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Termin III: „.. nimm doch einen anderen Verteidiger“, oder: Auch im OWi-Verfahren Anwalt des Vertrauens

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Und dann als dritte Entscheidung noch der LG Wuppertal, Beschl. v. 11.11.2022 – 26 Qs 230/22 (523 Js 644/22). Der stammt zwar aus dem Bußgeldverfahren, die Fragen der Terminierung bzw. der Terminsverlegung spielen aber auch da eine große Rolle.

Hier hatte die Amtsrichterin eine Terminsverlegung (mal wieder) mit der Begründung abgelehnt, der Betroffene könne ja einen anderen Verteidiger wählen. Das LG ist dem nicht gefolgt:

„Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Auch in einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu lassen. Diese Gewährleistung ist Ausdruck seines von Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Anspruchs auf ein faires Verfahren (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Köln, BeckRS 2005, 13580; BayObLG, BeckRS 2001, 8950). Die Terminierung ist zwar Sache der Vorsitzenden. Die Vorsitzende ist aber gehalten, über Terminsverlegungsanträge nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BayObLG, BeckRS 2020, 35554; OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 35233; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.03.2011, Az. 2 Ss OWi 209/11). In die Abwägung einzustellen sind insbesondere die Bedeutung der Sache, die Lage des Verfahrens bei Eintritt des Verhinderungsfalles, der Anlass, die Voraussehbarkeit und die voraussichtliche Dauer der Verhinderung, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und damit zusammenhängend die Fähigkeit des Betroffenen, sich selbst zu verteidigen und das Gebot der Verfahrensbeschleunigung.

Gemessen an diesen Anforderungen leidet die Entscheidung hier an einem Ermessensfehler. Denn das Amtsgericht hat sich bei Ablehnung der Terminsverlegung maßgeblich darauf gestützt, dass der Termin bereits mehrfach verlegt worden sei und der Betroffene einen anderen Verteidiger wählen könne. Vorliegend ist der Betroffene durch den Bußgeldbescheid nicht nur mit einem Bußgeld, sondern auch mit einem Punkt im Fahreignungsregister belegt worden, was keine ganz unerhebliche Sanktion darstellt. Zudem droht dem Betroffenen hierdurch der (erneute) Verlust der Fahrerlaubnis, da er bereits mehrfach einschlägig vorbelastet ist. In dieser Lage kann dem Betroffenen nicht verwehrt werden, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens, der ihn bereits seit längerer Zeit vertritt, vertreten zu lassen. Auch ist keine auf Prozessverschleppung ausgerichtete Verteidigungsstrategie erkennbar, da der Verteidiger ausdrücklich eine telefonische Terminsabsprache angeboten hat, das Amtsgericht diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht gezogen hat. Eine Verjährung droht — auch vor dem Hintergrund einer nicht näher dargelegten „angespannten Terminslage“ des Amtsgerichts – ebenfalls noch nicht, da eine absolute Verjährung erst im Februar 2024 eintreten kann.

Da die Vorsitzende somit von dem ihr zustehenden pflichtgemäßen Ermessen keinen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, waren der angefochtene Beschluss und der Hauptverhandlungstermin vom 01.12.2022 aufzuheben. Da vorliegend aufgrund der Terminskollision des Wahlverteidigers nur eine Aufhebung bzw. Verlegung des Termins vom 01.12.2022 in Betracht kommt, kann die Kammer als Beschwerdegericht diese Entscheidung auch selbst treffen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O.).“

Termin II: Ermessensausübung beim Terminieren, oder: Anspruch auf den Verteidiger des Vertrauens

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.09.2022 – 4 Ws 403/22 – geht es um Terminierungsfragen und die Ausübung des Vorsitzendenermessen bei der Terminierung.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Angeklagten pp. sowie gegen zwei weitere Angeklagte laufenden Verfahrens wegen des Verdachts des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a. geführt. Das LG hat nach Eingang Anklageschrift am 29.07.2022 mit der Pflichtverteidigerin des Angeklagten, Rechtsanwältin E sowie mit den Verteidigern der beiden Mitangeklagten mögliche Hauptverhandlungstermine abgestimmt.

