Archiv der Kategorie: Urteilsgründe

OWi II: Absehen vom Fahrverbot bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß, oder: Urteilsgründe

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 01.07.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 353/19 (210/19) – ist dann noch mal eine „Fahrverbotsentscheidung“. Das AG hat den Betroffenen wegen eines sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes verurteilt, von der Verhängung des an sich verwikten Regelfahrverbotes aber abgesehen.

Dagegen die Rechtsbeschwerde der StA, die unzureichende Urteilsgründe rügt. Und Sie hatte damit Erfolg:

2. Das Absehen von dem indizierten Fahrverbot hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 12. Juni 2019 wie folgt aus:

„Zum unverzichtbaren Inhalt eines bußgeldrichterlichen Urteils gehört unter anderem die Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Ordnungswidrigkeit gesehen werden (§§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 1 StPO) und außerdem wenn – wie hier – der Sachverhalt Anlass dafür bietet, die Mitteilung derjenigen tatrichterlichen, auf nachvollziehbaren Anknüpfungstatsachen beruhenden Erwägungen, aufgrund derer ein [S. 2] den Verzicht auf das Fahrverbot rechtfertigender Ausnahmefall angenommen worden ist. Diesen Begründungserfordernissen wird die angefochtene Entscheidung nicht hinreichend gerecht.

Hier hat das Gericht das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes in Form des so genannten Augenblicksversagens nicht ausreichend begründet. Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. der BKatV und dem Bußgeldkatalog kommt die Anordnung eines Fahrverbotes wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in Betracht, wenn – wie hier – der Kraftfahrzeugführer ein rotes Wechsellichtzeichen bei schon länger als einer Sekunde andauernder Rotphase nicht befolgt hat. Die Erfüllung des Tatbestandes weist auf das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG hin, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbotes bedarf.

Dass sich die vorliegende Tat in einem solchen Maße zugunsten des Betroffenen von den Regelfällen unterscheidet, dass das Absehen von der Anordnung des Fahrverbotes – etwa wegen eines Augenblicksversagens – gerechtfertigt wäre, lassen die tatrichterlichen Feststellungen nicht mit der erforderlichen Klarheit erkennen.

Die Anordnung eines Fahrverbotes ist auch dann nicht angezeigt, wenn ein Verkehrsverstoß nicht auf einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers, sondern lediglich auf einer augenblicklichen Unachtsamkeit beruht, die jedem sorgfältigen und pflichtbewussten Verkehrsteilnehmer einmal unterlaufen kann (grundlegend BGHSt 43, 241 ff.; OLG Hamm NZV 2005, 489). In solchen Fällen des Augenblicksversagens indiziert zwar der in der Bußgeldkatalogverordnung beschriebene Regelfall das Vorliegen einer groben bzw. beharrlichen Pflichtverletzung im Sinne des § 25 Abs. 1 StVG, es fehlt jedoch an einer ausreichenden individuellen Vorwerfbarkeit.

Nach den getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Betroffene hinter einem anderen Fahrzeug hergefahren ist, das kurz zuvor auf seinem Fahrstreifen gewechselt war, und das Rotlicht nicht rechtzeitig wahrgenommen hat. Ob dieser Wahrnehmungsfehler den Betroffenen entlastet, kann anhand der Urteilsfeststellungen jedoch nicht abschließend festgestellt werden. Der Wahrnehmungsfehler könnte nämlich seinerseits als grob pflichtwidrig angesehen werden. Auf nur einfache Fahrlässigkeit kann sich derjenige nicht berufen, welcher die an sich gebotene Aufmerksamkeit in grob pflichtwidriger Weise unterlassen hat (BGHSt 43, 241; OLG Karlsruhe VRs 111, 489). Vorliegend müsste der Betroffene zusätzlich zur Rotphase auch die vorherige 3 Sekunden dauernde Gelbphase der Lichtzeichenanlage über-[S.3]sehen haben, was sich durch den einfachen Spurwechsel eines voranfahrenden Fahrzeugs ohne weitere Feststellungen nicht erklären lässt. Dem Betroffenen könnte insoweit zum Vorwurf gemacht werden, dass er keine hinreichenden Anstrengungen unternommen hat, sich selbst von der Ampelschaltung in Kenntnis zu setzen.

