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StPO I: Vorlage zum BGH wegen Vertretungsvollmacht, oder: Der BGH antwortet dem OLG Düsseldorf

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Heute stelle ich dann drei StPO-Entscheidungen vor, die alle etwas mit Vollmacht und/oder Vertretung zu tun habe.

Zunächst: Ich erinnere an den OLG Düsseldorf, Beschl. v. 08.09.2021 ? 2 RVs 60/21.

Ja, das war die Divergenzvorlage an den BGH zu den Anforderungen an die Vertretungsvollmacht in der Berufungshauptverhandlung (s. hier: StPO I: Vorlage zum BGH wegen Vertretungsvollmacht, oder: Das OLG Düsseldorf „traut“ sich).

Das OLG wollte vom BGG wissen:

„Genügt eine Vertretungsvollmacht, durch die dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Falle der Abwesenheit des Angeklagten, in allen Instanzen – ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – erteilt worden ist, den Anforderungen der in § 329 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO vorausgesetzten Vertretungsvollmacht?“

Nun hat es der BGH geschafft. Er hat mit dem BGH, Beschl. v. 24.01.2023 – 3 StR 386/21 – geantwortet:

Eine Erklärung, mit welcher der Angeklagte dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Fall der Abwesenheit des Angeklagten, in allen Instanzen – ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – erteilt hat, genügt den Anforderungen der in § 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO vorausgesetzten Vertretungsvollmacht.

Ok, nun wissen wir es . Ich frage mich bei solchen Geschichten immer, warum man dafür den BGH braucht. Nun klar, das OLG kann nicht anders, das muss fragen. Aber: Es ist doch bzw. sollte doch für einen Verteidiger kein Problem sein, seine Vollmacht an unterschiedliche Rechtsprechung anzupassen. Das mache ich. Und gut ist es. Schon ggf. im Interesse des Mandanten.

 

StPO III: Ein Besetzungseinwand ist keine Beschwerde, oder: Wenn (ahnungslose) „Künstler“ verteidigen

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Und zum Tagesschluss dann ein weiterer Beschluss des OLG Stuttgart, und zwar der OLG Stuttgart, Beschl. v. 01. Februar 2023 – 4 Ws 20/23 – zum Besetzungseinwand.

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs der schweren räuberischen Erpressung gemäß §§ 253, 255, 249, 250 Abs. 2 Nr. 1b) StGB Anklage zum LG erhoben. Eine (große) Strafkammer des LG hat diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, gegen den Angeklagten das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer angeordnet. Im selben Beschluss hat das LG bestimmt, dass die Große Strafkammer in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt sein wird. Gegen diese Besetzungsentscheidung wendet sich der Angeklagte mit seiner mit Verteidigerschriftsatz eingelegten Beschwerde mit der Begründung, der Umfang des Verfahrens gebiete eine Besetzung mit drei Berufsrichtern.

Das „Rechtsmittel“ hatte keinen Erfolg:

„1. Die Beschwerde des Angeklagten ist unzulässig.

a) Die Entscheidung über die in der Hauptverhandlung reduzierte Besetzung ist nicht selbständig mit der Beschwerde anfechtbar (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, juris Rn. 8; OLG Bremen, Beschluss vom 27. April 1993 – Ws 46 – 47/93, StV 1993, 350 – 351; Siolek in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 76 GVG Rn. 8; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 76 GVG Rn. 8a), wobei offen bleiben kann, ob sich die Unanfechtbarkeit im Wege der Beschwerde daraus ergibt, dass der Beschluss über die Gerichtsbesetzung Teil des Eröffnungsbeschlusses ist und an dessen Unanfechtbarkeit für den Angeklagten gemäß § 210 Abs. 1 StPO teilnimmt oder dass es sich bei der Entscheidung über die Gerichtsbesetzung um eine nicht der Beschwerde unterliegende der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung nach § 305 StPO handelt (vgl. zum Meinungsstand Siolek in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 76 GVG Rn. 8).

