Ausfädelungsspur befahren, als der Lkw des Klägers auf diese gewechselt und gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen sei.

Das AG hat der Klage nach Beweisaufnahme in hälftiger Höhe stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Eine Haftungsteilung sei veranlasst, weil ein unfallursächliches Verschulden einer der Parteien nicht nachgewiesen sei.

Dagegen die Berufung der Kläger, die teilweise Erfolg hatte:

„1. Zu Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerseite als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und § 6 Abs. 1 Gesetz über die Haftpflichtversicherung für ausländische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger (AuslPflVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und nicht festgestellt werden kann, dass der Unfall für einen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte.

2. Das Erstgericht ist ferner zutreffend davon ausgegangen, dass im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander die Ersatzverpflichtung davon abhängt, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 Abs. 1, 2 StVG).

3. Im Rahmen der danach gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile hat das Erstgericht den Unfallhergang als unaufklärbar und ein Verschulden einer der beteiligten Verkehrsteilnehmer als nicht nachweisbar angesehen. Dies ist nur teilweise zutreffend.

4. Allerdings hat das Erstgericht mit Recht angenommen, dass weder die Unfalldarstellung der Kläger- noch der Beklagtenseite für erwiesen erachtet werden können.

a) In tatsächlicher Hinsicht ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren, rechtlichen und tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (vgl. BGHZ 164, 330, 332 mwN.).

b) Konkrete Anhaltspunkte, die solche Zweifel begründen und eine erneute Feststellung gebieten könnten, liegen nicht vor. In seiner Beweiswürdigung hat sich das Erstgericht vielmehr entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und dem Beweisergebnis umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungsgesetze zu verstoßen. Insbesondere begegnet es keine Bedenken, dass das Erstgericht die Unfalldarstellung des Zeugen pp. nicht als zutreffend angesehen hat. Anders als die Berufung meint, hat der gerichtliche Sachverständige Dipl. Phys. pp. in seinem Gutachten nachvollziehbar und von den Parteien nicht angegriffen ausgeführt, dass die Radandrehpuren am Beklagtenfahrzeug auf eine Fahrlinie des Lkw im Kollisionsmoment nach rechts schließen lassen, weshalb der Lkw sich an der Schadensörtlichkeit nach rechts bewegt und gegen das Beklagtenfahrzeug geraten ist. Soweit die Berufung meint, dies sei Spekulation, weil ebenso denkbar sei, dass der Sprinter nach links gegen den geradeaus fahrenden Lkw gefahren sein könnte, verkennt dies, dass nach der uneingeschränkt nachvollziehbaren Einschätzung des Sachverständigen die Radandrehspuren am Beklagtenfahrzeug voraussetzen, dass der Reifen des Lkw nach rechts aus dem Radkasten gedreht gewesen sein musste, um einen solchen Abrieb auf dem Beklagtenfahrzeug zu hinterlassen.

c) Dies widerspricht in dem zentralen Punkt der Aussage des Zeugen pp., der eine Bewegung nach rechts im Kollisionsmoment gerade nicht schilderte. Vor diesem Hintergrund ist es unbedenklich, dass die Erstrichterin der Angabe des Zeugen insgesamt, folglich auch der zum Unfallort – nach seiner Darstellung vor dem Ausfädelungsstreifen im Bereich der Standspur – ebenso wenig Glauben geschenkt hat, wie es nicht auszuschließen vermochte, dass der Zeuge pp. auf die Standspur oder den Ausfädelungsstreifen gewechselt ist, ohne die dabei erforderliche Sorgfalt zu beachten. Umgekehrt hat die Erstrichterin allerdings auch zu Recht ein Hinüberfahren auf die Stand- bzw. Ausfädelungsspur als nicht erwiesen angesehen, weil insoweit auch – wie die Berufung mit Recht annimmt – denkbar ist, dass der Lkw zwar nach rechts gelenkt wurde, er die Fahrspur dabei aber nicht verlassen hat.

