Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Pflichti I: 2 x aus Halle zu den Beiordnungsgründen, oder: Gesamtstrafenfähigkeit und Akteneinsicht

© fotomek – Fotolia.com

Und heute dann Entscheidungen aus der Ecke „Pflichtverteidigung“. Ein paar habe sich seit dem letzten Pflichti-Tag wieder angesammelt.

Hier zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Das LG Halle führt im LG, Beschl. v. 13.06.2023 – 3 Qs 60/23 – noch einmal zur Frage der Beiordnung im Fall der Gesamtstrafenfähigkeit aus:

„Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO sind gegeben, da wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.

Da das Datum sowohl der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat als auch der ihm im Verfahren 560 Js 205230/21 vor dem Amtsgericht Naumburg vorgeworfenen Taten jeweils nach dem Erlass des zuletzt gegen den Angeklagten ergangenen Strafbefehls des Amtsgerichts Naumburg vom 08.02.2021 liegt, sind die Taten aus dem Verfahren 560 Js 205230/21 mit der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat gesamtstrafenfähig. Auch wenn die Kammer aufgrund der dortigen Anklage vor dem Schöffengericht davon ausgeht, dass dem Angeklagten in Bezug auf das bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG ein — aus Sicht der Staatsanwaltschaft – minder schwerer Fall gemäß § 30a Abs. 3 BtMG vorgeworfen wird und ihm im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg daher nicht die nach § 30a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BtMG vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren droht, so ist doch angesichts der Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe für das dem Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg ebenfalls vorgeworfene Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG — welches zudem auch für das minder schwere bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln Sperrwirkung entfaltet — für den Fall einer Verurteilung insgesamt die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten. Drohen einem Beschuldigten aber in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Rechtsfolge“, also mindestens ein Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe, im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, soist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig (vgl. KG Berlin, Beschluss vorn 13. 12. 2018 — 3 Ws 290/18 Rn. 2; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. 05. 2013 – 2 Ss 65/13 -, Rn. 6; jeweils zitiert nach juris).“

Und die zweite Entscheidung kommt auch aus Halle, allerdings vom AG Halle. Es handelt sich um den AG Halle (Saale), Beschl. v. 02.06.2023 – 302 Cs 234 Js 6479/23 (64/23) .

„Es ist ersichtlich, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)).

Dies ergibt sich daraus, dass die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertritt, Name und weitere Daten der Anzeigenerstatterin müssten vor dem Beschuldigten geheim gehalten werden. Diese Überlegungen sind durchaus nachvollziehbar. Allerdings entsteht hierdurch für den Beschuldigten ein Informationsdefizit, welches dadurch ausgeglichen werden muss, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, welcher vollumfängliche Akteneinsicht erhält. Die Bitte der Staatsanwaltschaft BI. 46 Band II, dem Verteidiger keine Einsicht in das Sonderheft zu gewähren, ist unzulässig. Der Verteidiger muss, um seine Aufgaben erfüllen zu können, Einsicht in sämtliche dem Gericht zur Entscheidungsfindung vorliegenden Unterlagen haben. Insoweit ist eine Beschränkung seines gesetzlichen Rechts auf Akteneinsicht nicht statthaft. Aufgrund seiner berufsrechtlichen Stellung ist der Verteidiger allerdings vorliegend nicht befugt, dem Beschuldigten die von der Staatsanwaltschaft für geheimhaltungsbedürftig angesehenen Daten der Anzeigenerstatterin mitzuteilen, worauf er im Rahmen der Aktenübersendung ausdrücklich hingewiesen wurde.