b) Eine Auslegung als Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO, der für den Einwand gegen die Gerichtsbesetzung mit zwei Berufsrichtern einschließlich des Vorsitzenden entweder in direkter (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 – 4 StR 657/98, BGHSt 44, 361 – 368; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Januar 2014 – III-1 Ws 50/14, juris Rn. 21) oder entsprechender (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, juris Rn. 11; OLG Dresden, Beschluss vom 28. Oktober 2021 – 3 Ws 95/21, BeckRS 2021, 40826 Rn. 10) Anwendung des § 222b Abs. 1 StPO der statthafte Rechtsbehelf wäre, ist angesichts der ausdrücklichen Bezeichnung des Rechtsmittels als „Beschwerde entsprechend § 304 StPO“ durch den Verteidiger des Angeklagten, der Fachanwalt für Strafrecht ist, nicht möglich. Der Schriftsatz würde außerdem in formeller Hinsicht nicht den an ihn nach § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen genügen, wonach die Tatsachen, aus denen sich die Vorschriftswidrigkeit der Besetzung ergeben soll, anzugeben sind. Entsprechend einer Rüge der Gerichtsbesetzung im Revisionsverfahren gemäß § 344 Abs. 2 StPO erfordert der Besetzungseinwand eine geschlossene und vollständige Darstellung der Verfahrenstatsachen (Gmel in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Aufl., § 222b Rn. 8). Alle einen behaupteten Besetzungsfehler begründenden Tatsachen müssen aus sich heraus, also ohne Bezugnahmen und Verweisungen auf andere Schriftstücke, insbesondere Anlagen, Aktenbestandteile oder Schriftsätze anderer Verfahrensbeteiligten, so konkret und vollständig innerhalb der Wochenfrist des § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO vorgebracht werden, dass eine abschließende Prüfung durch das nach § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO zuständige Rechtsmittelgericht ermöglicht wird (KG Berlin, Beschluss vom 1. März 2021 – 4 Ws 14/21, juris Rn. 7; OLG Celle, Beschluss vom 27. Januar 2020 – 3 Ws 21/20, juris Rn. 5; OLG München, Beschluss vom 12. Februar 2020 – 2 Ws 138/20, juris Rn. 15). Hierzu zählt auch, dass Umstände, die geeignet sein könnten, die vom Gericht beschlossene Besetzung zu begründen, nicht verschwiegen werden dürfen (OLG Celle aaO). Diesen Anforderungen genügt das Beschwerdeschreiben bereits deshalb nicht, weil es den für die Berechnung der Frist des § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO maßgeblichen Zustellungszeitpunkt des Beschlusses des Landgerichts Tübingen vom 5. Januar 2023 verschweigt.

2. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Einwand auch in der Sache nicht durchgreifen würde. Es liegt kein Fall des § 76 Abs. 2 Satz 3 GVG vor, insbesondere erscheint weder nach dem Umfang noch der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters erforderlich (§ 76 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 GVG). Nach § 76 GVG ist die Besetzung einer großen Strafkammer mit zwei Berufsrichtern die Regel, diejenige mit drei Berufsrichtern die Ausnahme (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, juris Rn. 7; Schuster in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., GVG § 76 Rn. 4). Zwar steht der das Hauptverfahren eröffnenden Strafkammer nach § 76 Abs. 2 GVG bei der Entscheidung über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung kein Ermessen zu. Die Dreierbesetzung ist zu beschließen, wenn dies nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache notwendig erscheint. Bei der Auslegung dieser gesetzlichen Merkmale ist der Strafkammer indes ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt, bei dessen Ausfüllung die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (BGH, Beschluss vom 14. August 2003 – 3 StR 199/03, juris Rn. 8; Diemer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Aufl., GVG § 76 Rn. 3). Bedeutsam für den Umfang der Sache sind etwa die Zahl der Angeklagten, Verteidiger und erforderlichen Dolmetscher, die Zahl der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten, die Zahl der Zeugen und anderen Beweismittel, die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung. Die überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sache kann sich aus der Erforderlichkeit umfangreicher Sachverständigengutachten, aus zu erwartenden Beweisschwierigkeiten oder aus der Komplexität der aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen ergeben (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, juris Rn. 15). Das ist hier nicht der Fall. Das Verfahren gegen einen Angeklagten wegen einer diesem zur Last gelegten Tat ist weder von besonderem Umfang noch von besonderer Schwierigkeit geprägt. Der Umfang der Ermittlungsakte liegt mit zwei Stehordnern und 646 Blatt für ein Verfahren vor einer großen Strafkammer eher im unteren durchschnittlichen Bereich. Seitens der Staatsanwaltschaft wurden insgesamt sieben Zeugen benannt, hiervon drei Polizeibeamte, und es wurden zwei Sachverständigengutachten eingeholt, ein DNA-Gutachten und ein anthropologische Gutachten, mithin regelmäßig in Strafverfahren erhobene und nicht besonders umfangreiche Sachverständigengutachten. Weiterhin enthält die Ermittlungsakte eine überschaubare Anzahl an Lichtbildern sowie die Videoaufzeichnungen der Tat. Auch besondere Schwierigkeiten in verfahrens- oder materiell-rechtlicher Hinsicht sind nicht ersichtlich. Insbesondere begründet die Tatsache, dass der Tatnachweis gegen den von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Angeklagten anhand dieser – in Anzahl und Komplexität überschaubaren – Beweismitteln zu führen sein wird, keine besondere Schwierigkeit, da der Tatnachweis anhand von Beweismitteln gerade das Wesen des Strafprozesses darstellt. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Tat bereits mehr als zwei Jahre zurück liegt, zumal die Staatsanwaltschaft zum Tatnachweis insbesondere ein DNA-Gutachten und ein anthropologische Gutachten heranzieht, die mit Zeitablauf gerade nicht an Beweiskraft verlieren. Eine Verhandlung in Dreierbesetzung ist demnach offenkundig nicht angezeigt. Zudem wäre für eine durchgreifende Rüge der fehlerhaften Gerichtsbesetzung ohnehin erforderlich, dass die Strafkammer ihre Entscheidung auf sachfremde Erwägungen gestützt oder den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat, so dass ihre Entscheidung objektiv willkürlich erscheint (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, juris Rn. 14; KG Berlin, Beschluss vom 1. März 2021 – 4 Ws 14/21, juris Rn. 13).“

