Archiv der Kategorie: Urteilsgründe

Corona I: Befreiung von der Maskenpflicht, oder: „attest-pdf um der Mundschutzpflicht zu entkommen“

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Und heute dann ein wenig Aufarbeitung von Corona. Und dazu zunächst der OLG Celle, Beschl. v. 27.06.2022 – 2 Ss 58/22.

Der Angeklagte ist vom AG Hannover vom Vorwurf des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach § 279 a.F. StGB freigesprochen worden. Auf die hiergegen eingelegte Berufung der StA hat das LG das Urteil aufgehoben und den Angeklagten wegen des Tatvorwurfs zu einer Geldstrafe verurteilt sowie die Einziehung der tatgegenständlichen Gesundheitsbescheinigung des Angeklagten angeordnet.

Nach den Feststellungen des LG nahm der Angeklagte am 27.06.2020 in Hannover an einem Autokorso zur Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen teil. Als der vor Ort eingesetzte Polizeibeamte PK M. die Versammlungsleiterin auf die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes hinwies, kam der Angeklagte zu ihm und zeigte ihm unaufgefordert eine Bescheinigung vor, mit der er eine medizinisch bedingte Befreiung von der Maskenpflicht vortäuschen wollte. Die Bescheinigung hatte er zuvor als Formular aus dem Internet heruntergeladen und seinen Namen eingetragen. Es handelte sich um das von dem Arzt Dr. B. in den sozialen Medien mit der Bezeichnung „attest-pdf um der Mundschutzpflicht zu entkommen“ zum Download bereitgestellte Formular. Das Formular war mit „Ärztliches Attest“ überschrieben und enthielt im oberen Bereich den Namen von Dr. B. sowie seine Bezeichnung als Arzt. Ebenfalls im oberen Bereich befand sich der Hinweis „To whom it may concern“. In das Formular war zudem der Scan einer Approbationsurkunde eingefügt, überdies ein leeres Namens- und Adressfeld. Darin musste der jeweilige Verwender nach dem Download des Formulars seine eigenen Personalien einfügen. In dem Formulartext wurde dem Verwender bestätigt, dass das Tragen eines Mundschutzes aus medizinischen Gründen nicht ratsam sei.

Beim Verwenden des Formulars wusste der Angeklagte, dass bei ihm keine medizinischen Gründe für eine Befreiung von der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vorlagen. Auch war ihm bewusst, dass die Bescheinigung ein unrichtiges Gesundheitszeugnis darstellte.

Dagegen die Revision des Angeklagten. Mit der macht er zum einen geltend, das LG habe seine Verurteilung rechtsfehlerhaft auf die am 24.11.2021 in Kraft getretene Neufassung der §§ 278 und 279 StGB gestützt. Zum anderen sei das LG rechtsfehlerhaft von einem unrichtigen Gesundheitszeugnis ausgegangen. Das von Dr. B. im Internet bereitgestellte Formular sei insoweit nicht hinreichend individualisiert gewesen. Der Formulartext habe überdies lediglich eine allgemein gehaltene, generelle Aussage zur Eignung eines Mund-Nasen-Schutzes enthalten. Die von dem Angeklagten unter Verwendung dieses Formulars selbst erstellte Bescheinigung sei nicht durch einen Arzt unterzeichnet worden und deshalb kein Gesundheitszeugnis i.S. von § 278 aF StGB. Darüber hinaus sei die abgeurteilte Tat des Angeklagten durch Notwehr gerechtfertigt gewesen, da er nach den Urteilsfeststellungen zum Tatzeitpunkt lediglich an einem Autokorso teilgenommen habe. Angesichts des Fehlens weiterer Feststellungen sei davon auszugehen, dass er alleiniger Insasse eines Fahrzeugs war und deshalb keine rechtliche Grundlage für die polizeiliche Aufforderung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vorhanden gewesen sei. Schließlich sei auch die vom Landgericht im Rahmen der Strafzumessung getroffene Erwägung, das Verhalten des Angeklagten habe eine erhöhte abstrakte Gefährdung der Gesundheit anderer Menschen beinhaltet, mangels entsprechender tatsächlicher Grundlage als rechtsfehlerhaft anzusehen.