Vor dem Eingang der Anklageschrift beim LG hatte sich am 25.07.2022 Rechtsanwalt B. gegenüber der Staatsanwaltschaft für den Angeklagten pp. legitimiert und Akteneinsicht beantragt. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an das LG im Nachgang zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft ist nicht erfolgt. Auch wurden weder Rechtsanwalt B. noch der Angeklagte auf die bereits erhobene Anklage hingewiesen. Infolgedessen blieb Rechtsanwalt B. bei der Abstimmung der möglichen Hauptverhandlungstermine mit den Verfahrensbeteiligten unberücksichtigt.

Mit Verfügung vom 22.08.2022 hat der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens Hauptverhandlungstermine auf den 8. , 14. und 17.11. sowie weitere Fortsetzungstermine bestimmt. Tags darauf hat sich Rechtsanwalt B. telefonisch an die Geschäftsstelle des Landgerichts gewandt und in der Folge per Fax seine verfügbaren Termine übermittelt. Am 24.08.2022 hat der Vorsitzende Rechtsanwalt B. mitteilen lassen, dass die Kammer für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bereits vor dem Erhalt seines Schreibens vom Vortag Termine bestimmt habe. Sein Legitimationsschreiben habe sich nicht bei der Akte befunden. Ebenfalls am 24.08.2022 hat das LG die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen.

Gegen die Terminsverfügung des Vorsitzenden hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg. Das OLG sieht die Beschwerde als zulässig an – insoweit bitte selbst lesen. Zur Begründung führt es aus:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Vorsitzende hat das ihm im Rahmen der Terminierung zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Die Terminsverfügung ist deshalb rechtsfehlerhaft.

a) Zwar liegt die Terminshoheit beim Vorsitzenden (§ 213 StPO). Sowohl der Angeklagte als auch der Verteidiger haben keinen allgemeinen Rechtsanspruch auf die Anberaumung eines „Wunschtermins“, und aus seinem Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, folgt auch nicht, dass bei jeder Ver-hinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte (BGH, NStZ 2007, 163, 164). Der Angeklagte hat im Falle einer Verhinderung seines Verteidigers auch kein Recht, die Aussetzung einer Hauptverhandlung zu verlangen (§ 228 Abs. 2 StPO). Die Entscheidung des Vorsitzenden ist überdies nur eingeschränkt dahingehend überprüfbar, ob die rechtlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens eingehalten und ob das ihm zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde.

b) Eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass der Vorsitzende neben der Belastung des Gerichts auch berechtigte Wünsche der Prozessbeteiligten, insbesondere des Verteidigers, berücksichtigt. Insbesondere muss er sich ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3c EMRK, § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO), soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 21. März 2018 — 1 StR 415/17).

Von dieser Verpflichtung wurde der Vorsitzende vorliegend nicht deshalb frei, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung durch seine Pflichtverteidigerin vertreten sein wird. Die terminliche Verfügbarkeit von Rechtsanwalt B, ist deshalb nicht irrelevant, zumal dessen Mandatierung als Wahlverteidiger auch Anlass gibt, eine Aufhebung der Bestellung gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO zu prüfen.

c) Ein derartiges Bemühen des Vorsitzenden ist vorliegend weder bei der Bestimmung der Hauptverhandlungstermine noch hinsichtlich des nachfolgenden Schreibens von Rechtsanwalt B. noch im Rahmen der Entscheidung über die Nichtabhilfe ersichtlich. Auch erscheint eine anderweitige Terminierung nicht von vornherein ausgeschlossen, nachdem die übrigen Verteidiger an den von Rechtsanwalt B. vorgeschlagenen Hauptverhandlungsterminen jedenfalls nicht allesamt und nicht durchgängig verhindert sind.

aa) Dabei hat der Senat nicht übersehen, dass die Verhinderungen von Rechtsanwalt B. bei der Anberaumung der Hauptverhandlungstermine vom Vorsitzenden nicht berücksichtigt werden konnte, da ihm der Legitimierungsschriftsatz vom 25. Juli 2022 zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorlag und eine ordnungsgemäße Ermessensausübung schon deshalb nicht möglich war. Dies ist indes weder dem Angeklagten noch Rechtsanwalt B, der von der zwischenzeitlich erfolgten Erhebung der Anklage keine Kenntnis hatte und seine Verteidigungsanzeige deshalb zwingend an die Staatsanwaltschaft richten musste, anzulasten.