Der Verteidiger scheint ein Künstler gewesen zu sein 🙂

StPO II: Berufungs-HV im Strafbefehlsverfahren, oder: Vertretung des nicht erschienenen Angeklagten?

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Als zweite OLG-Entscheidung zur StPO dann hier einen Beschluss zur Berufung im Strafbefehlsverfahren, und zwar zur Anwendung des § 411 StPO in der Berufungshauptverhandlung. Dazu führt der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.02.2023 – 1 ORs 2 Ss 45/22 – aus:

„Die zulässig erhobene Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte geltend macht, dass die Voraussetzungen für den Erlass eines Abwesenheitsurteils gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorgelegen hätten, ist begründet. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten zu Unrecht verworfen. Die Hauptverhandlung hätte gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO ohne den Angeklagten durchgeführt werden können. Der – zur Vertretung des Angeklagten gewillte und in der Hauptverhandlung anwesende – Verteidiger verfügte über die nachgewiesene Vertretungsvollmacht.

1. Gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Die allgemeine Verteidigervollmacht reicht insoweit nicht aus. Erforderlich ist eine besondere Vertretungsvollmacht im Sinne einer spezifischen Ermächtigung des Verteidigers, für den Angeklagten Erklärungen verbindlich abgeben und wirksam entgegen nehmen zu können, also die Rechtsmacht, den Angeklagten im Prozess in Erklärung und Willen zu vertreten (s. BT-Drucks. 18/3562 S. 67 f.; BGH, Beschluss vom 20.09.1956 – 4 StR 287/56, BGHSt 9, 356, 357 f.; KG, Beschluss vom 01.03.2018 – [5] 121 Ss 15/18 [11/18], juris Rn. 3 mwN).

Welche Anforderungen grundsätzlich an die Formulierung einer Vollmacht zu stellen sind, um den Anforderungen des § 329 Abs. 1 StPO zu genügen, kann vorliegend dahinstehen (s. zum Streitstand z.B. OLG Celle, Beschluss vom 18.01.2021 – 2 Ss 119/20, juris Rn. 22 ff.; Thüringer OLG, Beschluss vom 02.02.2021 – 1 OLG 331 Ss 83/20, juris Rn. 11 ff.; KG, Beschluss vom 01.03.2018 – [5] 121 Ss 15/18 [11/18], juris Rn. 4). Denn im Verfahren nach Erlass eines Strafbefehls genügt der Verweis auf § 411 Abs. 2 StPO. Insoweit gilt:

§ 411 Abs. 2 StPO, wonach ein entsprechend bevollmächtigter Verteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung vertreten kann, findet nach Erlass eines Strafbefehls im gesamten folgenden Verfahren und damit auch in der Berufungshauptverhandlung Anwendung. Diese Regelung lässt die Vertretung eines nicht erschienen Angeklagten ohne Einschränkung zu. Dies gilt selbst dann, wenn sein persönliches Erscheinen angeordnet worden wäre (s. OLG Dresden, Beschluss vom 24.02.2005 – 2 Ss 113/05, juris Rn. 2; KG, Beschluss vom 30.08.1999 – [3] 1 Ss 176/99 [78/99], juris Rn. 3; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.1983 – 2 Ws 678/83, StV 1985, 52; vgl. auch BT-Drucks. 18/3562 S. 52).