Eine Anhörung der Staatsanwaltschaft zu der erfolgten Beiordnung ist nicht geboten. Der Staatsanwaltschaft lag der Beiordnungsantrag des Verteidigers bereits am 19.04.2023 vor. Wenn die Staatsanwaltschaft hierzu nicht inhaltlich Stellung nimmt, sondern lediglich die Akte mit einem Strafbefehlsantrag an das Gericht weiterleitet, hat sie hierdurch in genügendem Maße zu erkennen gegeben, dass sie zum Beiordnungsantrag nicht Stellung nehmen möchte.“

StPO III: Wenn ein Arrest schon sechs Jahre dauert, oder: (Endlich) Aufhebung wegen Zeitablaufs

© Style-Photography – Fotolia.com

Und als dritte und letzte Entscheidung dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.05.2023 – 12 Qs 16/23 –, der in einem Arrestverfahren ergangen ist. Folgender Sachverhalt:

Am 19.05.2017 wurde der Beschuldigte, ein italienischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Italien, von Beamten des Zollfahndungsamtes M einer Kontrolle unterzogen. Dabei wurde bei ihm Bargeld gefunden und vorläufig sichergestellt. Das Zollfahndungsamt informierte die italienischen Behörden hierüber; tatsächlich führte da bereits die Staatsanwaltschaft A (Italien) gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung. Am 17.05.2018 erließ das AG in Erfüllung des daraufhin eingegangenen italienischen Rechtshilfeersuchens einen Arrestbeschluss gegen den Beschuldigten über 249.050 EUR. Auf dessen Grundlage wurde das sichergestellte Bargeld i.H.v. 200.000 EUR gepfändet. Die Verteidigerin des Beschuldigten beschwerte sich gegen den Arrest. Am 22.01.2019 verwarf das OLG Nürnberg ihre weitere Beschwerde schließlich als unbegründet.

Am 10.01.2023 stellte die Verteidigerin beim AG erneut den Antrag, den Arrestbeschluss aufzuheben. Das lehnte das AG ab. Der Antrag sei unzulässig, weil der Arrestbeschluss vom 17.05.2018 durch Ausschöpfung des Rechtswegs in materielle Rechtskraft erwachsen sei und keine neuen Tatsachen vorlägen, die dessen Abänderung rechtfertigen.

Dagegen legte die Verteidigerin Beschwerde ein, die beim LG Erfolg hatte.

Wegen der Frage der Zuständigkeit – LG oder OLG? – verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das LG hat – m.E. zutreffend – seine Zuständigkeit bejaht.Zur Begründetheit führt das LG dann aus:

„3. Der Sachentscheidung der Kammer steht die Rechtskraft des Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 22. Januar 2020 nicht entgegen. Dieser ist zwar formell rechtskräftig; seine materielle Rechtskraft steht jedoch unter dem Vorbehalt der Abänderbarkeit.

Formelle Rechtskraft liegt vor, wenn eine Entscheidung mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbar ist. Materielle Rechtskraft führt demgegenüber zu einer Sperrwirkung in dem Sinne, dass der Gegenstand der getroffenen gerichtlichen Sachentscheidung nicht erneut zum Gegenstand einer neuen Sachentscheidung gemacht werden kann (vgl. Beulke in SSW-StPO, 5. Aufl., Einleitung Rn. 341 f.). Die auf weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1 Nr. 3 StPO) ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts über einen Arrest erwächst zwar in formelle, aber nur eingeschränkt auch in materielle Rechtskraft. Ändern sich die zugrundeliegenden Verhältnisse nämlich derart, dass der ursprünglichen Entscheidung die Grundlage entzogen wird, kann der Arrest später aufgehoben werden (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., Einleitung Rn. 166). Für den zivilprozessualen Arrest ist das ausdrücklich in § 927 Abs. 1 ZPO geregelt (vgl. G. Vollkommer in Zöller, ZPO, 34. Aufl., Vorbemerkungen zu §§ 916-945b Rn. 13). Beim strafprozessualen Arrest gilt nichts anderes. Der Annahme umfassender materieller Rechtskraft steht der vorläufige Charakter des Arrestes entgegen. Jede zum Arrest getroffene Entscheidung ist gleichsam eine Momentaufnahme und die Anforderungen an die Rechtfertigung seiner Aufrechterhaltung steigen mit der Dauer seines Vollzugs (BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 – 2 BvR 1986/14, juris Rn. 12; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. August 2021 – Ws 718/21, juris Rn. 14; OLG Hamm, Beschluss vom 23. Juni 2022 – III-5 Ws 94/22, juris Rn. 33). Gegenstand der neu vorzunehmenden Sachprüfung ist demgemäß auch nicht Frage der ursprünglichen Rechtmäßigkeit des Arrestes, sondern die Frage, ob der Arrest im Zeitpunkt der jetzt anstehenden Entscheidung noch rechtmäßig ist.