Die Revision hatte beim OLG Erfolg:

„Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils hält der auf die erhobene Sachrüge vorzunehmenden sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand.

1. Unzutreffend ist der Einwand der Revision, das Landgericht habe die Verurteilung des Angeklagten rechtsfehlerhaft auf §§ 278, 279 StGB in der seit dem 24.11.2021 geltenden Fassung gestützt. Aus den Urteilsgründen ist ersichtlich, dass die Verurteilung vielmehr auf der zum Tatzeitpunkt maßgebliche Fassung der Bestimmung beruht. Dies wird zum einen darin deutlich, dass das Landgericht bei der rechtlichen Würdigung der Tat des Angeklagten erkennbar auf die Tatbestandsmerkmale der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung von §§ 278, 279 StGB abgestellt hat. Zum anderen hat das Landgericht der Strafzumessung den Strafrahmen von Geldstrafe bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe zugrunde gelegt, wie er nach der damaligen Gesetzesfassung von § 279 StGB galt. Während die Neufassung von § 279 StGB die Anwendung dieses Strafrahmens nur dann vorsieht, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften des 23. Abschnitts des Strafgesetzbuches mit schwererer Strafe bedroht ist, enthielt § 279 aF StGB diese Einschränkung nicht. Eine Prüfung, ob die Tat des Angeklagten in den anderen Tatbeständen der §§ 267-282 StGB mit schwerer Strafe bedroht ist, hat das Landgericht indes nicht vorgenommen. Dies spricht ebenfalls dafür, dass es bei der Verurteilung des Angeklagten § 279 aF StGB zugrunde gelegt hat. Soweit das Urteil unter „Angewendete Vorschriften“ die Angabe von § 279 StGB ohne den Zusatz „aF“ enthält (vgl. UA S. 2), handelt es sich mithin um ein bloßes Schreibversehen. Gleiches gilt, soweit in den weiteren Urteilsgründen die Bestimmung des § 279 StGB ohne diesen Zusatz angeführt wird.

2. Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils weist indes in anderer Hinsicht einen Rechtsfehler auf. Denn die getroffenen Feststellungen bieten keine ausreichende Grundlage für eine Verurteilung des Angeklagten wegen des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach §§ 278, 279 aF StGB. Sie erweisen sich bzgl. der vom Landgericht angenommenen rechtlichen Qualifizierung des vom Angeklagten bei der abgeurteilten Tat dem Polizeibeamten PK M. vorgezeigten „Ärztlichen Attests“ als Gesundheitszeugnis i.S. von § 278 StGB aF als lückenhaft, weil sich aus ihnen nicht ergibt, ob das Attest unterzeichnet ist.“

Den Rest der umfangreich begründeten Entscheidung bitte selbst lesen. Hier nur noch die (amtlichen) Leitsätze:

1. Ein ärztliches Attest über die medizinische Kontraindikation des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes enthält die konkludente Erklärung des Arztes, dass eine körperliche Untersuchung der genannten Person stattgefunden hat.

2. Wird in einem ärztlichen Attest der darin genannten Person bescheinigt, dass das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes aus medizinischen Gründen nicht ratsam sei, handelt es sich um ein Gesundheitszeugnis i.S. von § 278 Abs. 1aF StGB.

3. Hat ein Täter das von einem Arzt vorunterzeichnete, in den sozialen Medien zum Download bereitgestellte Blanko-Formular, in dem der noch einzutragenden Person die medizinische Kontraindikation des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes attestiert wird, mit seinen Personalien ergänzt und das vervollständigte Formular gegenüber der Polizei zur Vortäuschung einer bei ihm gegebenen Kontraindikation vorgezeigt, um die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zu umgehen, ist eine Strafbarkeit wegen Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach §§ 278 Abs. 1aF, 279aF StGB gegeben.