Hieran hat sich auch durch die Neufassung des § 329 StPO durch das Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe vom 17.07.2015 (BGBl. I S. 1332) nichts geändert (so auch Thüringer OLG, Beschluss vom 01.10.2019 – 1 OLG 161 Ss 83/19, juris Rn. 12; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 14; Maur in KK-StPO, 9. Aufl., § 411 Rn. 18; Metzger in KMR, 89. Lfg., § 411 Rn. 17; vgl. auch Gaede in LR-StPO, 27. Aufl., § 411 Rn. 35; Paul in KK-StPO, 9. Aufl., § 329 Rn. 6; Wolter in SK-StPO, 5. Aufl., § 411 Rn. 10). Durch die Neufassung des § 329 StPO sollte die Rechtsprechung des EGMR (s. Urteil vom 08.11.2012 – Az. 30804/07, Neziraj./.Bundesrepublik Deutschland) umgesetzt werden, wonach das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK garantierte Recht des Angeklagten, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, und der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt seien, wenn die Berufung eines abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von ihm bevollmächtigten Vertreters gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen werde (s. BT-Drucks. 18/3562 S. 53). Der Gesetzgeber wollte daher die bereits damals gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, in der Berufungsinstanz in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, erweitern und nicht dadurch einschränken, dass eine Vertretungsvollmacht im Sinne des § 411 Abs. 2 StPO in Abkehr zur damals geltenden Rechtslage nicht mehr den Anforderungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO n.F. genügen sollte (vgl. BT-Drucks. 18/3562 S. 51 f.).

2. Da sich die vorliegend dem Verteidiger ausgestellte Vollmacht unter anderem auf die „Vertretung und Verteidigung in Strafsachen und Bußgeldsachen (§§ 302, 274 StPO) einschließlich der Vorverfahren sowie (für den Fall der Abwesenheit) Vertretung nach § 411 II StPO […]“ erstreckte, lag mithin kein Fall des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vor. Das angefochtene Verwerfungsurteil war daher aufzuheben.“

StPO I: Verbreitung pornographischer Schriften, oder: Beweisantrag auf Anhörung eines Sachverständigen

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Heute stelle ich dann nochmals StPO-Entscheidungen vor, und zwar 3 x OLG.

Hier kommt zunächst der OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.01.2023 – 1 Rv 24 Ss 991/22 – mit folgendem Sachverhalt:

Der Angeklagte ist vom LG im Berufungsverfahren u.a. wegen Verbreitung pornographischer Schriften verurteilt worden. Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung in Bezug auf die Abbildungen, die Gegenstand des Verfahrens waren, beantragt, „zum Beweis der Tatsache, dass bei durchschnittlichen Betrachtern (…) andere als sexuelle Empfindungen entstehen“ sowie „zu der Tatsache, dass der durchschnittliche Betrachter bei den Bildern (…) den weiblichen Anus erst auf den zweiten Blick wahrnimmt“ ein Sachverständigengutachten einzuholen. In der Begründung des Antrags wurde ausgeführt, dass die Bilder „unsittlich, anstößig oder ekelerregend für die einen, lustig für die anderen sein mögen“ und dass in erster Linie zunächst das in der Abbildung zu sehende Wort bzw. Emoji wahrgenommen werde, die jeweils in die Abbildung hineinmontiert seien, sodass der Anus als Teil des Wortes oder des Emojis erscheine. Das LG hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass mit dem Beweisantrag Rechtsanwendung begehrt werde. Der Begriff der Pornographie sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Klassifizierung dem Tatrichter überlassen bleibe. Das angebotene Beweismittel sei daher ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 StPO.

Das OLG hat die Revision des Angeklagten verworfen:

„b.) Das Landgericht hat hierdurch nicht gegen § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO verstoßen. Denn es liegt bereits kein Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO vor. Danach hat der Antragsteller eine bestimmte Tatsache konkret zu behaupten und ein bestimmtes Beweismittel zu bezeichnen, wobei dem Antrag zu entnehmen sein muss, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Beweistatsache belegen können soll. Hier fehlt es teilweise schon an der konkreten Bezeichnung eines bestimmten Beweismittels (aa.). Im Übrigen ist die Konnexität zwischen der behaupteten Tatsache und dem Beweismittel nicht dargetan (bb.).

aa.) Der Wortlaut des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, wonach ein Beweisantrag voraussetzt, dass der Antragsteller eine bestimmte Tatsache konkret behaupten muss, belegt, dass der Gesetzgeber der präzisen Formulierung der Beweistatsache besonders hohes Gewicht beimisst. Die Tatsache muss generell geeignet sein, in ihrem im Beweisantrag enthaltenen Wortlaut zur Urteilsgrundlage zu werden, also als Teil der Feststellungen in den Urteilssachverhalt einzugehen oder zumindest als Indiztatsache Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu werden (Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl. (2019), Rn. 167).