Da Fahrverbot und Geldbuße in einer Wechselwirkung zueinanderstehen (vgl. BbgOLG Beschluss vom 02.03.2016 – (1B) 53 Ss-OWi 44/18 (30/16)) ist der Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben.“

Der Senat tritt diesen Ausführungen bei, sie entsprechen der Sach- und Rechtslage. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Tatgericht keine eigenen, die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigenden Feststellungen getroffen, sondern im Wesentlichen die Ausführungen des Betroffenen repliziert hat, ohne diese in das Zeitfenster von 4,1 Sekunden zu stellen, in denen der Betroffene auf die Lichtzeichenanlage infolge des Farbenwechsels hätte aufmerksam geworden sein müssen. Die Überschreitung des Schwellenwertes von 0,1 Sekunden kann hierbei keine besondere Bedeutung erlangen.“

Beweiswürdigung III: Aussage-gegen-Aussage, oder: Was ist, wenn ein „sächliches Beweismittel“ vorliegt

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Und als letzte Entscheidung dann noch der KG, Beschl. v. 07.08.2019 – (3) 121 Ss 99/19 (58/19), auch zu einer Beweiswürdigungsproblematik. Nämlich der Frage: Aussage-gegen-Aussage Konstellation, ja oder nein?

Der Angeklagte hat das gegenüber seiner Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung geltend gemacht und Fehler bei der Beweiswürdigung gerügt. Das KG verneint die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und sagt: Beweiswürdigung ist ok.

„a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.

(1) Entgegen dem Vortrag der Revision ist hier kein Fall einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gegeben. Eine solche liegt vor, wenn die Beweissituation dadurch geprägt ist, dass eine Tatschilderung des Zeugen von jener des Angeklagten abweicht, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien wie Zeugenaussagen über Geräusche oder Verletzungsmuster zurückgegriffen werden kann (vgl. KG StraFo 2019, 164; OLG Hamburg NStZ 2015, 105; Sander StV 2000, 45; ders. in LR, StPO 26. Aufl., § 261 Rn. 83d, Schmandt StraFo 2010, 446). Dies ist hier nicht der Fall, da in Form des Krankenhausberichtes des Humboldtklinikums vom 16. Juni 2015, der sich zu den Verletzungen der Zeugin verhält, ein sachliches Beweismittel vorliegt, welches die Angaben der Zeugin bestätigt. Die von der Rechtsprechung für Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen aufgestellten besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung, wonach insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung eines gegebenenfalls feststellbaren Aussagemotivs sowie eine eingehende Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben zu fordern ist (vgl. BGH, Urteil vom 13. März 2019 – 2 StR 462/18 –, juris m.w.N.), finden daher keine Anwendung. Heranzuziehen sind somit die allgemeinen Grundsätze der Beweiswürdigung.

(2) Das Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Tatrichters grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 337 Rn. 26 m.w.N.). Rechtsfehler sind in sachlich-rechtlicher Hinsicht dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH NJW 2019, 945 m.w.N). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Urteil vom 05. September 2017 – 1 StR 365/16 -, juris m.w.N.). Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGH NJW 2008, 2792 m.w.N), dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 1994 – 5 StR 453/94 -; Senat, Beschluss vom 8. Juli 2015 – (3) 121 Ss 69/15 (47/15) –, juris m.w.N.). Auf die Sachrüge hin prüft das Revisionsgericht, ob das Gericht alle wesentlichen Tatsachen und Beweisergebnisse, die dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu entnehmen sind, erschöpfend in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 214 m.w.N.). Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung insbesondere dann, wenn sie wesentliche Feststellungen nicht erörtert (vgl. BGH StraFo 2016, 110 m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hält die Beweiswürdigung des Landgerichts sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand; sie stellt sich insbesondere nicht als lückenhaft dar. Die Strafkammer hat sich die Überzeugung von den Taten sowie der Täterschaft des Angeklagten rechtsfehlerfrei aufgrund einer Gesamtwürdigung aller für die Beweiswürdigung bedeutsamen Umstände verschafft. Das Landgericht hat sowohl die Einlassung des Angeklagten als auch die Aussage der Zeugin X in den Urteilsgründen umfassend dargestellt, einer kritischen Würdigung unterzogen und sie mit anderen Beweisergebnissen in Beziehung gesetzt. Die Angaben der Zeugin fand das Landgericht durch das ärztlich attestierte Verletzungsbild objektiv bestätigt. Soweit die Revision sich gegen diese Schlussfolgerung wendet, unternimmt sie den Versuch, die Beweiswürdigung der Strafkammer durch eine eigene zu ersetzten. Damit kann sie nicht gehört werden.