4. Der Arrest war aufzuheben, weil er nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden konnte (zum Übermaßverbot als Maßstab vgl. Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 8 f. m.w.N.).

Entgegen der Annahme des Amtsgerichts stellt allein schon der Zeitablauf, der seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg eingetreten ist, ein Novum dar, das zur neuen Sachentscheidung über den Arrest berechtigt. Es trägt eine neue – negative – Bewertung seiner Verhältnismäßigkeit. Dem Beschuldigten ist das gepfändete Geld seit nunmehr sechs Jahren (vorläufig) entzogen. Es wurde am 19. Mai 2017 vorläufig sichergestellt. Der Arrestbeschluss, der am 17. Mai 2018 vom Amtsgericht Nürnberg erlassen wurde und der seitdem vollzogen wird, besteht seit fünf Jahren. Das Oberlandesgericht hat den Sachverhalt am 22. Januar 2019 beurteilt. In der ganzen Zeit ist keine Entscheidung eines italienischen Gerichts ergangen, die zu einer Übergabe des gepfändeten Geldes nach Italien berechtigen würde. Die Anfragen der hiesigen Staatsanwaltschaft wurden von italienischer Seite entweder nicht beantwortet oder die von dort angekündigten Erledigungstermine sind fruchtlos verstrichen. So erhielt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 23. Mai 2019 die Mitteilung, gegen den Beschuldigten sei in Italien Anklage erhoben worden und am 11. Juni 2019 solle seine erste gerichtliche Anhörung stattfinden. Die Sachstandsanfragen vom 5. Dezember 2019 und 4. März 2020 blieben unbeantwortet. Am 18. Mai 2020 teilte die italienische Seite mit, die Sache sei noch bei Gericht und es sei nicht mit einem Abschluss vor Ende des Jahres zu rechnen. Am 17. Februar 2021 teilte sie mit, es sei mit einem Verfahrensabschluss im Januar 2022 auszugehen. Am 10. Oktober 2021 fragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth an, ob die italienischen Behörden ein Ersuchen nach Art. 10 Abs. 1 RB-Sicherstellung stellen wollen. Diese antworteten darauf nicht, ließen aber am 15. Dezember 2021 wissen, weitere Gerichtstermine seien im Zeitraum Januar bis März 2022 angesetzt, sodass ein Verfahrensabschluss im April 2022 möglich sei. Am 13. September 2022 wiederholte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre Anfrage. Am 6. Dezember 2022 ging eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft A ein, wonach die gerichtliche Anhörung des Beschuldigten am 6. und 20. Dezember 2022 fortgesetzt werden solle, allerdings sei damit zu rechnen, dass die Einziehungsentscheidung wegen voraussichtlicher Rechtsmittel nicht vollstreckbar sein würde. In einer Mitteilung der italienischen Behörden vom 15. Februar 2023 hieß es, ein Urteil solle am 7. März 2023 ergehen. Seitdem gingen hier keine weiteren Informationen ein. Die Aufrechterhaltung des Arrestes war nach alldem am Maßstab des deutschen Rechts nicht mehr zu rechtfertigen (Beispiele zur zulässigen Dauer des Arrestes bei Cordes, NZWiSt 2021, 45, 49 f. m.w.N.).

5. Die Kammer hat eine aufgrund des Arrestes ausgebrachte Forderungspfändung bereits aufgehoben (Beschluss vom 22. Februar 2023 – 12 Qs 75/22, juris, dazu instruktiv Bittmann, ZWH 2023, 81); nun wird auch gepfändete Bargeld auszukehren sein.“

StPO II: Durchsuchung wegen Steuerhinterziehung, oder: Nur „dürftige Beschreibung“ des Tatvorwurfs

Bild von Alexa auf Pixabay

Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.062023 – 12 Qs 24/23 – kommt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der Entscheidungen betreffend Durchsuchungsmaßnahmen.