Der Gesetzgeber normiert damit hinsichtlich der Konkretisierung der Beweisbehauptung ein Optimierungsgebot. Es hält im Fall des Sachverständigenbeweises den um den Nachweis wissenschaftlicher Erfahrungssätze bemühten Antragsteller dazu an, möglichst genau zu beschreiben, welche Umstände in Kombination mit bestimmten Erfahrungssätzen darauf fußende Schlussfolgerungen nahelegen oder ausschließen. Die Mahnung, dass gerade bei Anträgen auf Anhörung eines Sachverständigen keine überspannten Anforderungen an die Formulierung einer Beweisbehauptung gestellt dürfen, da der Antragsteller vielfach nicht in der Lage sei, die seinem Beweisziel zugrundeliegenden Vorgänge und Zustände exakt zu bezeichnen (BGH, Urteil vom 9. Juli 2015 – 3 StR 516/14 –, NStZ 2016, 116 sowie Beschluss vom 10. April 2019 – 4 StR 25/19 –, NStZ 2019, 628), befreit den Antragsteller nicht davon, Aufwand für Recherche und Überlegung zu betreiben. Sie ist kein „Freibrief für liederliche Antragsabfassung“ (Ventzke in NStZ 2019, 629 (630)).

Danach gilt vorliegend Folgendes: In der Antragsbegründung wird präzisiert, welche Wahrnehmung ein durchschnittlicher Betrachter dieser Bilder auf den ersten Blick machen soll. Damit kann dem Antrag im Wege der Auslegung die Behauptung einer konkreten Tatsache, in diesem Fall innerpsychische Vorgänge oder Gegebenheiten (vgl. Krehl in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. (2023), § 244 Rn. 69) mit potentieller Bedeutung für die Schuldfrage, entnommen werden. Denn ein pornographischer Inhalt zeichnet sich wesentlich dadurch aus, in seiner Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf sexuelle Stimulation angelegt zu sein (Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 184 Rn. 8 m. w. N.).

Hingegen fehlt es dem Antrag, soweit er auf den Nachweis „anderer als sexueller Empfindungen“ gerichtet ist, an der bestimmten Behauptung einer konkreten Tatsache. Denn diese Wendung umschreibt – auch unter Berücksichtigung der Antragsbegründung – nur das mit der Beweiserhebung verfolgte Ziel. Welche Empfindungen hier genau entstehen, ist nicht bestimmt mitgeteilt. Stattdessen werden nur Mutmaßungen in verschiedenste Richtungen („unsittlich, anstößig, Ekel erregend, lustig“) angestellt, die ihrerseits zumindest in Teilen Wertungscharakter tragen.

bb.) Die Angabe eines bestimmten Beweismittels verlangt beim Antrag auf Anhörung eines Sachverständigen schon mit Blick auf die Auswahlbefugnis des Gerichts gemäß § 73 Abs. 1 StPO nicht die Angabe eines ganz bestimmten Sachverständigen (allgemeine Ansicht, vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. (2022), § 244 Rn. 21). Grundsätzlich ist auch die ausdrückliche Angabe des Fachgebietes nicht erforderlich, da sich dieses ohne weiteres aus der Angabe der Beweistatsache oder des Beweisziels ergibt (KK/Krehl, a.a.O, Rn. 80; abweichend Hamm/Pauly, Rn. 153). Hieran schließt das Konnexitätserfordernis in § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO an. Dieses verlangt, dass dem Antrag nachvollziehbar zu entnehmen sein muss, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Einer ausdrücklichen Darlegung hierzu bedarf es indes nicht, wenn sich – wie dies bei Anträgen auf Anhörung eines Sachverständigen häufig der Fall ist – der erforderliche Zusammenhang von selbst versteht (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2014 – 1 StR 379/13 –, NStZ 2014, 282 (283); KK/Krehl, a.a.O., Rn. 83; Schmitt, a.a.O., Rn. 21b).