Die Urteilsgründe lassen ferner erkennen, dass das Gericht alle Umstände, die die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Gesamtwürdigung einbezogen hat. Insbesondere hat sich die Strafkammer mit der Motivlage sowohl des Angeklagten als auch der Zeugin eingehend auseinandergesetzt, hat diese gegenübergestellt und auf dieser Grundlage in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die Überzeugung gewonnen, dass das Verhalten der Zeugin keine Anhaltspunkte dafür bot, dass diese den Angeklagten wahrheitswidrig belastet hätte. Bei dem Vortrag der Revision, der Angeklagte habe als Grund für seine Anzeige gegen die Zeugin angegeben, diese habe ihn bereits zuvor verletzt, handelt es sich um urteilsfremdes Vorbringen, welches – ebenso wie die hierauf aufbauende abweichende Beweiswürdigung – im Revisionsverfahren unbeachtlich ist.

Beweiswürdigung II: Beweise sind zu würdigen, oder: Warnschuss vom BGH

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Die zweite Entscheidung zur Beweiswürdigung kommt auch vom 4. Strafsenat des BGH. Der BGH, Beschl. v. 10.09.2019 – 4 StR 398/19 – ist im Grunde ein Klassiker, denn es ist mal wieder einer dieser „versteckten Hilfeschreie“ des BGH betreffend unübersichtliche und zu lange Beweiswürdigungen:

„Die sehr unübersichtliche und zu weiten Teilen aus einer nicht auf die getroffenen Feststellungen bezogenen Aneinanderreihung von Zeugenaussagen bestehende Beweiswürdigung stellt den Bestand des Urteils noch nicht in Frage (vgl. dazu Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 351 und 814). Denn der Senat kann dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch hinreichend entnehmen, auf welche Beweisgründe die Strafkammer ihre Überzeugung gestützt und wie sie die mitgeteilten Beweisergebnisse gewürdigt hat. Die sehr knapp gehaltenen Ausführungen zum bedingten Tötungsvorsatz, insbesondere zu dessen voluntativem Element (vgl. zu den Darlegungserfordernissen BGH, Urteil vom 14. August 2014 – 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267 mwN), sind mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles (mehrere von oben ausgeführte Würfe mit Stühlen auf den an der Fassade eines Hauses in großer Höhe kletternden Geschädigten) noch ausreichend. Soweit das Landgericht davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte (auch) in seiner Einsichtsfähigkeit „im Sinne des § 21 StGB beeinträchtigt“ war, ohne ausdrücklich darüber zu befinden, ob bei ihm in den Tatsituationen tatsächlich eine Unrechtseinsicht vorhanden war (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 5. Juli 2016 – 4 StR 215/16, Rn. 6 mwN), ergeben die Urteilsgründe noch ausreichend, dass die Strafkammer mit Rücksicht auf das Leistungsverhalten des Angeklagten und den allenfalls für möglich erachteten „mittelschweren Rausch“ das Fehlen einer Unrechtseinsicht im Ergebnis ausgeschlossen hat.“

Ich weiß, es ist nicht einfach den Anforderungen des BGH an die Beweiswürdigung gerecht zu werden. Einerseits darf nicht zu wenig geschrieben werden, andererseits aber auch nicht zu viel. Eins ist aber sicher: Die Betonung liegt auf „….. würdigung“, nicht auf „…. mitteilung des Beweisergebnisses“.

