Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

Strafe II: Darauf kommet es für die „Halbstrafe“ an, oder: Gesamtwürdigung und Rückfallrisiko

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Bei der zweiten heute vorgestelleten Entscheidung handelt es sich um den LG Stendal, Beschl. v. 22.08.2024 – 508 StVK 188/24. Es geht um die Gewährung von Halbstrafe.

Der Beschluss zeitg noch einmal, aus was es „ankommt“. Es reicht hier m.E. der Leitsatz, wegen der Einzelheiten bitte den Volltext lesen:

Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB ist für eine Strafaussetzung bereits nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe das Vorliegen besonderer Umstände erforderlich, die sich aus einer Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzuges ergeben müssen. Vordergründig ist jedoch, was aus dem Verweis auf § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB folgt, erforderlich, dass eine Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Verantworten lässt sich das mit der Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe verbundene Risiko der Begehung neuer Straftaten durch den Verurteilten nur, wenn die begründete Aussicht auf den Eintritt eines Resozialisierungserfolges in Gestalt zukünftiger Straffreiheit besteht.

Strafbefehl II: Angeklagter hat keinen Pflichti, oder: Wiedereinsetzung gegen versäumte Einspruchsfrist

Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern, es handelt sich um den LG Kempten, Beschl. v. 13.06.2024 – 2 Qs 80/24. Es geht um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das AG hatte den Einspruch des Abgeklagten als unzulässig, weil verspätet angesehen. Anders das LG:

„Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung vom 16.05.2024 ist zulässig und begründet.

Der Verteidiger hatte zwar ausweislich BI. 30 d. A. bereits am 08.05.2024 Einsicht in das Vollstreckungsheft, aus diesem ergibt sich jedoch nicht der Verstoß gegen die Pflichtverteidigerbestellung nach § 408b StPO. Somit hatte der Verteidiger erst im Rahmen der Einsicht in die Ermittlungsakte am 14.05.2024 Kenntnis von diesem Umstand, sodass die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO am 16.05.2024 noch nicht abgelaufen war.

Der Antrag ist auch begründet. Die Begründung des Antrags erfordert zwar grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung sämtlicher Tatsachen, aus denen sich die nicht schuldhafte Fristversäumnis des Antragstellers ergibt. Es müssen deshalb alle zwischen dem Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände mitgeteilt werden, die für die Frage bedeutsam sind, wie und ggf. durch wessen Verschulden es zur Versäumnis gekommen ist. Zu benennen sind deshalb die Frist, der Grund der Säumnis sowie der Zeitpunkt, zu dem das Hindernis weggefallen ist. Nicht der Darlegungspflicht unterliegen jedoch Umstände, die den Akten zu entnehmen sind oder gerichtskundig sind (BVerfG NJW 1995, 2544; OLG Düsseldorf StraFo 1997, 77; Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg Rn. 14; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt Rn. 5).

Vorliegend enthält der Antrag des Verteidigers vom 16.05.2024 nicht den geforderten Sachvortrag. Jedoch ergibt sich hier der gesamte Sachverhalt aus der Akte und ist deswegen von Amts wegen zu berücksichtigen. Eine andere Ansicht widerspräche dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 3 c EMRK.

2. Der Einspruch des Verteidigers vom 16.05.2024 gegen den Strafbefehl vom 06.08.2021 ist zulässig. Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 10.08.2021 zugestellt und damit war die zweiwöchige Einspruchsfrist bereits abgelaufen. Jedoch wurde es bei Erlass des Strafbefehls unterlassen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger nach § 408b StPO zu bestellen.

Weil § 408b StPO als Gegengewicht zu rechtsstaatlichen Bedenken fungiert, die gegen die Verhängung einer Freiheitsstrafe in einem summarischen Verfahren sprechen, überzeugt es, die Versäumung der Einspruchsfrist entsprechend § 44 S. 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn § 408b StPO verletzt wurde. (MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 408b Rn. 22).“

Strafbefehl I: Ein Reichsbürger als Angeklagter, oder: Wenn der Angeklagte nicht Angeklagter sein will

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In die neue Woche geht es dann mit zwei Entscheidungen aus dem Strafbefehlsverfahren.