Die hier zu entscheidende Konstellation liegt jedoch anders. Denn die vom Antragsteller behaupteten Empfindungen und Wahrnehmungen können die Expertise ganz unterschiedlicher Fachgebiete betreffen. Dies zeigt schon der Stand von Rechtsprechung und Literatur zur Auslegung des Pornographiebegriffs. So wurden in dem dem „Opus Pistorum“-Urteil des BGH vom 21. Juni 1990 (1 StR 477/89BGHSt 37, 55) zugrundeliegenden Fall gleich mehrere Literatursachverständige angehört. Frommel bezieht sich auf die Erkenntnisse von Lernforschern sowie Medien- und Kommunikationswissenschaftlern (NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 184e Rn. 8). Laue (in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. (2022), § 184 StGB Rn. 5) sieht ein Erfordernis, den schädigenden Einfluss auf Kinder und Jugendliche zu klären, was einer gutachtlichen Prüfung bedürfe. Unschwer ist somit denkbar, dass hier fachspezifische Kenntnisse aus dem Bereich der Psychologie, anderer Kulturwissenschaften (vgl. etwa LK/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl. (2009), § 184 Rn. 11: „Künstlerisch vorgebildete Menschen“; ebenso Hörnle in: Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl. (2021), § 184 Rn. 26) oder medizinischer Disziplinen (Sexualmedizin, Neurologie, Psychiatrie) von Belang sein können.

Spricht also die dem Beweisantrag zugrundeliegende Thematik somit eine Fülle unterschiedlicher Fachgebiete an, von denen nicht eines von vorne herein klar im Vordergrund steht, so gebietet es das Konnexitätserfordernis, im Beweisantrag Darlegungen zum Fachgebiet des Sachverständigen anzubringen, dessen Anhörung der Antragsteller wünscht. Denn anderenfalls ist dem Gericht die sinnvolle Prüfung des Ablehnungsgrundes der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels nicht möglich (BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 38/08BGHSt 52, 284 (288); Schmitt, a.a.O., Rn. 21; Bachler in: BeckOK-StPO, 46. Edition (Stand 1. Januar 2023), § 244 Rn. 25). An solchen Ausführungen fehlt es in dem Antrag.

c.) Daher war das Begehren als Beweisermittlungsantrag zu behandeln. Dessen Ablehnung ist vom Revisionsgericht unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu prüfen. Hiernach erweist sich die Rüge als unzulässig, da die Revisionsbegründung weder vorträgt, welche konkreten Ergebnisse das Gutachten des Sachverständigen erbracht hätte, noch, aufgrund welcher Umstände und Vorgänge sich die Strafkammer zu dieser Beweiserhebung gedrängt sehen musste (BGH, Urteil vom 15. September 1998 – 5 StR 145/98 –, NStZ 1999, 45 (46); vgl. KK/Krehl, a.a.O., Rn. 216 m. w. N.). Dies gilt umso mehr, als die in der Revisionsbegründung angeführte Kommentierung (Hörnle, a.a.O.) zur Anhörung eines Sachverständigen in derartigen Fällen ausdrücklich hervorhebt: „Notwendig ist dies jedoch regelmäßig nicht.“

Absprache III: Der Umfang der Urteilsaufhebung, oder: Aufhebung auch des rechtsfehlerfreien Schuldspruchs

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Und als letzte Entscheidung dann noch einmal etwas vom BGH, und zwar das zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehene BGH, Urt. v. 23.11.2022 – 5 StR 347/22.

Das LG hat den Angeklagten wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und eine Einziehungsanordnung getroffen. Das LG hat im Urteil eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten angenommen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil zuungunsten des Angeklagten Revision eingelegt und die mit der Sach- und einer Verfahrensrüge begründet. Während sie mit der Rüge der Verletzung formellen Rechts keinen Erfolg hatte, hatte die Sachrüge Erfolg.

Der BGH hat aber nicht nur den Strafausspruch wegen Rechtsfehlern bei der Anwendung des § 21 StGB aufgehoben, sondern das Urteil insgesamt. Dazu führt der BGH im Hinblick auf § 353 StPO und auf das vom im Rahmen einer Verständigung abgelegte Geständnis aus:

„2. Der Rechtsfehler bei der Strafbemessung zwingt hier in Abweichung von dem revisionsrechtlichen Regelungskonzept zu einer umfassenden Aufhebung des Urteils.

Nach § 353 Abs. 1 StPO ist ein angefochtenes Urteil zwar nur insoweit aufzuheben, als die Revision für begründet erachtet wird; die Feststellungen unterliegen nur der Aufhebung, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Gemessen daran wäre lediglich der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und der von dem Rechtsfehler nicht betroffene Schuldspruch würde in Rechtskraft erwachsen.

Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens aber, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser – wie hier – auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht. Das ergibt sich aus Folgendem:

a) Nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht ist das zur Entscheidung berufene Tatgericht nicht an eine Verständigung gebunden, die in der Vorinstanz zustande gekommen war. Zwar ist der Wegfall der Bindungswirkung ausdrücklich nur in den Fällen vorgesehen, in denen rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, der in Aussicht gestellte Strafrahmen sei nicht mehr tat- oder schuldangemessen, oder in denen das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist (§ 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO). Die Bindungswirkung einer Verständigung gilt nach § 257c StPO aber nur für das Gericht, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat; das nach Zurückverweisung zuständige (neue) Tatgericht ist nach dem Willen des Gesetzgebers nicht an die Verständigung gebunden (vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 15). Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass andernfalls Richter, die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden könnten. Es entspricht daher sowohl der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch der ganz überwiegenden Auffassung in der Literatur, dass nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht das neue Tatgericht nicht an die in der Vorinstanz getroffene Verständigung gebunden ist (vgl. BGH, Urteile vom 1. Dezember 2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373, 374; vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257c Rn. 27c; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-StPO/Ignor/Wegener, 4. Aufl., § 257c Rn. 88; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 64; BeckOK StPO/Eschelbach, 45. Ed., § 257c Rn. 30a; MüKo-StPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 148; HK-StPO/Temming, 6. Aufl., § 257c Rn. 32; ebenso für die Berufungsinstanz OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295 mwN; aA Kuhn StV 2012, 10, 11 f.; siehe auch SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 257c Rn. 29).

b) Die bloße Anwendung von § 353 StPO auf einen solchen Fall würde zudem zu einem nicht tragfähigen Ergebnis führen: Der Schuldspruch würde rechtskräftig, der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Das Verschlechterungsverbot (§§ 331, 358 Abs. 2 StPO) gälte nicht, weil die Staatsanwaltschaft die Revision zuungunsten des Angeklagten eingelegt hatte. Das neue Tatgericht wäre nicht an die in der Vorinstanz zustande gekommene Verständigung gebunden und könnte gegen den Angeklagten deshalb eine Strafe verhängen, die über die im ersten Rechtsgang zugesagte Strafobergrenze hinausginge. Ohne Belang bliebe danach, dass der Schuldspruch (auch) auf einem Geständnis beruht, das der Angeklagte im Vertrauen auf diese Zusage abgegeben hatte. Im Ergebnis würde hiernach ein im Hinblick auf eine zustande gekommene Verständigung abgegebenes Geständnis verwertet, obwohl diese keinen Bestand hat. Dies wäre unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Im Einzelnen:

aa) Der Gesetzgeber hat der Geltung dieses Grundsatzes mit der Regelung des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO für das Verständigungsverfahren ausdrücklich Rechnung getragen (BT-Drucks. 16/12310, S. 14). Danach darf ein im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis nicht verwertet werden, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Zwar ist das gesetzliche Verwertungsverbot in einer wie der hier gegebenen Konstellation nicht unmittelbar anwendbar, weil es nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung nur eingreift, wenn sich das Gericht aus einem der in § 257c Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO genannten Gründe von der Verständigung gelöst hat. Ebenso wenig kommt eine entsprechende Anwendung des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO in Betracht (so indes OLG Düsseldorf StV 2011, 80, 81), da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37 mwN). Die Geltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens beschränkt sich im Zusammenhang mit Verständigungen im Sinne des § 257c StPO jedoch nicht auf die der Regelung des § 257c Abs. 4 StPO zugrunde liegende Konstellation. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Normierung des Verwertungsverbots dem Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens allgemein „Rechnung getragen“ (BT-Drucks. 16/12310, S. 14); dieser Grundsatz stellt ein dem gesamten Strafverfahren und mithin auch dem gesamten Verständigungsverfahren übergeordnetes Leitprinzip dar (vgl. MüKo-StPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 172).

bb) Davon ausgehend ist die obergerichtliche Rechtsprechung und die Literatur – teils allerdings unter entsprechender Anwendung von § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO – überwiegend der Auffassung, dass ein in der ersten Instanz im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis unverwertbar ist, wenn sich das Berufungsgericht von einer in der ersten Instanz erzielten Verständigung lösen will (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; OLG Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – III-1 RVs 79/17 Rn. 20; OLG Naumburg NStZ 2018, 238, 239; OLG Düsseldorf StV 2011, 80, 81; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257c Rn. 29b; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-StPO/Ignor/Wegener, 4. Aufl., § 257c Rn. 116; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 88; BeckOK StPO/Eschelbach, 45. Ed., § 257c Rn. 37; aA HK-StPO/Temming, 6. Aufl., § 257c Rn. 32). Die Beschränkung eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auf den Strafausspruch wird dann überwiegend für unwirksam erachtet (vgl. OLG Hamm aaO; OLG Düsseldorf aaO, 82; OLG Naumburg aaO; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 318 Rn. 17; LR/Stuckenberg, aaO; SSW-StPO/Ignor/Wegener, aaO Rn. 126; BeckOK StPO/Eschelbach, aaO, § 318 Rn. 23; Schneider NZWiSt 2015, 1, 4; offen gelassen von OLG Nürnberg NStZ-RR 2012, 255, 256; siehe auch Wenske NStZ 2015, 137, 143).