Und dann zur Abrundung noch der BayObLG, Beschl. v. 03.06.2022 – 207 StRR 155/22 – zur Strafbarkeit der Vorlage eines gefälschten Impfpasses zur Erlangung eines Impfzertifikats nach altem Recht. Das BayObLG meint (auch): § 267 StGB wird verdrängt.

Beweiswürdigung III: Lückenlose Gesamtwürdigung, oder: Erfahrungssatz ohne Erfahrung

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Und zum Tagesschluss dann noch der BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 – zu einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung bei Bejahung des Tatentschlusses für den Versuch der gefährlichen Körperverletzung. Das AG hate den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung verworfen. Dagegen dann die Revision, die beim BayObLG Erfolg hatte. Das BayObLG beanstandet die Beweiswürdigung:

„2. Allerdings kann die Verurteilung aufgrund der Sachrüge keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil sachlich-rechtliche Fehler aufweist.

a) Soweit für die Entscheidung des Senats relevant, hat die Berufungskammer folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am Abend des 24.01.2019 kam es im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung des Angeklagten mit seiner Ehefrau in deren gemeinsamer Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses zu einem Polizeieinsatz, nachdem die Ehefrau vor dem randalierenden Angeklagten zu ihrem im ersten Stock des Anwesens wohnenden Nachbarn geflüchtet war. Die zunächst aus einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten bestehende Streife vor Ort entschloss sich, Verstärkung anzufordern und nach deren Eintreffen zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Erteilung eines etwaigen Platzverweises den weiter lautstark randalierenden Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen. Nach Eintreffen eines dritten Beamten begaben sich die beiden erstgenannten Beamten wieder in den 1. Stock, während sich der dritte Beamte noch im Treppenhaus auf dem Weg in den 1. Stock befand. In diesem Moment kam der Angeklagte aufgebracht und schreiend aus dem 2. Stock die Treppe hinunter, wobei er in der linken Hand einen ca. 0,95 Meter langen Birkenstock hielt und in der rechten Hand eine Axt mit einer Gesamtlänge von ca. 38 cm und geschärfter Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm. Er hielt dabei den Birkenstock mit angewinkeltem Arm halbhoch vor seinen Körper und die Axt zunächst etwa auf Schulterhöhe. Dabei schrie der Angeklagte Unverständliches. Auf die Aufforderung „Waffe weg“ der beiden bereits im 1. Stock befindlichen Polizeibeamten reagierte der Angeklagte nicht, obgleich beide Beamte ihren Einsatzstock zogen. Während diese daraufhin im Flur zurückwichen, ging der Angeklagte mit dem Holzstock und der erhobenen Axt weiter auf die [beiden] Beamten zu. Die Polizeibeamtin warf ihren Einsatzstock weg und ergriff ihre Dienstwaffe. Der Angeklagte bewegte sich dabei immer noch auf die [beiden] Beamten […] zu, wobei er die Axt so hielt, dass die scharfe, geschliffene Seite der Axt in deren Richtung zeigte. Trotz eines erneuten Rufs der Beamten „Waffe weg“, bewegte sich der Angeklagte jedoch weiterhin auf die [beiden] Polizeibeamtem zu und machte mit der Axt eine Ausholbewegung nach oben über seinen Kopf, um auf die Beamten einzuschlagen und diese durch Einsatz von Axt und Stock zu verletzen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, sich den polizeilichen Anordnungen zu widersetzen. Insbesondere weigerte er sich, Axt und Stock wegzulegen. Als sich der Angeklagte noch etwa 2 Meter von den beiden Beamten entfernt befand, gab der zur Verstärkung hinzugezogene, sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Treppe zum 1. Stock befindliche dritte Polizeibeamte aus dem Treppenhaus heraus insgesamt 5 Schüsse aus seiner Dienstpistole ab, die den Angeklagten jedoch verfehlten. Der Angeklagte wich jetzt zunächst ins Treppenhaus zum 2. Stock zurück, ehe er unmittelbar darauf von den Beamten nach Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden konnte. Bei dem Versuch der drei Beamten, den Angeklagten am Boden zu fixieren und zu fesseln, leistete dieser weiterhin Widerstand, indem er die Arme unter dem Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Nur unter Einsatz von Kraftaufwand gelang es den drei Beamten, die Hände des Angeklagten auf den Rücken zu ziehen und diesen letztlich zu fesseln.