Der Ermittlungsrichter des AG hatte gegen den Beschuldigten einen auf § 102 StPO gestützten Durchsuchungsbeschluss. Es sollte u.a. in seinem Wohnhaus nach diversen Unterlagen gesucht werden. Begründet war der – von der Steuerfahndung dem Ermittlungsrichter vorformuliert vorgelegte – Beschluss wie folgt:

„Der Beschuldigte wird beim Finanzamt unter der Steuernummer … geführt. Nach Erkenntnissen der Steuerfahndung erzielt der Beschuldigte ausschließlich Einkünfte aus der Beteiligung an der … oHG und geringe Einkünfte aus Kapitalvermögen. In seinem Eigentum befinden sich zwei Grundstücke. Seine in den Steuerbescheiden zu Grund gelegte Einkommenslage in den Jahren 2015 bis 2019 entspricht weder seinem Lebensstandard noch den Geldströmen aus seinen Bankkonten. Der Beschuldigte ist daher verdächtig folgende Steuerstraftaten begangen zu haben:

Hinterziehung der Einkommensteuer … 2015-2019 … der Gewerbesteuer und der Umsatzsteuer … 2015-2019“

Die Durchsuchung wurde vollzogen; die Durchsicht der aufgefundenen Papiere dauerte an. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte der Beschuldigte Beschwerde ein, die beim LG ERfolg hatte:

„1. Da die Durchsuchung in Form der Durchsicht nach § 110 StPO andauert, ist der Antrag, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung festzustellen, dahin umzudeuten, dass der Durchsuchungsbeschluss aufgehoben wird.

2. Die Aufhebung hatte zu erfolgen, weil der Durchsuchungsbeschluss den an ihn zu stellenden Mindestanforderungen nicht genügt.

a) Der Durchsuchungsbeschluss dient dazu, die Durchführung der Maßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten. Dazu muss er den Tatvorwurf und die gesuchten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie dies nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist. Der Betroffene wird auf diese Weise zugleich in den Stand versetzt, die Durchsuchung zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen von vornherein entgegenzutreten. In dem Beschluss muss zum Ausdruck kommen, dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft hat. Dazu ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen benannt werden. Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden (BVerfG, Beschluss vom 19.04.2023 – 2 BvR 2180/20, juris Rn. 28 f. m.w.N.).

b) Diesen seit langem geklärten Maßstäben genügt der angegriffene Beschluss nicht. Es fehlt schon eine hinreichende Beschreibung der vorgeworfenen Straftaten. Die Steuerhinterziehung ist ein Erklärungsdelikt. Strafbar macht sich, wer die Steuern falsch (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder pflichtwidrig nicht (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) erklärt. Hier ist nach der Beschlussbegründung noch nicht einmal klar, ob der Beschuldigte unrichtige Angaben gemacht hat oder ob die (wann und mit welchem Inhalt auch immer) ergangenen Steuerbescheide wegen Nichterklärung aufgrund von Schätzungen erlassen wurden. Ein Normzitat, das die Begehungsweise klären könnte (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO?), findet sich in dem Beschluss nicht. Sollten unrichtige Angaben gemacht worden sein, so ist nicht klar, wann was erklärt wurde und zu welcher Steuerfestsetzung dies geführt hat.

Für die Kammer ist ein Grund für die Dürftigkeit der Beschreibung des Tatvorwurfs nicht erkennbar. Der bei der Akte befindliche Verdachtsprüfungsvermerk enthält genügend tatsächliches Material, das dafür herangezogen werden könnte, die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes zu verbalisieren. Das ist unterblieben. Die Kammer könnte angesichts dieses Mangels eine Überzeugung, der Ermittlungsrichter habe die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft, nicht intersubjektiv vermittelbar begründen.

3. Die weiter beantragte Herausgabe der sichergestellten Asservate hat zu erfolgen, weil die Aufhebung des Durchsuchungsbeschlusses der vorläufigen Sicherstellung die Grundlage entzogen hat (BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – StB 17/22, juris Rn. 11).“

StPO I: Folgen rechtsstaatswidriger Tatprovokation, oder: „Aufstiftung“, oder erhebliche Einwirkung?