Beweiswürdigung I: Unzulässige nachteilige Schlüsse aus anfänglichem Schweigen, oder/aber: Nicht tragend

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Heute mache ich dann einen „Beweiswürdigungstag“ 🙂 . Und den eröffnet der BGH, Beschl. v. 17.09.2019 – 4 StR 150/19. In dem beanstandet der BGH eine Erwägung des LG, weil damit unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen des Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen worden sind. Aber: Dann das „übliche Spiel“: Ersichtlich nicht tragend. Na ja.

„Zwar begegnet die im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägung, der Angeklagte habe sich „weder im Anschluss an seine Verhaftung gegenüber den Beamten De.     und D.   noch bei der Eröffnung des Haftbefehls auf ein Alibi berufen“, „obwohl es sich aus seiner Sicht geradezu aufgedrängt hätte, ein solches sofort nach der Konfrontation mit dem Vorwurf den Beamten und/oder dem Haftrichter zu präsentieren“, rechtlichen Bedenken. Ausweislich der Urteilsgründe hat sich der Angeklagte erstmals in der Hauptverhandlung durch eine Verteidigererklärung zur Sache eingelassen und zuvor von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Mit der angestellten Beweiserwägung hat das Landgericht in unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen des Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen. Diesem steht es frei, ob er sich zur Sache einlässt oder nicht zur Sache aussagt (§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen aus der Aussageverweigerung keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2014 – 3 StR 196/14, NStZ 2014, 666 mwN). Der Senat schließt jedoch ein Beruhen des Urteils auf dieser ersichtlich nicht tragenden, rechtlich bedenklichen Erwägung aus.“

StGB I: Untreue des Rechtsanwalts?, oder: Die veweigerte Rückzahlung von Fremdgeld

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Heute ist zwar Feiertag, ich lasse aber hier, da ich derzeit viel Material habe, das „normale“ Programm durchlaufen. Und heute gibt es dann mal drei Entscheidungen zum materiellen Recht, also StGB.

Ich beginne mit dem OLG Köln, Beschl. v. 30.04.2019 – III 1 RVs 97 u. 99/19. Er behandelt die Untreue (§ 266 StGB) eines Rechtsanwaltes in der Form des Treubruchtatbestand. Ist etwas länger die Darstellung, aber heute ist ja Zeit zum Lesen:

„Der Angeklagte war als Rechtsanwalt Anfang des Jahres 2012 durch Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten mit der Geltendmachung einer Darlehensforderung i.H.v. 56.000,– € beauftragt, die der Geschädigten – einer seinerzeit mittellosen Studentin – zustand. Am 30. März 2012 forderte er den Darlehensschuldner unter Beifügung einer Kostennote über 1.761,08 € erfolglos zur Rückzahlung auf. Die Geschädigte wandte sich daraufhin an einen anderen Rechtsanwalt, der den Erlass eines Mahnbescheids beantragte, gegen den der Schuldner indessen Widerspruch einlegte. Nachdem das zuständige Amtsgericht mitgeteilt hatte, die Durchführung des streitigen Verfahrens hänge von der Zahlung einer weiteren Gerichtsgebühr i.H.v. 1.390,– € ab, wandte sich der gemeinsame Bekannte an den Angeklagten mit der Bitte, das Mandat fortzuführen. Die Geschädigte überwies am 28. Dezember 2012 und am 3. Januar 2013 die angeforderten Gerichtskosten in zwei Teilbeträgen auf das bei der A geführte Geschäftskonto des Angeklagten, über das dieser auch Zahlungen privater Natur abwickelte und das sich im fraglichen Zeitraum mit etwas über 21.000,– € im Soll befand. Auf diesem Konto war dem Angeklagten ein Dispositionskredit i.H.v. 47.500,– € eingeräumt. Über ein Anderkonto verfügte er seinerzeit nicht.