Vielmehr hätte es der Staatsanwaltschaft oblegen, die Verteidigungsanzeige im Nachgang zur Anklageschrift unmittelbar an das Landgericht weiterzuleiten. Dies ist aus ersichtlich nicht vom Angeklagten oder dessen Verteidigung zu vertretenden Gründen nicht erfolgt. Auch bestand ersichtlich keine Verpflichtung für Rechtsanwältin E. die Strafkammer von der Mandatierung eines zweiten Verteidigers zu informieren und so das Versäumnis der Staatsanwaltschaft auszugleichen.

bb) Es ist jedoch auch nicht erkennbar, dass die berechtigten Belange des Angeklagten im Hinblick auf eine Vertretung (auch) durch Rechtsanwalt B. in der Hauptverhandlung im weiteren Verlauf des Verfahrens oder im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung Berücksichtigung gefunden hätten. Stattdessen wird dort lediglich ausgeführt, dass eine nachträgliche Berücksichtigung der von Rechtsanwalt B. mitgeteilten freien Termine nicht möglich gewesen wäre und die Sache eilbedürftig sei, obwohl die Hauptverhandlung erst in knapp zwei Monaten beginnen soll. Ein deutlich früherer Beginn wurde nicht erwogen, bei den Verteidigern wurden Termine erst ab dem 31. Oktober 2022 abgefragt.

Zudem hätten etwa am 7. November 2022 sämtliche Verteidiger zur Verfügung gestanden, Rechtsanwältin E. und Rechtsanwalt U jeweils ganztags, Rechtsanwalt K zumindest vormittags. Dennoch ist nicht ersichtlich, dass eine anderweitige Terminierung auch nur erwogen wurde, eine Ermessensausübung fand weiterhin nicht statt. Dies zwingt zur Aufhebung der Terminsverfügung im Umfang der Anfechtung.

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Vorsitzende trotz der nunmehr erfolgten Terminsaufhebungen nicht gezwungen ist, mit der Hauptverhandlung erst Ende November oder gar zu einem noch späteren Zeitpunkt zu beginnen. Auch ist es aufgrund der Entscheidung des Senats nicht von vornherein ausgeschlossen, erneut Hauptverhandlungstermine auf den 8., 14. und 17. November 2022 anzuberaumen.

Denn der Vorsitzende ist lediglich gehalten, sich nach Kräften zu bemühen, eine Verteidigung aller Angeklagter durch die jeweils von ihnen gewünschten Verteidiger zu gewährleisten. Sollte es trotz solcher – bislang gegenüber Rechtsanwalt B. nicht erfolgter – Bemühungen nicht gelingen, Terminkollisionen zu beheben und Alternativtermine abzustimmen, an denen alle vier an dem Verfahren beteiligten Verteidiger zur Verfügung stehen, ohne dass dies zu Verfahrensverzögerungen führen würde, wird im Rahmen der Ermessensausübung insbesondere das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sein. Dieses steht nicht zur Disposition des Angeklagten (OLG Stuttgart, NStZ 2016, 436). Insoweit wird der Vorsitzende auch bemüht sein — sollte der Senat nach Abschluss der noch ausstehenden Haftprüfung gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO Haftfortdauer anordnen — eine nochmalige Vorlage nach neun Monaten Untersuchungshaft zu vermeiden.

Darüber hinaus kann im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden, ob an den in Betracht kommenden Hauptverhandlungstagen bei mehreren Verteidigern Terminkollisionen vorliegen oder etwa nur bei einem Verteidiger, zumal wenn dessen Mandant anderweitig anwaltlich vertreten ist.

Soweit an möglichen Terminstagen bereits anderweitige, ebenfalls dem Beschleunigungs-gebot unterliegenden Haftsachen anberaumt sind, kann dies im Rahmen der Ermessens-ausübung ebenfalls in die Erwägungen einbezogen werden.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass der Vorsitzende „nicht so richtig wollte“, wie es das OLG gern gesehen hätte.

Termin I: Mal wieder Urteilsabsetzungsfrist versäumt, oder: Unterschriebenes Urteil bleibt liegen

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Heute dann ein wenig StPO, und zwar Entscheidungen zu Termin-/Fristenfragen.