Bild von TheToonCompany auf Pixabay

Heute dann ein Tag mit StPO-Entscheidungen betreffend das Ermittlungsverfahren. Also nichts vom BGH, sondern aus der landgerichtlichen Rechtsprechung.

Ich starte mit dem LG Halle, Urt. v. 14.12.2022 – 16 KLs 540 Js 17049121 (16/21) – ja, schon etwas älter. Aber: Das Urteil behandelt mal eine interessante Konstellation, zu der es – m.E. – recht wenig „positive“ Entscheidungen gibt, nämöich die Frage der Folgen der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation.

Das LG hat zu dem fraglichen „Tatkomplex“ folgende Feststellungen getroffen:

„Der Angeklagte erwarb in der Vergangenheit kleinere Mengen Methamphetamin zwischen 10 bis 15 g, wobei er stets einen Teil der Betäubungsmittel (etwa 6 g) zum gewinnbringenden Weiterverkauf und den restlichen Teil zum Eigenkonsum bestimmte. Durch den gewinnbringenden Weiterkauf an im Einzelnen unbekannt gebliebene Abnehmer wollte er sich eine dauerhafte, zusätzliche Einnahmequelle verschaffen, um insbesondere seinen Eigenkonsum von Betäubungsmitteln zu finanzieren.

In Kenntnis des Umstands, dass er nicht über die zum Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte verfügte, kam es im Mai 2021 zu folgendem Betäubungsmittelgeschäft mit der bei der KPI Jena geführten Vertrauensperson „Maik“, die der Angeklagte für einen Betäubungsmittelabnehmer hielt:

Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im März 2021 fragte pp,  ein Bekannter des Angeklagten, bei diesem nach, ob er Methamphetamin besorgen könne. An dem Methamphetamin habe ein Bekannter (des pp.) namens „Maik“ Interesse.

Daraufhin vermittelte pp ein Treffen, an welchem der Angeklagte, „Maik“ und pp. teilnahmen. Das Treffen fand an einem nicht mehr genau feststellbaren Tag im März 2021 in der Lengefelder Straße in Sangerhausen unweit einer Spielothek statt. Bei dem Treffen erklärte „Maik“ dem Angeklagten unvermittelt, dass er mit Drogen Geld verdienen wolle und er deshalb daran interessiert sei, dass der Angeklagte ihm ein Kilogramm Methamphetamin besorge. Daraufhin erwiderte der Angeklagte, dass das „nicht seine Preisklasse bzw. Liga“ sei und er eine so große Menge Methamphetamin nicht besorgen könne. Aufgrund der ablehnenden Reaktion des Angeklagten war das Treffen bereits nach wenigen Minuten beendet und „Maik“, pp. sowie der Angeklagte gingen ohne Vereinbarung auseinander.

Da sich pp. eine Provision für die Vermittlung des Geschäfts zwischen dem Angeklagten und „Maik“ erhofft hatte, fragte er in der Folgezeit wiederholt mit Nachdruck beim Angeklagten wegen des Geschäfts nach, der aber stets ablehnend reagierte. An einem ebenfalls nicht mehr genau feststellbaren Tag im März 2021 suchte pp. den Angeklagten in dessen Gartenlaube auf, insistierte abermals und erklärte aber nunmehr, dass „Maik“ auch mit einer Lieferung von „nur“ 300 g Methamphetamin einverstanden sei. Dieses Mal ließ sich der Angeklagte von pp. überreden und gab diesem zu verstehen, dass er 300 g Methamphetamin für „Maik“ besorgen könne.