Der Angeklagte schrieb die Geschädigte am 11. Januar 2013 an und teilte ihr unter anderem folgendes mit:

„(…) Des Weiteren möchte ich nochmals verbindlich klarstellen, dass die Wahrnehmung Ihrer Interessen nur nach vorherigem Ausgleich meiner Gebührenforderung in Betracht kommt, diese entnehmen sie bitte der anliegenden Kostennote (über 1.757,28 €). Vor diesem Hintergrund bitte ich um Ausgleich der in der Anlage beigeschlossenen Kostennote. Die Vereinbarung eines Erfolgshonorars (scil.: über welches bei Mandatserteilung Anfang 2012 diskutiert worden war) muss ich dagegen vorsorglich nochmals ausdrücklich bereits aus dem Grund ablehnen, dass mir keinerlei Informationen über die Solvenz des Schuldners und insbesondere über in der Bundesrepublik bestehendes Vermögen vorliegen. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich mich auf Vollstreckungsversuche im (zumal außereuropäischen) Ausland nicht einlassen kann. Vor diesem Hintergrund bitte ich um Ausgleich der in der Anlage beigeschlossenen Kostennote. Diese betrifft zunächst die Geltendmachung der Darlehnsforderung Songel (…).“

Weiter heißt es in den Urteilsgründen:

„Dieser Schriftsatz (…) erreichte die Zeugin (…) nicht, weil er an eine veraltete Adresse gesendet worden war. Die Zeugin war zwischenzeitlich umgezogen. Dies teilte (der gemeinsame Bekannte) dem Angeklagten per Mail kurze Zeit danach mit. In der Folgezeit reichte der Angeklagte weder die Gerichtskosten an das zuständige Gericht weiter, noch reichte er Klage ein. Auch zahlte er die Gerichtsgebühren nicht an die Zeugin (…) zurück. Ein weiteres Schreiben versendete er nicht mehr an die Zeugin (…)“

Diese ihrerseits wandte sich mit Schreiben vom 27. Juni 2013 an den Angeklagten, forderte diesen unter Fristsetzung zur Rückzahlung der 1.390,– € auf und erklärte zugleich, ihre „Beauftragung zurückzuziehen“. Nachdem die Geschädigte keinen Zahlungseingang feststellen konnte, forderte sie den Angeklagten ein weiteres Mal zur Rückzahlung auf und wandte sich mit Schreiben vom 4. September 2013 an die Anwaltskammer B, welche den Angeklagten mit Schreiben vom 31. Oktober und 26. November 2013 um Stellungnahme zu den seitens der Zeugin erhobenen Vorwürfe aufforderte. Dieses Schreiben blieben ebenfalls unbeantwortet.

Das Landgericht hat gemeint, der Angeklagte sei – wie sich aus seiner Reaktion auf die Mahnungen der Geschädigten sowie die Anschreiben der Rechtsanwaltskammer ergebe – nicht bereit gewesen, die vereinnahmten Gerichtskosten „zurückzuzahlen bzw. weiterzuleiten“ er habe, soweit Fremdgelder betroffen seien, die zu Grunde liegende Zweckbestimmung zu achten, und zwar ohne auf den Eintritt ihm günstiger Bedingungen (scil.: Der Begleichung der Honorarforderung) zu warten. Er habe sich daher der Untreue – in der Variante des Treubruchtatbestandes durch aktives Tun – strafbar gemacht.“

Dem OLG reichen die Feststellungen für die Annahme einer Untreue gemäß § 266 Abs. 1 Var. 2 StGB nicht:

„bb) Die fehlende Bereitschaft des Angeklagten zur zweckentsprechende Mittelverwendung schlussfolgert die Berufungsstrafkammer aus seinem Verhalten nach Beendigung des Mandats. Auf Mahnungen der Geschädigten und die Einräumung einer Gelegenheit zur Stellungnahme durch die Rechtsanwaltskammer habe er nicht reagiert.