d) Soweit die Erstrichterin sich auch nicht von der Richtigkeit der Darstellung des Zeugen pp. – der Beifahrer und Zeuge pp. hatte geschlafen und konnte keine Angaben machen – zu überzeugen vermochte, ist dies ebenfalls nachvollziehbar und wird von den Berufungsangriffen noch bestätigt. Allerdings lässt sich auch aus der Angabe des Zeugen pp., er erinnere nicht mehr, ob der Unfall „ein wenig vor dem Abzweig“ eingetreten sei, nicht, jedenfalls nicht zwingend schließen, dass er die Möglichkeit einräume, er sei noch auf der Standspur gewesen. Ebenso gut ist denkbar, dass als Abzweig die eigentliche Abfahrt gemeint ist, die am Ende des Ausfädelungsstreifens abknickt. Damit bleibt offen, ob der Zeuge pp. überhaupt auf dem Standstreifen gefahren ist. Soweit schließlich die Berufung meint, die Beweisaufnahme nach § 363 ZPO vor dem belgischen Amtsgericht sei „irregulär“, vielmehr sei der Zeuge nach entsprechender Ladung vor dem deutschen Gericht unentschuldigt nicht erschienen, verkennt sie, dass nur der der deutschen Gerichtsbarkeit Unterliegende der (deutschen) Zeugnispflicht unterliegt (statt aller: Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 40. Aufl., vor § 373 Rn. 10), mithin ausländische Personen, wie der Zeuge pp., hiervon ausgenommen sind.

5. Verkannt hat das Erstgericht, dass der Zeuge pp. nach dem insoweit unstreitigen Vorbringen sich zunächst bei Beginn der Baustelle, an der die Verkehrsführung auf einen Fahrstreifen verengt war, hinter dem Fahrzeug des Klägers sowie im Zeitpunkt der Kollision gleichauf in Höhe des Lkw befand. Zudem steht ausweislich der Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen fest, dass das Beklagtenfahrzeug im Kollisionszeitpunkt schneller als der Lkw des Klägers gefahren sein muss. Daraus folgt, dass der Zeuge pp. auf dem Standstreifen oder auf der Ausfädelungsspur an dem Klägerfahrzeug vorbeigefahren und damit in jedem Fall einen Verkehrsverstoß begangen hat. Denn entweder ist er unter Verstoß gegen das Fahrbahnbenutzungsverbot des § 2 Abs. 1 S. 2 StVO auf der Standspur rechts am klägerischen Lkw vorbeigefahren – da die Standspur als Seitenstreifen gilt, der nicht Teil der Fahrbahn ist, liegt kein Überholen vor (vgl. etwa Freymann in Geigel aaO § 27 Rn. 51, 55, 156 jew. mwN.) – oder er ist entgegen § 7a Abs. 3 Satz 1 StVO auf dem Ausfädelungsstreifen schneller als auf dem durchgehenden Fahrstreifen gefahren. Dieser Verkehrsverstoß ist auch unfallursächlich. Denn ohne eine höhere Geschwindigkeit auf der Standspur oder dem Einfädelungsstreifen wäre das Beklagtenfahrzeug hinter dem Lkw gefahren, so dass ein Ausweichen des Lkw nach rechts – sei es innerhalb der eigenen Fahrspur, sei es bei einem Hinüberfahren auf die danebenliegende Spur – zu keiner Kollision mit dem dahinterfahrenden Beklagtenfahrzeug geführt hätte.

6. Dies hat Folgen für die nach § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotene Haftungsabwägung, weil einem unfallursächlichen Verkehrsverstoß auf Beklagtenseite allein die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs gegenübersteht. Diese tritt angesichts der im Übrigen ungeklärten Umstände nicht zurück und wird von der Kammer mit 25% bewertet. Vor diesem Hintergrund erhöht sich der Haftungsanteil der Beklagten auf 1.416,09 Euro mit der Folge, dass die Beklagte unter Berücksichtigung der erstinstanzlichen Verurteilung weitere 472,03 Euro an den Kläger zu entrichten hat.“

Fußgänger versus Pkw, oder: „alkoholisierte Fußgänger an Karneval nicht gänzlich unwahrscheinlich“

ennommen wikimedia Commons – Author NobbiP

Karneval fällt ja in diesem Jahr weitgehend aus. Ich finde es übrigens wohltuend, im öffentlichen rechtlichen Fernsehen – aber auch bei den Privaten – nicht wochenlang mit irgendwelchen „Karnevalssitzungen“ überschwemmt zu werden. Aber das werden „Karnavalsfans“ sicherlich anders sehen.