Ich beginne zum Warmwerden mit dem BGH, Beschl. v. 04.10.2022 – 1 StR 315/22 -, in dem sich der BGh mal wieder zur Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 StPO) äußert, und zwar kurz und knapp:

„Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Beihilfe zur Untreue in Tateinheit mit Beihilfe zum Bankrott in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten, mit denen sie die Verletzung materiellen und formellen Rechts beanstanden, führen mit den übereinstimmend erhobenen Verfahrensrügen des Verstoßes gegen die Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO) zur Urteilsaufhebung (§ 349 Abs. 4, § 338 Nr. 7 StPO).

Der Generalbundesanwalt hat in den jeweiligen Antragsschriften zutreffend ausgeführt:

? Das Landgericht hat das angefochtene Urteil nach zehntägiger Hauptverhandlung am 9. Mai 2022 verkündet. Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO betrug daher die Frist, binnen derer die Urteilsurkunde zu den Akten zu bringen war, sieben Wochen und endete mit Ablauf des 27. Juni 2022. Ausweislich des Vermerks der Geschäftsstelle auf der Urteilsurkunde gelangte das schriftliche Urteil erst am 30. Juni 2022 zu den Akten (Bd. XIV, Bl. 326). Ein unabwendbarer Umstand im Sinne von § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO liegt nicht vor. Der Vorsitzende hat in seinen dienstlichen Erklärungen vom 15. und 22. August 2022 (Bd. XV, Bl. 21 u. 26) mitgeteilt, dass das am 27. Juni 2022 bereits unterzeichnete Urteil – aufgrund eines Fehlers bei der Fristberechnung – in seinem Zimmer verblieb [vgl. dazu auch BGH, Urteile vom 5. Juli 1979 – 4 StR 272/79, BGHSt 29, 43 und vom 2. November 1984 – 2 StR 112/84 Rn. 2] und von ihm erst am 30. Juni 2022 zur Geschäftsstelle gebracht wurde.

Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Eine verspätete Urteilsabsetzung kann die Richtigkeit und Vollständigkeit der Urteilsgründe beeinflussen. Daher besteht ein zwingender Aufhebungsgrund auch bei geringer Fristüberschreitung und ohne Rücksicht darauf, ob das Urteil solche Mängel aufweist (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. Januar 2022 – 5 StR 494/21, BeckRS 2022, 454).?

Kann ja mal passieren 🙂 . Mir erschließt sich allerdings nicht, warum man ein unterschriebenes Urteil nicht auf die Geschäftsstelle bringt.

StPO III: Und nochmals/wieder das Encro-Chat-Problem, oder: Das LG Frankfurt/Oder „neigt zu“..

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Und zum Schluss des Tages dann noch einmal etwas zu Encro-Chat, dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner, der ja . wenn die Akten schon da sind – wegen der Vorlage durch das LG Berlin (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 19.10.2022 – (525 KLs) 279 Js 30/22 (8/22) inzwischen auch den EuGH beschäftigt. Man kann nur hoffen, dass der bald entscheidet, damit endlich – so oder so – Klarheit herrscht.

Inzwischen habe ich von der Kollegin Dr. Matthies, aus Frankfurt (Oder) den LG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 27.10.2022 – 24 Qs 80/22 – zugeschickt bekommen. Er ist in einem Encro-Chat-Verfahren – Vorwurf Verstoß gegen § 29a BtMG – im Rahmen einer Haftbeschwerde ergangen. Das LG hat einen vom AG ergangenen Haftbefehl aufgehoben, weil kein dringender Tatverdacht vorliege. Das begründet das LG anhand der Erkenntnisse aus den Encro-Chats.

In einem „obiter dictum“ nimmt das LG dann allgemein zur Verwertbarkeit von Encro-Chat-Erkenntnissen Stellung:

„Kam es somit, wie gezeigt, auf die Verwertbarkeit der sogenannten Encro-Chat-Daten nicht an, dürfte sich nach Auffassung der Kammer im Rahmen der weiteren Ermittlungen kein hinreichender oder gar dringender Tatverdacht gegen den Beschuldigten erbringen lassen, soweit dieser-lediglich-aus Erkenntnissen aus den sogenannten Encro-Chats bestehen sollte.