Den Opener mache ich mit einer – für mich skurrilen – Verfahrenslage im Strafbefehlsverfahren. Es handelt sich um das AG Mönchengladbach-Rheydt, Urt. v. 17.09.2024 – 21 Cs-130 Js 322/24-358/24 -, über das ja auch schon anderweitig berichtet worden ist. Wenn man es liest, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Nicht über die Entscheidung sondern über den Angeklagten, der kein Angeklagter sein will.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Angeklagten ist ein Strafbefehl wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung über eine Geldstrafe erlassen worden. Gegen den hat Angeklagte „sinngemäß Einspruch eingelegt“. Sowohl aus dem Einspruchsschreiben als auch aus mehreren weiteren Eingaben des Angeklagten war für das AG erkennbar, dass der Angeklagte dem Reichsbürgermilieu zuzuordnen ist und die Legitimation des Gerichts wie auch die Legitimität des Verfahrens in Zweifel zog.

Das Gericht beraumt dann Hauptverhandlung an, das persönliche Erscheinen des Angeklagten wird angeordnet und er wird über die Folge eines etwaigen Ausbleibens in der Hauptverhandlung ordnungsgemäß belehrt. Die Ladung wird dem Angeklagten ordnungsgemäß zugestellt worden (Anmerkung: In der veröffentlichten Entscheidung können die Daten nicht stimmen.

Bei Aufruf der Sache zur Hauptverhandlung erscheint im Saal dann

„eine männliche Person. Auf Nachfrage des Gerichts, ob sie der Angeklagte sei, erklärte diese: „Ich bin selbst nicht der Angeklagte. Aber ich bringe Ihnen den Angeklagten“, und legte die Abschrift einer Geburtsurkunde des Angeklagten auf die Angeklagtenbank. Die Person selbst blieb mittig im Saal stehen.

Der Richter forderte die männliche erschienene Person auf, auf der Angeklagtenbank Platz zu nehmen, sofern er der Angeklagte sei und wies darauf hin, dass er den Einspruch gegen den Strafbefehl verwerfen werde, wenn die Person sich nicht als der Angeklagte zu erkennen geben und als solcher an der Hauptverhandlung teilnehmen werde.

Die männliche Person erwiderte darauf: „Ich setzte mich nicht dahin, weil ich nicht der Angeklagte bin. Ich bin auch nicht hier, den Angeklagten zu verteidigen. Ich habe großen Respekt und bin mit diesem hierhergekommen. Die Person, die hier angeklagt wurde, ist hier. Das ist die Urkunde, die dort liegt. Ich bin nur ein Mensch. Ich bin als ein Angehöriger der Allgemeinheit hier anwesend. Ich bin ein Mensch. Eine Person kann nur benutzt werden. Der Angeklagte ist da, er ist diese Urkunde. Die Person ist die Geburtsurkunde. Wer für diese Person spricht, ist dem Staat überlassen. Ich als Angehöriger der Allgemeinheit bin für den Angeklagten heute da. Mir gehört aber die Person nicht. Dem Staat gehört die Person. Ich kann nicht für die Person sprechen. Ich habe kein Mandat des Staats, um die Person zu verteidigen. Wir sind alle nur Menschen. Sie sind auch nur ein Mensch und haben kein Recht, hier zu urteilen“.

Das AG hat den Einspruch dann verworfen:

„Die Entscheidung beruht auf §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO in entsprechender Anwendung. Nach dieser Norm ist der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl zu verwerfen, wenn weder er noch ein Verteidiger bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins erscheinen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist.