cc) Der Bundesgerichtshof hat sich aus den gleichen Gründen für ein Verbot der Verwertung des im Hinblick auf eine Verständigung in der ersten Instanz abgegebenen Geständnisses ausgesprochen, wenn das Urteil auf eine Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben wird und das nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufene Tatgericht sich nicht von sich aus an die vom Erstgericht zugesagte Strafobergrenze binden will (vgl. BGH, Urteile vom 1. Dezember 2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373, 374; vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20, NStZ 2021, 568, 570 f.; abweichend BGH, Urteil vom 28. Februar 2013 – 4 StR 537/12, NStZ-RR 2013, 373).

dd) Diesen dem Gebot eines fairen Verfahrens geschuldeten Grundsätzen kann das Revisionsgericht unter den hier gegebenen Umständen nur dadurch gerecht werden, dass es abweichend von § 353 Abs. 1 StPO nicht nur den Strafausspruch, sondern auch den Schuldspruch aufhebt und die Sache insgesamt zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverweist. Nur so kann das schützenswerte Vertrauen des Angeklagten in das Gegenseitigkeitsverhältnis seines Geständnisses und der zugesagten Strafobergrenze einerseits mit dem Umstand der fehlenden Bindungswirkung des neuen Tatgerichts an die Verständigung andererseits in Einklang gebracht werden. Denn hätte das neue Tatgericht lediglich noch über den Strafausspruch zu entscheiden, könnte es mangels Bindung an die erstinstanzliche Verständigung über die zugesagte Strafobergrenze hinausgehen, obwohl das im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebene Geständnis des Angeklagten infolge der Rechtskraft des Schuldspruchs faktisch die Grundlage für diese Entscheidung bilden würde. Dies wäre aber ebenso wie in den vorgenannten Konstellationen nicht mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Dass das Geständnis in der hier gegebenen Konstellation durch das neue Tatgericht nicht nach § 261 StPO verwertet, sondern infolge der revisionsrechtlichen Regelungen der §§ 353, 354 Abs. 2 StPO und der sich daraus ergebenden Teilrechtskraft bei der Entscheidung über den Strafausspruch ohne weiteres zur Geltung kommen würde, ist für die Frage, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt ist, nicht von entscheidender Bedeutung.

3. Zu der mit derselben Zielrichtung erhobenen Verfahrensrüge bemerkt der Senat:

Hält das Gericht trotz veränderter Beurteilungsgrundlage an einer zuvor getroffenen Verständigung fest, kommt ein Verfahrensverstoß gegen § 257c Abs. 4 StPO nur dann in Betracht, wenn der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage kommt dem Gericht – wie auch sonst bei Wertungsakten im Rahmen der Strafzumessung – ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Dieser ist erst überschritten, wenn der zugesagte Strafrahmen nicht mehr mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist und sich damit als unvertretbar erweist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 280). So liegt der Fall indes nicht. Nach der vom Landgericht angenommenen Milderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB sah der gesetzliche Strafrahmen die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu elf Jahren und drei Monaten vor; der zugesagte von vier Jahren und sechs Monaten bis zu fünf Jahren und sechs Monaten hielt sich in diesem Rahmen.“

Zu dem vom Angeklagten im Rahmen der Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis merkt er noch an:

„1. Das in der ersten Hauptverhandlung abgelegte Geständnis des Angeklagten darf verwertet werden, wenn das neue Tatgericht den Rahmen der in der ersten Instanz getroffenen Verständigung nicht verlässt, also insbesondere die Strafobergrenze nicht überschreiten will (vgl. BGH, Urteile vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; vom 23. Januar 2019 – 5 StR 479/18 Rn. 43; offengelassen BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20, NStZ 2021, 568, 571). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der zugesagte Strafrahmen nach dem Inbegriff der neuen Verhandlung mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 280; Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 1 StR 421/12, StV 2013, 193, 194).“