Die Kammer neigt dazu, sich im Falle der Entscheidungserheblichkeit der Auffassung des Landgerichts Berlin [( 525 Kls) 254 Js 592/20 [10/21] und der wohl herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449; dies., StV 2022, 130; Erhard/Lödden, StraFo 2021, 366; Gebhard/Michalke, NJW 2022, 655; Nadeborn/Albrecht, NZWiSt 2021, 420; Sommer, StV Spezial 2021, 67) anzuschließen und von einer Unverwertbarkeit der Encro-Chats auszugehen.

Einer Darstellung der Vielzahl der gegen die Verwertung der Daten sprechenden Gründe bedarf es im Rahmen eines obiter dictum nicht.

Allerdings dürfte dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 82 Abs. 1 AEUV, der auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten, der Boden entzogen sein, wenn französische Gerichte nun zu dem Ergebnis kommen, dass die Beweiserhebung illegal war.

Eine solche Entwicklung scheint sich abzuzeichnen: In seiner Entscheidung vom 11.10.2022 hat der französische Kassationsgerichtshof in der Sache Nr. 21-85.148 festgestellt, dass die Vorlage einer sogenannten Aufrichtigkeitsbescheinigung der gesammelten Encro-Chat-Daten eine zwingende Bedingung für die Gültigkeit der Maßnahme ist und-da offenkundig eine solche Bescheinigung nicht vorliegt-das Urteil aufgehoben und an eine andere Kammer in Metz zurückverwiesen. Der Kassationsgerichtshof hat dabei festgestellt, dass die Encrochat-Daten ohne eine solche Aufrichtigkeitsbescheinigung illegal und unzulässig sind.

Sollten im Ergebnis die französischen Gerichte die eigenen Entscheidungen bezüglich der Erhebung der Daten aufheben, liegt es auf der Hand, dass diese Daten auch im deutschen Strafverfahren nicht verwertet werden können.“

Also ein sog. Neigungsbeschluss 🙂 .

Kleiner Hinweis für die Leser des Volltextes: Das ist leider etwas mühsam wegen der vielen Anonymisierungen. Ich hoffe zudem, ich habe beim Übertragen keinen Fehler gemacht. Aber letztlich kommt es darauf hier ja auch nicht an.

StPO II: Vage Umstände und Auskunftsverweigerung, oder: „Man möchte heiraten“ = Verlöbnis?

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In der zweiten Entscheidung dem KG, Beschl. v. 11.07.2022 – 3 Ws 176/22 – 121 AR 134/22 – geht es um die Voraussetzungen eines Auskunftsverweigerungsrechts wegen einer früheren Aussage.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Dem Angeklagten wird vorgeworfen,  gemeinschaftlich mit einem gesondert verfolgten und bereits abgeurteilten D. ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des C. begangen zu haben. Wegen dieses Vorwurfs ist Haftbefehl ergangen. Gegen den hat der Angeklagte Haftbeschwerde eingelegt. Das KG äußert sich im Rahmen seiner Ausführungen zum dringenden Tatverdacht zum Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) und Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) einer Zeugin:

„1. Der Angeklagte ist der vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

Nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand ist noch davon auszugehen, dass der Angeklagte durch seine frühere Lebensgefährtin X. belastet wird. Die Zeugin hatte zunächst von einem (angeblich bestehenden) Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, den Angeklagten aber schwer belastet, nachdem sie von diesem mit dem Tode bedroht worden war. Die hierbei geäußerten Bekundungen waren detailreich und nach vorläufiger Würdigung überzeugend und glaubhaft. Wegen des Inhalts der Zeugenaussage und ihrer Bewertung wird auf den dem Beschwerdeführer bekannten Senatsbeschluss vom 2. Mai 2022 (3 Ws 101/22) verwiesen.

Die Erklärung, die Rechtsanwalt B. unter dem 31. Mai 2022 als Bevollmächtigter der Zeugin abgegeben hat, ändert an dieser Bewertung nichts.

a) Unbehelflich ist zunächst die Ankündigung, die Zeugin werde vom Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO Gebrauch machen, weil der Rechtsanwalt „nicht ausschließen“ könne, „dass Frau X. in ihrer polizeilichen Vernehmung am 15. März 2022 nicht die Wahrheit mitgeteilt hat“.