Aber ganz ohne Karneval geht dann doch nicht. Und da habe ich dann heute im „Kessel Buntes“ den OLG Köln, Beschl. v. 06.03.2020 – 11 U 274/19 -, der schon etwas länger in meinem Blogordner hängt. Heute passt er dann. Es es ist ein sog. Hinweisbeschluss des OLG. Geklagt hatte ein „Karnevalsjeck“. Der war in der Nacht nach Rosenmontag 2018 zu Fuß auf dem Heimweg nach Hause. Er trug (immer noch) ein dunkelbraunes (Ganzkörper)-Bärenkostüm. Sein Weg führte ihn entlang einer Bundesstraße, an deren Seite sich ein Fuß- und Radweg befindet. Auf der unbeleuchteten Strecke war eine Geschwindigkeit von 70 km/h zulässig. Der mit 1,47 Promille alkoholisierte Kläger geriet auf die Fahrbahn der Bundesstraße. Dort wurde er auf der linken Hälfte der Fahrspur von einem Pkw erfasst und dabei schwer verletzt. Das LG  hat den Kläger zu 75% und den beklagten Fahrer und Haftpflichtversicherung des Pkw zu 25% für die Schäden haften lassen.

Dagegen die Berufung der Beklagten, die nach Auffassung des OLG Köln wegen der Haftungsquote keinen Erfolg haben würde:

„Auf dieser tatsächlichen Grundlage hat das Landgericht zutreffend eine gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten in Höhe von ¼ angenommen.

Bei einem schuldhaften Fehlverhalten des Fußgängers ist nach §§ 9 StVG, 254 BGB eine Quotenbildung zwischen der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung aus § 7 Abs. 1 StVG und der Verschuldenshaftung des Fußgängers aus § 823 Abs. 1 BGB vorzunehmen. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen – wie auch im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG – feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen und für die Entstehung des Schadens ursächlich geworden sein; nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben außer Betracht zu bleiben (BGH, NJW 1995, 1029, 1030). Die Gefährdungshaftung kann dabei ganz zurücktreten, wenn die im Vordergrund stehende Schadensursache ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten ist (BGH, NJW 2014, 217).

Auf Seiten der Beklagten ist die Betriebsgefahr des Fahrzeugs anzusetzen.

Dem Kläger fällt ein ganz erheblicher Sorgfaltspflichtverstoß zur Last. Zu seinen Lasten steht fest, dass er sich nachts mitten auf der Fahrbahn befand, obwohl sich dort ein Fahrzeug näherte. Damit hat er entweder die Fahrbahn zu dem Zeitpunkt betreten, als sich der Beklagte zu 1) näherte, oder er hat die Fahrbahn betreten, als noch kein Fahrzeug in Sicht war, dann aber den Fahrstreifen nicht zügig überquert, sondern sich noch bis zum Unfall dort aufgehalten. In beiden Alternativen hat er sich verkehrswidrig verhalten und gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen. Danach hat ein Fußgänger vor dem Betreten und beim Überschreiten der Fahrbahn besondere Vorsicht walten zu lassen. Er muss dementsprechend auf den fließenden Fahrzeugverkehr achten und auf ihn Rücksicht nehmen. Insbesondere muss er darauf bedacht sein, nicht in die Fahrbahn eines herannahenden Fahrzeugs zu geraten, ansonsten handelt er grob fahrlässig (OLG Hamm, NJW-RR 2012, 1236). Die im Unfallzeitpunkt erhebliche Alkoholisierung von mindestens 1,47 Promille BAK (die Blutentnahme erfolgt etwa 1 ½ Stunden nach dem Unfall und nach Gabe von 1,5 l Infusion (Bl. 142 f. BA)) hat sich – entgegen der Ansicht des Landgerichts – auf den Unfall ausgewirkt. Der Kläger hatte unzweifelhaft erhebliche alkoholbedingte Ausfallerscheinungen, als er etwa eine Stunde zuvor – noch in Begleitung der Zeugen C und D E – „kurz auf die Straße (wankte)“ (Bl. 187 BA). Bei diese Sachlage ist davon auszugehen, dass der Verunglückte alkoholbedingt verkehrsunsicher war. Der erste Anschein spricht dann dafür, dass die im Aufenthalt auf der Fahrbahn zum Ausdruck kommende enorme Sorglosigkeit des Klägers auf alkoholbedingte Ausfallerscheinungen beruhte (vgl. BGH, NJW 1976, 897).