Vorliegend ist der Angeklagte zwar mutmaßlich körperlich erschienen, denn es spricht einiges dafür, dass eine Person, die Kenntnis von dem Hauptverhandlungstermin hat und über dessen Geburtsurkunde verfügt, der Angeklagte ist. Der Angeklagte hat aber seine Identität als die angeklagte Person nachhaltig bestritten und sich geweigert, in der Rolle des Angeklagten an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Dieser Fall steht bei wertender Betrachtung dem genannten gesetzlich geregelten Fall des Nichterscheinens gleich.

Der Normzweck der Ausnahmebestimmung über die Verwerfung der Berufung (der entsprechend auf die Verwerfung des Strafbefehls anwendbar ist) wegen Nichterscheinens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung besteht darin, zu verhindern, dass der Angeklagte durch unentschuldigtes Ausbleiben, durch eigenmächtiges Sich-Entfernen oder durch schuldhafte Herbeiführung von Verhandlungsunfähigkeit den Abschluss des Verfahrens verzögert (vgl. Ullenboom, StV 2019, 643). Ziele einer Verwerfung der Berufung oder der Sachentscheidung in seiner Abwesenheit sind demnach die Beschleunigung des Verfahrens (vgl. BGH, Beschl. v. 10.08.1977 – 3 StR 240/77, NJW 1977, 2277) und die Missbrauchsabwehr (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 08.07.2013 – III-2 Ws 354/13, zit. n. juris). Für ein Erscheinen in diesem Sinne genügt vor diesem Hintergrund nicht schon jede körperliche Anwesenheit des Angeklagten, sondern es erfordert auch, eine Sachentscheidung über seine Berufung nicht dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht (vgl. BGH, Beschl. v. 06.10.1970 – 5 StR 199/70, NJW 1970, 2253; BGH, Urt. v. 03.04.1962 – 5 StR 580/61, NJW 1962, 1117). Zu fordern ist auch, sich als Angeklagter zu erkennen zu geben, auf Frage des Gerichts gemäß § 111 Abs. 1 OWiG Angaben zu seiner Identität zu machen und sich so als Angeklagter und Berufungsführer auszuweisen; hierdurch wird sein Recht, sich zur Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, nicht berührt (vgl. OLG Karlsruhe Beschl. v. 27.04.2022 – 1 Rv 34 Ss 173/22, BeckRS 2022, 9205; LG Berlin, Urt. v. 05.12.1996 – (574) 55/141 PLs 4163/95 Ns 93/96, NStZ-RR 1997, 338).

Die Anwesenheit des Angekl. im Fall des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hat nämlich den Zweck, die Durchführung der Berufungshauptverhandlung zu ermöglichen, wozu die schlichte körperliche Anwesenheit des Angekl. nicht genügt; notwendig ist, dass der Angeklagte zum Zwecke der Durchführung der Hauptverhandlung erscheint. Der Ausdruck „nicht erschienen“ ist dann dahingehend zu verstehen, dass nur der Angeklagte erschienen ist, der leiblich am Ort der Hauptverhandlung zugegen ist, die Fähigkeit besitzt, an der Verhandlung verständig teilzunehmen, und die Bereitschaft aufweist, an der Verhandlung mitzuwirken. Ist der körperlich präsente Angekl. nicht bereit, durch seine Mitwirkung selbst und freiwillig die Voraussetzungen für die Durchführung der Berufungshauptverhandlung zu schaffen, die er veranlasst hat und die allein zu seinen Gunsten stattfindet, handelt er rechtsmissbräuchlich. Ändert er sein Verhalten trotz Hinweises des Vorsitzenden über die möglichen Konsequenzen gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht, verwirkt er sein Recht auf Durchführung der Berufung. Es gibt keine rechtlichen Interessen des Angeklagten, die ein solches Verhalten rechtfertigen könnten (vgl. LG Berlin, Urt. v. 05.12.1996 – (574) 55/141 PLs 4163/95 Ns 93/96, NStZ-RR 1997, 338).