Am 19.05.2021 rief „Maik“ um 17:30 Uhr beim Angeklagten an und teilte diesem mit, dass er dessen Telefonnummer kurz zuvor von pp. erhalten habe. Außerdem fragte er den Angeklagten, ob dieser noch am selben Abend die 300 g Methamphetamin besorgen und ihm übergeben könne. Daraufhin kontaktierte der Angeklagte den inzwischen rechtskräftig verurteilten pp. aus Halle, der dem Angeklagten noch am selben Abend gegen 22:00 Uhr 300 g Methamphetamin lieferte. Um 22:14 Uhr rief „Maik“ beim Angeklagten an und vereinbarte mit diesem als Übergabeort den Bahnhof in Sangerhausen. Nachdem der Angeklagte den Parkplatz am Bahnhof in Sangerhausen erreicht hatte, stieg er zwischen 22:15 Uhr und 22:30 Uhr in das dort abgestellte Auto des „Maik“, setzte sich auf den Beifahrersitz und holte aus seiner Unterhose eine bunte Papiertüte, in welcher sich drei Folientüten mit jeweils 99,5 g, 99, 4 g und 99,3 g Methamphetamin mit einer Gesamtmasse von 243 g reiner Methamphetamin-Base befanden. Beim Verwiegen der einzelnen Folientüten durch „Maik“ erfolgte der Zugriff durch die Polizeibeamten.“

Das LG hat das Verfahren insoweit wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt:

„Hinsichtlich der Tat II. 1. der Urteilsgründe sowie der Anklage war das Verfahren gemäß §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Insoweit stand dem Verfahren wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK ein — von Amts wegen zu beachtendes — Verfahrenshindernis entgegen, da das Tatgeschehen von einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation geprägt war.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Gebot des fairen Verfahrens gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK durch eine polizeiliche Tatprovokation verletzt, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch einen Amtsträger oder eine von diesem geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist anzunehmen, wenn ein Verdeckter Ermittler oder eine polizeiliche Vertrauensperson mit dem Ziel, eine Tatbereitschaft zu wecken oder die Tatplanung zu intensivieren, über das bloße „Mitmachen“ hinaus mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt. Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, aber auch Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen in den Blick zu nehmen (BGH, Urteil vorn 16.12.2021 —1 StR 197/21 m. w. N. juris).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt eine polizeiliche Provokation Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn sich die Ermittlungsperson nicht auf eine „weitgehend passive“ Strafermittlung beschränkt hat (EGMR, Urteile vom 15.10.2020 —40495/15, 40913/15, 37273/15 — und vom 23.10.2014 — 54648/09 —, jeweils juris). Dabei ist zu prüfen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Täter an kriminellen Aktivitäten beteiligt oder tatgeneigt war (EGMR, Urteile vom 15.10.2020 — 40495/15, 40913/15, 37273/15 — und vom 23.10.2014 — 54648/09 —, jeweils juris). Für die Frage, ob eine Person tatgeneigt war, sind im Einzelfall u. a. die erwiesene Vertrautheit des Betroffenen mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln, dessen Fähigkeit, solche kurzfristig zu beschaffen, sowie seine Gewinnbeteiligung bedeutsam (EGMR, Urteile vom 23.10.2014 — 54648/09 — und vom 15.10.2020 —40495/15, 40913/15, 37273/15 —, jeweils juris). Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist weiterhin maßgeblich, ob auf den Angeklagten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat (EGMR, Urteile vom 23.10.2014 — 54648/09 — und vom 15.10.2020 — 40495/15, 40913/15, 37273/15 —, jeweils juris).

Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen („Aufstiftung“). In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob der Täter auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung ohne Weiteres eingeht, beziehungsweise sich geneigt zeigt, die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen oder an ihr mitzuwirken, Geht die qualitative Steigerung der Verstrickung des Täters mit einer Einwirkung durch die Ermittlungsperson einher, die von einiger Erheblichkeit ist, so liegt ein Fall der unzulässigen Tatprovokation vor (BGH, Urteil vom 16.12.2021 —1 StR 197/21 m. w. N. juris).

An diesen Maßstäben gemessen überschritt die der KPI Jena zuzurechnende Einflussnahme der Vertrauensperson „Maik“ auf das als Tat 1 angeklagte Geschehen die durch den Grundsatz des fairen Verfahrens und das Rechtsstaatsprinzip gezogenen Grenzen.

