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StPO II: Berufungs-HV im Strafbefehlsverfahren, oder: Vertretung des nicht erschienenen Angeklagten?

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Als zweite OLG-Entscheidung zur StPO dann hier einen Beschluss zur Berufung im Strafbefehlsverfahren, und zwar zur Anwendung des § 411 StPO in der Berufungshauptverhandlung. Dazu führt der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.02.2023 – 1 ORs 2 Ss 45/22 – aus:

„Die zulässig erhobene Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte geltend macht, dass die Voraussetzungen für den Erlass eines Abwesenheitsurteils gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorgelegen hätten, ist begründet. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten zu Unrecht verworfen. Die Hauptverhandlung hätte gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO ohne den Angeklagten durchgeführt werden können. Der – zur Vertretung des Angeklagten gewillte und in der Hauptverhandlung anwesende – Verteidiger verfügte über die nachgewiesene Vertretungsvollmacht.

1. Gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Die allgemeine Verteidigervollmacht reicht insoweit nicht aus. Erforderlich ist eine besondere Vertretungsvollmacht im Sinne einer spezifischen Ermächtigung des Verteidigers, für den Angeklagten Erklärungen verbindlich abgeben und wirksam entgegen nehmen zu können, also die Rechtsmacht, den Angeklagten im Prozess in Erklärung und Willen zu vertreten (s. BT-Drucks. 18/3562 S. 67 f.; BGH, Beschluss vom 20.09.1956 – 4 StR 287/56, BGHSt 9, 356, 357 f.; KG, Beschluss vom 01.03.2018 – [5] 121 Ss 15/18 [11/18], juris Rn. 3 mwN).

Welche Anforderungen grundsätzlich an die Formulierung einer Vollmacht zu stellen sind, um den Anforderungen des § 329 Abs. 1 StPO zu genügen, kann vorliegend dahinstehen (s. zum Streitstand z.B. OLG Celle, Beschluss vom 18.01.2021 – 2 Ss 119/20, juris Rn. 22 ff.; Thüringer OLG, Beschluss vom 02.02.2021 – 1 OLG 331 Ss 83/20, juris Rn. 11 ff.; KG, Beschluss vom 01.03.2018 – [5] 121 Ss 15/18 [11/18], juris Rn. 4). Denn im Verfahren nach Erlass eines Strafbefehls genügt der Verweis auf § 411 Abs. 2 StPO. Insoweit gilt:

§ 411 Abs. 2 StPO, wonach ein entsprechend bevollmächtigter Verteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung vertreten kann, findet nach Erlass eines Strafbefehls im gesamten folgenden Verfahren und damit auch in der Berufungshauptverhandlung Anwendung. Diese Regelung lässt die Vertretung eines nicht erschienen Angeklagten ohne Einschränkung zu. Dies gilt selbst dann, wenn sein persönliches Erscheinen angeordnet worden wäre (s. OLG Dresden, Beschluss vom 24.02.2005 – 2 Ss 113/05, juris Rn. 2; KG, Beschluss vom 30.08.1999 – [3] 1 Ss 176/99 [78/99], juris Rn. 3; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.1983 – 2 Ws 678/83, StV 1985, 52; vgl. auch BT-Drucks. 18/3562 S. 52).

Hieran hat sich auch durch die Neufassung des § 329 StPO durch das Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe vom 17.07.2015 (BGBl. I S. 1332) nichts geändert (so auch Thüringer OLG, Beschluss vom 01.10.2019 – 1 OLG 161 Ss 83/19, juris Rn. 12; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 14; Maur in KK-StPO, 9. Aufl., § 411 Rn. 18; Metzger in KMR, 89. Lfg., § 411 Rn. 17; vgl. auch Gaede in LR-StPO, 27. Aufl., § 411 Rn. 35; Paul in KK-StPO, 9. Aufl., § 329 Rn. 6; Wolter in SK-StPO, 5. Aufl., § 411 Rn. 10). Durch die Neufassung des § 329 StPO sollte die Rechtsprechung des EGMR (s. Urteil vom 08.11.2012 – Az. 30804/07, Neziraj./.Bundesrepublik Deutschland) umgesetzt werden, wonach das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK garantierte Recht des Angeklagten, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, und der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt seien, wenn die Berufung eines abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von ihm bevollmächtigten Vertreters gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen werde (s. BT-Drucks. 18/3562 S. 53). Der Gesetzgeber wollte daher die bereits damals gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, in der Berufungsinstanz in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, erweitern und nicht dadurch einschränken, dass eine Vertretungsvollmacht im Sinne des § 411 Abs. 2 StPO in Abkehr zur damals geltenden Rechtslage nicht mehr den Anforderungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO n.F. genügen sollte (vgl. BT-Drucks. 18/3562 S. 51 f.).

2. Da sich die vorliegend dem Verteidiger ausgestellte Vollmacht unter anderem auf die „Vertretung und Verteidigung in Strafsachen und Bußgeldsachen (§§ 302, 274 StPO) einschließlich der Vorverfahren sowie (für den Fall der Abwesenheit) Vertretung nach § 411 II StPO […]“ erstreckte, lag mithin kein Fall des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vor. Das angefochtene Verwerfungsurteil war daher aufzuheben.“