Bei Abwägung dieser Umstände ist entgegen der Annahme der Berufung gleichwohl eine Haftungsverteilung ¼ zu ¾ angemessen: Obwohl der Kläger für die Entstehung des Schadens maßgebliche Ursachen grob fahrlässig selbst herbeigeführt hat, hat sich auch die auch mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbundene Betriebsgefahr in geradezu klassischer Weise verwirklicht. Ihre nicht völlig untergeordnete Bedeutung lässt es nach den Umständen des Streitfalls nicht angemessen erscheinen, die Gefährdungshaftung vollends zurücktreten zu lassen. Nach der Rechtsprechung des BGH (NJW-RR 2015, 1056 f.) kommt eine Alleinhaftung im Rahmen von § 254 BGB nur in Ausnahmefällen in Betracht. Dies gilt insbesondere auch bei einem grob fahrlässigen Verhalten eines nicht motorisierten Unfallopfers, wenn nicht feststeht, dass der Fahrzeugführer sich wie ein Idealfahrer verhalten hat (OLG Naumburg, NJW-RR 2014, 918, 919; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2018, 925, 927). Angesichts der hiesigen Verkehrssituation, die bei Nacht und Feuchtigkeit durchaus besondere Aufmerksamkeit des Beklagten zu 1) erforderte (hierzu OLG Naumburg, NJW-RR 2014, 918, 919), erscheint die durch das Landgericht angenommene maßvolle Mithaftung sachgerecht, zumal alkoholisierte Fußgänger an Karneval nicht gänzlich unwahrscheinlich sind (Freymann, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kap. 27 Rn. 129). Diese Quote bewegt sich auch im Rahmen der üblicherweise angenommenen Haftungsverteilung (etwa Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 15. Aufl. 2017, Rn. 411).

Aber: Aus prozessualen Gründen wollte das OLG dennoch terminieren. Insoweit bitte selbts weiter lesen.

Anscheinsbeweis auch bei (Ketten)Auffahrunfall nach Starkbremsung?, oder: Haftungsverteilung

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Bei der zweiten Entscheidung des Tages handelt es sich mal wieder um ein OLG-Urteil, das sich nach einem Verkehrsunfall mit der Frage der Haftungsverteilung befasst.

Das OLG Celle, Urt. v. 16.12.2020 – 14 U 87/20 – hat einen Auffahrunfall zum Gegenstand, also eine Unfallsituation, die man schon auch als Dauerbrenner bezeichnen kann. Es handelt sich allerdings um einen sog. „Kettenauffahrunfall“. Gestritten worden ist u.a. auch um die Frage, ob auch in den Fällen der Anscheinsbeweis gilt.

Das das Urteil recht umfangreiche begründet ist, stelle ich hier dann mal nur die Leitsätze ein, den Rest dann bitte im Volltext selbst lesen:

1. Gegen den Auffahrenden spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die gegen die Typizität des Geschehens sprechen.

2. Auch im Falle eines Kettenauffahrunfalls kann nach den Umständen des Einzelfalls ein Anscheinsbeweis gegen den ersten Auffahrenden sprechen.

3. Der Hintermann muss grundsätzlich, wenn keine atypische Konstellation vorliegt, mit einem plötzlichen scharfen Bremsen des Vorausfahrenden rechnen; der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist in dem Fall nicht erschüttert.

4. Der Auffahrende haftet auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel überwiegend (hier 70 : 30).