Ähnlich verhält es sich hier. Wenn der Angeklagte aufgrund seines kruden Weltbildes meint, er könne sich nicht hinreichend mit der angeklagten Person identifizieren, um als diese an der Hauptverhandlung teilzunehmen, verhält er sich rechtsmissbräuchlich. Sein körperliches Erscheinen verfolgte erkennbar gerade nicht den Zweck der Teilnahme an der Hauptverhandlung über seinen Einspruch gegen den Strafbefehl, sondern vielmehr den Zweck eines Nasführens des Gerichts und eines Missbrauchs der strafrechtlichen Hauptverhandlung als Bühne für die Präsentation der Weltanschauung des Angeklagten. Damit hat der Angeklagte sein Recht auf die Durchführung der Hauptverhandlung verwirkt und sein Einspruch war zu verwerfen.“

Ohne weiteren Kommentar, da ich keine Zeit für eine Diskussion mit Sympathisanten 🙂 habe. Ich frage mich nur: Wie kann man nur so verwirrt sein? Und hätte ggf. nicht deshalb dem Angeklagten – der „männlichen Person“ – ein Pflichtverteidiger bestellt werden müssen nach § 140 Abs. 2 StPO. Der Kollege hätte es dann aber sicherlich nicht leicht gehabt.

Wiedereinsetzung II: Selbstvertretung des Anwalts, oder: Elektronische Übermittlung und Verschulden

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Im zweiten Posting geht es jetzt um den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.08.2024 – 2 W 59/22 – und in dem u.a. um die Frage, ob der sich selbst vertretende Rechtsanwalt bei Beschwerden nach GKG den Weg der elektronischen Übermittlung wählen muss und wann ggf. Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

Das OLG hat die Frage der Erforderlichkeit der elektronischen Übermittlung bejaht. Hier der Leitsatz der Entscheidung, die umfangreiche Begründung dann bitte im Volltext lesen:

Ein Rechtsanwalt, der in eigener Sache als Rechtsanwalt ein Berufungsverfahren in einem WEG-Verfahren durchführt, und – nach Zurückweisung seiner Berufung durch das LG nach § 522 Abs. 2 ZPO – in einem Beschwerdeverfahren gegen die Festsetzung des Gebührenstreitwerts erneut in eigener Sache als Rechtsanwalt auftritt, ist zur elektronischen Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht verpflichtet.

Und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die das OLG verwehrt hat, führt es aus:

„B. Dem Kläger war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Versäumens der Beschwerdefrist nach § 68 Abs. 2 S. 1 GKG zu gewähren. Nach dieser Vorschrift ist dem Beschwerdeführer, wenn er ohne sein Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht.

1. Zunächst ist das Oberlandesgericht als Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, zuständig (vgl. NK-GK/Norbert Schneider, 3. Auflage 2021, GKG § 68 Rn. 72; Binz/Dörndorfer/Zimmermann/Zimmermann, 5. Auflage 2021, GKG § 68 Rn. 13), so dass der Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss keine Wirkung zukommt, sondern dies dahingehend auszulegen ist, dass das Landgericht der Beschwerde auch deshalb nicht abgeholfen hat, weil – was in der Sache zutreffend ist – ein Wiedereinsetzungsgrund nicht besteht.

2. Der gesetzlich („auf Antrag“) vorgesehene Wiedereinsetzungsantrag des Klägers wurde am 26.09.2022 gestellt und beim Ausgangsgericht angebracht (vgl. hierzu NK-GK/Norbert Schneider, 3. Aufl. 2021, GKG § 68 Rn. 66, 71). Dass der Antrag innerhalb von zwei Wochen nach Beseitigung des Hindernisses gestellt wurde, kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, denn nach dem Vorbingen des Klägers war sein beA nach De- und Neuinstallation am 10.09.2022, einem Samstag, wieder betriebsbereit, so dass zu diesem Zeitpunkt das Hindernis beseitigt war, und die zwei Wochen Frist zu laufen begann und sich die Frist, da das Fristende auf einen Samstag, den 24.09.2022 fiel, bis zum 26.09.2022 verlängerte.