Der wegen Betäubungsmitteldelikten polizeibekannte, allerdings nicht wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestrafte Angeklagte handelte zwar bereits vor dem als Tat 1 angeklagten Verkaufsvorgang mit Methamphetamin, dies aber nur in Mengen, die den Grenzwert der nicht geringen Menge nicht überstiegen. Er war damit zwar bereits auf unterer Ebene des Vertriebsgeschehens in den Betäubungsmittelhandel verstrickt, weshalb insoweit auch ein Anfangsverdacht weiterer Tatneigung bestand, dies aber bis zum Eingreifen der Vertrauensperson „Maik“ nur bezüglich überschaubarer Betäubungsmittelmengen im untersten zweistelligen Grammbereich, wobei ein Teil dieser geringen Mengen auch noch zum Eigenkonsum bestimmt war. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte auch hinsichtlich deutlich oberhalb der geltenden Grenzwerte für nicht geringe Mengen, insbesondere um einen „Quantensprung“ über den bisher gehandelten Mengen liegender und damit qualitativ gänzlich anders einzuordnender Geschäfte tatgeneigt gewesen sein könnte, als die Vertrauensperson „Maik“ ihn erstmals darauf ansprach, ob er auch ein Kilogramm Methamphetamin verkaufen könne, hat die Kammer nicht festzustellen vermocht. Im Gegenteil zeigt die sehr deutliche ablehnende Reaktion des Angeklagten auf die erste Anfrage der Vertrauensperson „Maik“, wonach das Geschäft „nie im Leben“ zustande komme, weil das nicht seine „Preisklasse“ bzw. „Liga“ sei, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich einer ganz erheblich über dem Grenzwert der nicht geringen Menge liegenden Lieferung von mehreren Hundert Gramm Methamphetamin nicht tatgeneigt war. Der Angeklagte kam nach dem Scheitern des Geschäfts über ein Kilogramm Methamphetamin auch nicht etwa selbst auf das von der Vertrauensperson „Maik“ bekundete Erwerbsinteresse größeren Umfangs zurück und schlug diesem ein Geschäft über eine deutlich geringere, aber immer noch erheblich über der bisher von ihm gehandelte Menge vor. Vielmehr war es die Vertrauensperson „Maik“, die den Angeklagten vermittels des gemeinsamen Bekannten pp. auf die Möglichkeit der Abwicklung eines größeren Betäubungsmittelgeschäfts in der Größenordnung von 300 g Methamphetamin ansprach, woraufhin sich der Angeklagte im Ergebnis erst nach mehrfachem Drängen zur Verschaffung dieser Menge Methamphetamin bereit erklärte.

In der Gesamtschau stellt sich die Einwirkung der Vertrauensperson „Maik“ als „Aufstiftung“ des Angeklagten zur Begehung einer Drogenstraftat, die dieser sonst nicht begangen hätte, und nicht mehr als „weitgehend passive Ermittlungstätigkeit“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichtshofs dar.“

Verkehrsrecht II: Hier etwas zur (Akten)Einsicht, oder: Zweimal falsch, einmal richtig

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Im zweiten Posting dann ein paar Entscheidungen, die sich mal wieder/noch einma/immer noch mit der Frage der Verwendung von Messergebnissen befassen, und zwar:

Die grundsätzliche Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung unter Verwendung eines standardisierten Messverfahrens, wie z.B. mit dem Gerät ES 8.0, hängt – entgegen der Auffassung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs (NJW 2019, 2456; dagegen auch Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz NZV 2022, 427) – nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit der Daten ab, die der Messung zugrunde liegen.

 

Die Ablehnung des Antrags, der Verteidigung die gesamte Messreihe zur Verfügung zu stellen, kann nicht mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung angefochten werden.

Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens und des hieraus folgenden Gebots der Waffengleichheit ergibt sich ein Recht auch auf Einsicht in Daten, welche nicht in der dem Gericht vorliegenden Akten befindlich sind, solange sie einen tatbestandsrelevanten Bezug zu der vorgeworfenen Tat aufweisen.

Tja, die Entscheidungen aus Altötting und Detmold sind falsch, liest man aber leider so immer wieder. Man muss damit leben.