Diese vagen Ausführungen sind ungeeignet, dem Senat die Überzeugung zu verschaffen, die Zeugin dürfe die Auskunft nach § 55 Abs. 1 StPO verweigern. Denn bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder die rein denktheoretische Möglichkeit, eine frühere Aussage könne falsch gewesen sein, begründen keinen prozessual ausreichenden Anfangsverdacht für eine strafbare Handlung und folglich auch kein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (vgl. BGH NStZ 1999, 415; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 49; OLG Köln, Beschluss vom 4. März 2013 – 3 Ws 120/13 -, Beschluss 2013, 8021; OLG Koblenz, StV 1986, 474). Anderenfalls hätte es jeder Zeuge, der einen anderen zunächst be- oder entlastet hat, in der Hand, allein mit dem bloßen Einwand, die ursprüngliche Aussage könnte falsch gewesen sein, jede weitere Auskunft zu verweigern (vgl. Bader in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Aufl., § 55 Rn. 9 [unter Hinweis auf BGH NStZ 1999, 415]). Die Aussage vom 15. März 2022, auf welche sich der Rechtsanwalt ausdrücklich bezieht, hat auch nur eine Stoßrichtung, sie belastet den Beschwerdeführer. Keineswegs macht der Rechtsanwalt geltend, die Zeugin habe sich angesichts sich widersprechender Aussagen notwendigerweise strafbar gemacht, weshalb sie nun gar nicht anders agieren könne, als sich zu belasten.

Prägnant und anschaulich formuliert die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auch, dass sich „die Angaben der Zeugin X. derart in das Ergebnis der Ermittlungen“ einfügen, „dass derzeit keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zeugin ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zusteht“. Dem folgt der Senat.

b) Auch die Ankündigung des (Interessen-) Vertreters der Zeugin, diese werde ein „Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO“ geltend machen, ist nicht geeignet, die bisherige Bewertung der Beweislage nachhaltig zu erschüttern. Die Ankündigung wird mit folgenden beiden Sätzen begründet:

„Darüber hinaus hat sie sich mit Herrn A. ausgesprochen. Man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten.“

aa) Die Formulierung, „man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten“, ist gänzlich unverbindlich und erfüllt die Voraussetzungen eines nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO bestehenden (und nach § 56 StPO auf Verlangen glaubhaft zu machenden) Verlöbnisses nicht.

aaa) Die Wahl des unpersönlichen Indefinitpronomens „man“ lässt bereits offen, ob es sich um einen Wunsch der Zeugin oder des Angeklagten handelt oder ob es um einen übereinstimmenden Wunsch geht.

bbb) Aber selbst wenn letzteres feststünde, wäre kein Verlöbnis dargelegt. Denn bei einem Verlöbnis handelt es sich um ein (nicht notwendig öffentliches) gegenseitiges und von beiden Seiten ernst gemeintes Eheversprechen (vgl. BGH NJW 1972, 1334). Die vom Rechtsanwalt gewählte Formulierung legt unter keinem Gesichtspunkt nahe, dass es hier um mehr als ein unverbindliches Anliegen geht. Die Unverbindlichkeit wird sprachlich noch dadurch gesteigert, dass ausgeführt wird, die Protagonisten wollten „nun doch wieder heiraten“, als ob der Verwender selbst nicht an die Richtigkeit der Bekundung glaubte, nachdem sich die Beteiligten mehrfach umentschieden hätten. Dass sich zwei Menschen ein ernsthaftes gegenseitiges Eheversprechen gegeben haben, ist der Formulierung jedenfalls nicht zu entnehmen.

ccc) Nicht befassen muss sich der Senat somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt damit, ob es sich bei dem – behaupteten – Eheversprechen um eine wirksame und damit strafprozessual zu beachtende Vereinbarung handelt. Zweifel daran könnten sich dadurch ergeben, dass die Zeugin bekundet hat, der Angeklagte habe sie für den Fall einer belastenden Aussage mit dem Tode bedroht. In diesem Zusammenhang könnte auch zu prüfen sein, ob ein polizeilicher Vermerk vom 10. Juni 2022 Bedeutung erlangt. In diesem heißt es, eine Person, der Geheimhaltung zugesichert worden sei, habe angegeben, der Beschwerdeführer beabsichtige, die Zeugin X. zu töten. Dies könnte Zweifel daran begründen, dass die Zeugin ihren Wunsch zu heiraten freiwillig geäußert hat. Gleichzeitig entstünden Zweifel an der Ernstlichkeit des (möglicherweise) vom Angeklagten geäußerten Heiratswunsches.“