3. Allerdings ist der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung vom 26.09.2022 gleichwohl unzulässig. Weder wurde der Antrag als elektronisches Dokument übermittelt, noch wurden innerhalb der Frist die Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen sollen, glaubhaft gemacht.

Der Wiedereinsetzungsantrag war als elektronisches Dokument einzureichen. Auf die obigen Ausführungen zur Beschwerde, die hier entsprechend gelten, wird verwiesen. Der Kläger hat den Wiedereinsetzungsantrag lediglich per Telefax übermittelt. Ein Hinweis an den Kläger auf den Formverstoß konnte nicht mehr erfolgen, da der Antrag erst am Tag des Fristablaufs um 23:41 Uhr beim Landgericht einging (Bl. 582).

Ein Ausnahmefall, in dem eine Übermittlung eines Schriftsatzes nach den allgemeinen Vorschriften zulässig gewesen wäre, liegt nicht vor. Gemäß § 130d S. 2 ZPO ist dies nur zulässig, wenn die Übermittlung eines elektronischen Dokuments aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. Dem liegt die Überlegung des Gesetzgebers zugrunde, dass die zwingende Benutzung des elektronischen Rechtsverkehrs nicht gelten kann, wenn die Justiz aus technischen Gründen nicht auf elektronischem Weg erreichbar ist. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob die Ursache für die vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der Sphäre des Einreichers zu suchen ist. Denn auch ein vorübergehender Ausfall der technischen Einrichtungen des Rechtsanwalts soll dem Rechtsuchenden nicht zum Nachteil gereichen (vgl. KG, Beschluss vom 25.02.2022 – 6 U 218/21, Rn. 14, juris; BT-Drs. 17/12634, 27).

Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein beA am 26.09.2022 erneut nicht funktionierte, mithin eine Übermittlung aus technischen Gründen wieder nicht möglich war, ist eine Glaubhaftmachung weder bei der Ersatzeinreichung erfolgt noch unverzüglich danach (§ 130d S. 3 Hs. 1 ZPO). Die Aufforderung nach Hs. 2 bezieht sich allein auf die Nachreichung des elektronischen Dokuments.

Bei der Ersatzeinreichung des Wiedereinsetzungsantrags erfolgt keine Darlegung, dass das beA des Klägers nicht funktionierte, der Kläger hat hierzu überhaupt keine Ausführungen gemacht.

Der Kläger hat auch nicht unverzüglich danach dargelegt, dass sein beA nicht funktionierte. Unverzüglich im Sinne der in § 121 Abs. 1 S. 1 BGB enthaltenen Legaldefinition ist als „ohne schuldhaftes Zögern“ auszulegen, wobei anders als bei § 121 BGB aber keine gesonderte Prüfungs- und Überlegungsfrist zu gewähren ist, sondern der Rechtsanwalt die Glaubhaftmachung abzugeben hat, sobald er Kenntnis davon erlangt, dass die Einreichung an einer technischen Störung gescheitert ist, und er zu einer geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände in der Lage ist. Hierbei ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Glaubhaftmachung möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgen und die Nachholung der Glaubhaftmachung auf diejenigen Fälle beschränkt sein soll, bei denen der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf feststellt, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist und bis zum Fristablauf keine Zeit mehr verbleibt, die Unmöglichkeit darzutun und glaubhaft zu machen. Glaubhaft zu machen ist lediglich die technische Unmöglichkeit einschließlich ihrer vorübergehenden Natur, ohne dass es einer weiteren Sachverhaltsaufklärung über deren Ursache bedarf; es genügt eine (laienverständliche) Schilderung und Glaubhaftmachung der tatsächlichen Umstände, die beispielsweise mit Screenshots unterlegt werden kann, aber nicht zwingend muss (vgl. BGH, Beschluss vom 21.06.2023 – V ZB 15/22, juris, Rn. 21; Anders/Gehle/Anders, 82. Auflage 2024, ZPO § 130d Rn. 9a).