Eine solche Schlussfolgerung von späterem Verhalten auf eine früher vorhandene oder nicht vorhandene Bereitschaft (zur zweckentsprechende Mittelverwendung) ist grundsätzlich denkgesetzlich möglich. Die Kammer differenziert jedoch nach Auffassung des Senats nicht in ausreichendem Maße zwischen dem Bestehen und der Zeit nach Beendigung des Mandatsverhältnisses, die durch die am 27. Juni 2013 seitens der Geschädigten erklärte Kündigung eingetreten ist. Ab diesem Zeitpunkt bestand für den Angeklagten keine Vermögensbetreuungspflicht mehr, er war lediglich schuldrechtlich zur Rückzahlung des von der Geschädigten erhaltenen Geldes verpflichtet, ohne dass diese Pflicht als solche zur Vermögensbetreuung strafbewehrt gewesen wäre (BGH NStZ 1986, 361; Schönke/Schröder-Perron, StGB, 30. Auflage 2019, § 266 Rz. 34; soweit das OLG Karlsruhe [NStZ 1990, 82] diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „einschränken“ will, waren die Mandatsverhältnisse in dem dort zugrundeliegenden Fall jedenfalls nicht erkennbar beendet). Das bedeutet, dass die Pflicht des Angeklagten, sich strafbewehrt jederzeit zur zweckentsprechende Mittelverwendung bereitzuhalten, nur in der Zeit zwischen Empfang des Geldes (28. Dezember 2012) und Mandatskündigung (27. Juni 2013) bestand. In dieser Zeit war der Angeklagte aus dem anwaltlichen Auftragsverhältnis zunächst verpflichtet, das eingenommene Geld zur Zahlung des weiteren Gerichtskostenvorschusses zu verwenden. Ausweislich seines – zeitnah zum Geldempfang verfassten – Schreibens vom 11. Januar 2013 bestand diese Bereitschaft auch, freilich „nur nach vorherigem Ausgleich meiner Gebührenforderung“.

Mit dieser Formulierung hat der Angeklagte sich der Sache nach auf das ihm gemäß § 9 RVG grundsätzlich zustehende Recht berufen, von seinem von seinem Auftraggeber für die entstandenen und die voraussichtlich entstehenden Gebühren und Auslagen einen angemessenen Vorschuss fordern. Zahlt der Mandant diesen nicht, darf der Rechtsanwalt – freilich nach vorheriger Ankündigung – seine weitere Tätigkeit einstellen (BeckOK-RVG-v. Seltmann, 43. Edition Stand 01.12.2018, § 9 Rz. 20). Die Anforderung eines Vorschusses war hier nach Lage der Dinge auch sinnvoll, da die Auftraggeberin ausweislich der ausdrücklich getroffenen Feststellungen der Berufungsstrafkammer als Studentin „mittellos“ war und der Angeklagte Anfang 2012 – offenbar bislang unvergütet – bereits für diese tätig geworden war. Anfang Januar 2013 wird man dem Angeklagten aus diesem Grund die Bereitschaft zur auftragsgemäßen Weiterleitung des eingenommenen Geldes kaum absprechen können.

Zu der weiteren Entwicklung der Geschehnisse bis zum Zeitpunkt der Mandatskündigung hat die Berufungsstrafkammer nur unzureichende Feststellungen getroffen. Festgestellt ist lediglich, dass das Schreiben vom 11. Januar 2013 die Geschädigte nicht erreichte, weil diese umgezogen war und dass der Angeklagte (jedenfalls) von der Tatsache des Umzugs Kenntnis hatte. Ob dieser – bejahendenfalls: wann – davon erfahren hat, dass sein Schreiben vom 11. Januar die Geschädigte nicht erreicht und ob er von der neuen Anschrift der Geschädigten Kenntnis hatte und so die Möglichkeit gehabt hätte, mit dieser die weitere Vorgehensweise (auftragsgemäßes weiteres Tätigwerden – bejahendenfalls: zu welchen Konditionen –  oder Rückabwicklung des Auftragsverhältnisses) zu klären, ob er also überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte, „ein weiteres Schreiben“ zu versenden (UA 8), bleibt nach den getroffenen Feststellungen offen. Die Beantwortung dieser Fragen ist aber für die Bereitschaft des Angeklagten zur zweckentsprechenden Mittelverwendung bis zum Zeitpunkt der Mandatsbeendigung von entscheidender Bedeutung.

Mit der Mandatskündigung durch die Geschädigte ist dann aber jedenfalls insoweit eine neue Situation eingetreten, als der Angeklagte die Begleichung seiner Honorarforderung nicht mehr als von seinen Bemühungen um die Realisierung des Darlehensrückzahlungsanspruchs der (ehemaligen) Mandantin abhängig einschätzen konnte.“