Bei Anwendung dieser Voraussetzungen erfolgte die Glaubhaftmachung nicht unverzüglich. Vielmehr wurde die Frist bei weitem überschritten, indem erst mit Schriftsatz vom 22.11.2022 überhaupt eine Glaubhaftmachung erfolgte, obwohl der Kläger nach seiner Darlegung am 26.09.2022 Kenntnis hatte, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich war, und am Folgetag davon, dass das beA wieder funktionierte, so dass die Störung erneut nur vorübergehender Natur war, weil das beA wieder funktionierte.

Hinzu tritt, dass der Kläger Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen sollen, im Antrag weder dargelegt noch glaubhaft gemacht hat. Der Kläger hat in seinem Wiedereinsetzungsantrag mit keinem Wort eine Störung seines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dargelegt, sondern nur vermeintliche Störungen beim Versand des Telefaxes an das Landgericht geschildert, was unerheblich ist, weil diese Einreichungsform unzulässig war und dem Kläger als Rechtsanwalt die gesetzlichen Vorschriften über die Übersendung elektronischer Dokumente hätten bekannt sein müssen.

7. Dem Kläger war auch auf seinen Antrag aus dem per Telefax übersandten Schriftsatz vom 07.10.2022 keine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist zu gewähren. Auch dieser Antrag entsprach nicht der Form des § 130d S. 1 ZPO als elektronisches Dokument. Die Voraussetzungen einer Ersatzeinreichung nach § 130 S. 2 ZPO liegen nicht vor, nachdem der Kläger dort erneut nur Probleme einer Übermittlung per Telefax thematisiert hat.“

Wiedereinsetzung I: Rechtsanwalt verpasst Termin, oder: Verschulden bei falsch geplanter Anfahrt

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Im „Kessel Buntes“ heute dann zwei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung. Die eine kommt vom AGH Hamm, die andere vom OLG Frankfurt am Main.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem AGH Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 05.09.2024 – 2 AGH 1/24. In dem Verfahren hatte eine Rechtsanwältin Berufung gegen ein Urteil des AnwG eingelegt. Die ist vom AGH Nordrhein-Westfalen durch Urteil wegen Versäumung der Berufungshauptverhandlung verworfen worden. Die angeschuldigte Rechtsanwältin hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nach § 116 Abs. 1 S. 2 BRAO i.V.m. § 45 StPO liegen nicht vor. Der Antrag ist zwar fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 116 Abs. 1 S. 2 BRAO i.V.m. § 45 Abs. 1 StPO gestellt, er ist jedoch zumindest unbegründet.

Es kann dahinstehen, ob der per Telefax gestellte und ausschließlich mit einer anwaltlichen Versicherung zur Glaubhaftmachung eingereichte Wiedereinsetzungsantrag zulässig ist. Denn er ist in jedem Falle nicht begründet.

Ob ein Wiedereinsetzungsantrag im vorliegenden Falle rechtswirksam per Telefax eingereicht werden konnte oder ob es einer Übermittlung an den Senat per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) bedurft hätte, kann mithin dahinstehen. Eine zwingende Verpflichtung zur Einreichung per beA für die Einhaltung der Schriftform i.S. einer Wirksamkeitsvoraussetzung ergibt sich ausschließlich aus § 32d S. 2 StPO für die dort abschließend aufgezählten Anträge und Erklärungen (Köhler, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 32d Rn. 1). Ein Wiedereinsetzungsantrag wird von dieser Enumeration erkennbar nicht umfasst. Eine Verpflichtung zur Einreichung von Wiedereinsetzungsanträgen per beA bestünde im anwaltsgerichtlichen Verfahren mithin nur dann, wenn die „entsprechende“ Anwendung dieser Vorschrift nach § 116 BRAO über ihren gesetzlich abschließend formulierten Katalog hinaus Ausdehnung erforderte. Soweit § 32d S. 1 StPO bestimmt, dass Verteidiger und Rechtsanwälte u.a. schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument übermitteln „sollen“, ist dies – im abgrenzenden Lichte des dortigen S. 2 – nicht zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung (vgl. Köhler a.a.O., „Regelfall“). Denn auch wenn im Übrigen – getreu der Regel „soll heißt muss, wenn kann“ – grundsätzlich ein „Sollen“ im Sinne eines „Müssen“ zu verstehen ist, so könnte namentlich der prozessuale Ausnahmefall des Wiedereinsetzungsgesuches als einer Art Notmaßnahme zur Rückerlangung einer dem Anschein nach bereits verloren gegangenen Rechtsposition der gerichtlichen Fairness halber zu einer weniger formenstrengen Auslegung Veranlassung geben. Dies gilt namentlich in Ansehung des Umstandes, dass die Einlegung der Berufung selbst nach der Rechtsprechung des Senates einer Nutzung des beA nicht zwingend bedarf. Mithin liegt nicht nahe, für den bloßen Wiedereinsetzungsantrag strengere Regeln zur Anwendung zu bringen als für das den Rechtszug ursprünglich eröffnende Rechtsmittel. Auch § 32a Abs. 1 StPO spricht ersichtlich nur davon, dass elektronische Dokumente bei u.a. Gerichten nach Maßgabe der folgenden Absätze eingereicht werden „können“. Letztlich spricht also gesamthaft eher mehr dafür als dagegen, dass die erforderliche Schriftform auch durch ein Telefax gewahrt werden kann (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 45 Rn. 1 i.V.m. Einl Rn. 128).

Desgleichen kann dahinstehen, ob es im anwaltsgerichtlichen Verfahren für die nötige Glaubhaftmachung der dem Wiedereinsetzungsgesuch zugrundeliegenden Tatsachen hinreicht, sie anwaltlich als richtig zu versichern. Im Strafprozess reicht eine eigene eidesstattliche Versicherung des Angeklagten nicht als Mittel der Glaubhaftmachung aus, da sie nicht über den Wert einer eigenen (einfachen) Erklärung hinausgeht (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 45 Rn. 8 mit Verweis auf BGH vom 12.3.2014 zu 1 StR 74/14). In diesem Verständnis müsste vorliegend also bereits von einer Unzulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrages ausgegangen werden. Gegen eine solche schematische Übertragung der strafprozessualen Regel auf das anwaltsgerichtliche Verfahren spricht indes, dass der beschuldigte Rechtsanwalt Organ der Rechtspflege ist. Er legt also mit einer etwaigen anwaltlichen Versicherung infolge der ihm bekannten Rechtsfolgen einer unrichtigen Versicherung regelhaft mehr in die Waagschale der Glaubwürdigkeitsabwägung als der strafprozessual Angeklagte.

Das Wiedereinsetzungsgesuch ist jedoch bei allem jedenfalls unbegründet.

Eine Rechtsanwältin, die weiß, um 13.00 Uhr in Hamm (Westf.) zu einem Termin erscheinen zu müssen, handelt sorgfaltswidrig, wenn sie erst 75 Minuten zuvor mit dem Pkw von C. aus zu diesem Termin aufbricht. Für eine Autofahrt von 75 Kilometern zwischen Kanzlei und Gerichtsgebäude nur 75 Minuten Fahrtzeit einzuplanen, setzt für ein rechtzeitiges Erreichen des Zielortes schon rein rechnerisch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h voraus. Innerstädtisch ist diese Geschwindigkeit nicht gestattet; dortige Verzögerungen müssten also außerorts vollständig kompensiert werden, was an einem Freitagmittag – quer durch das gerichtsbekannt aktuell zusätzlich von Baustellen durchzogene Ruhrgebiet – von vornherein ausgeschlossen erscheint. Eine solche Planung der Anfahrzeit ist namentlich dann unzureichend, wenn die Rechtsanwältin – wie der Antragstellerin nach eigenem Vortrag schon bei Fahrtantritt positiv bekannt war – nicht über ein funktionsfähiges Mobiltelefon verfügt, mit dem sie eine etwaige unvorhersehbare Verzögerung an das Gericht mitteilen könnte. Zu den zumutbaren Maßnahmen für den Rechtsanwalt zählt im Übrigen auch, notfalls eine Tankstelle oder ein Rastplatz anzufahren, um das Gericht von dort aus über eine drohende verspätete Ankunft telefonisch zu unterrichten (vgl. OLG Celle, Urteil vom 24.06.2004, 11 U 57/04, NJW 2004, 2534). Eine solche potentielle Verzögerung für das Erreichen des Gerichtssaales lag zudem auch in dem Umstand, dass die bloße Anfahrt an das Gerichtsgebäude mit einem Zutritt zu dem Gerichtssaal notwendig nicht identisch ist. Für das Parken des eigenen Pkw und für den Fußweg von dem Parkplatz in den Saal hätte eine sorgfältige Planung weitere Zeiträume berücksichtigen müssen. Zu einer weiteren, mehrminütigen Verzögerungen im Eingangsgereich zum Gerichtsgebäude an einer Gerichtspforte kommt es infolge Personenprüfung für Rechtsanwälte gerichtsbekannt überdies nur dann, wenn sie ihren Anwaltsausweis nicht präsentieren können. Das Mitführen des Rechtsanwaltsausweises ist eine Sorgfaltspflicht, die auch dem hindernisfreien und mithin rechtzeitigen Zugang zu dem Gerichtssaal zu dienen bestimmt ist. Weiß ein Rechtsanwalt, dass er seinen Rechtsanwaltsausweis nicht bei sich führt, hat er dies bei seiner Anreiseplanung zeitlich einzukalkulieren. Führt er seinen Ausweis unwissentlich nicht bei sich, hat er sich vorhalten zu lassen, insoweit nicht ordnungsgerecht für den Zutritt zu Gericht vorbereitet gewesen zu sein. Das gilt namentlich dann, wenn der Rechtsanwalt nicht einmal hoffen kann, Bediensteten in der Sicherheitsschleuse von Person bekannt zu sein. Genau hiervon war im vorliegenden Fall aber für die Antragstellerin auszugehen, die nach eigenem Vortrag im Anschluß an das Betreten des Gerichtsgebäudes zunächst noch fußläufig in einen unzutreffenden Gebäudetrakt ging, bis sie den Saal schlußendlich mit knapp dreiviertelstündiger Verspätung gegenüber der Ladungszeit erreichte. Nur der Ortsunkundige verläuft sich in einem Gerichtsgebäude. Ortsunkundige sind bei Gericht aber denknotwendig nicht erwartbar von Person bekannt. Folglich schied für die Antragstellerin auch a priori aus, eine ausweislos zügige Zugangsabwicklung in das Gerichtsgebäude erhoffen zu können. Dass sie allerdings auch ihr persönlich unbekannte Justizmitarbeiter in der Sicherheitsschleuse hätte fragen können, wie sie den angezielten Saal schnellstens würde erreichen können, liegt zusätzlich auf der Hand. Nach allem kann dahinstehen, ob die Antragstellerin mithin tatsächlich bereits – wie sie versichert – um 11.45 Uhr zu ihrer Anreise aufgebrochen ist oder ob sie die später noch an das Gericht und ihren Pflichtverteidiger faxschriftlich versandten Schriftsätze in C. selbsthändig verschickt haben könnte.“

Die Ausführungen des AGH zur Zulässigkeit kann man auch in anderen Verfahren anwenden, die zur Begründetheit immer dann, wenn das Verschulden des Rechtsanwalts dem Mandanten zugerechnet wird.