b) Die Beweiswürdigung ist zum festgestellten Tatentschluss, der auf die Verwirklichung einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22 StGB gerichtet ist, rechtsfehlerhaft. Dies erfasst zugleich den Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB, weil dieser eine unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, die nicht zum Erfolg geführt haben muss, voraussetzt (vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 bei juris), was durch die Beweiswürdigung ebenfalls nicht belegt wird.

…..

bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht gerecht.

(1) Das Landgericht schließt aus dem objektiven Geschehen, nämlich das Erheben der Axt in eine „Ausholbewegung“ über den Kopf und dem Zugehen des Angeklagten auf die Polizeibeamten, darauf, dass „der Angeklagte sich im Begriff befand, auf die Beamten einzuschlagen und dabei eine Verletzung in Kauf zu nehmen“. Schon die Annahme des Landgerichts, das objektive Geschehen lasse „nur“ den von ihm gezogenen Schluss zu, ist nicht haltbar. Das Landgericht legt seiner Überzeugungsbildung einen Erfahrungssatz zugrunde, den es nicht gibt, und lässt außer Acht, dass das Verhalten des Angeklagten auch ohne weiteres dahingehend interpretiert werden könnte, dass er die Polizeibeamten mit der Verwirklichung bedrohen wollte. Mit der von der Berufungskammer gezogenen Schlussfolgerungen hat sie sich den Blick auf eine denkbare und keineswegs durch die Beweiswürdigung fehlerfrei ausgeschlossene Sachverhaltsalternative von vornherein verstellt. Dies gilt umso mehr, als es nicht darauf ankommt, wie die Polizeibeamten das Verhalten des Angeklagten in der konkreten Situation verstehen mussten. Denn aus ihrer Sicht, die darauf gerichtet sein musste, erforderliche Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz zu treffen, war es allein maßgeblich, ob eine konkrete Gefahr oder zumindest eine Anscheinsgefahr bestand (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung v. 18.05.2018). Im Strafverfahren geht es aber im Gegensatz dazu darum, ob dem Angeklagten die Begehung der ihm angelasteten Straftat positiv nachgewiesen werden kann.

(2) Die Berufungskammer hat überdies die zwingend erforderliche, an einer lückenlosen Beweiswürdigung auszurichtende Gesamtwürdigung unterlassen.

(a) Das Berufungsurteil trifft keine Feststellungen dazu, dass der Angeklagte Hiebbewegungen in Richtung der Beamten unternommen hätte. Gerade damit hätte sich der Tatrichter aber auseinandersetzen müssen, zumal – wie dargelegt – die Bedeutung der Ausholbewegung als solche ambivalent ist.

(b) Das weitere Tatgeschehen nach Überwältigung des Angeklagten mittels des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizeibeamten hat das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung ebenfalls nicht in seine Überlegungen eingestellt und offensichtlich deshalb insoweit nur lückenhafte Feststellungen getroffen. Das Berufungsurteil stellt insoweit fest, dass der Angeklagte, bei dem Versuch der Polizeibeamten, ihn am Boden zu fixieren und zu fesseln, weiterhin Widerstand leistete, indem er die Arme unter den Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Dazu, wo sich mittlerweile die zunächst in der Hand gehaltene Axt befand und ob der Angeklagte hierauf noch Zugriff hatte, verhält sich das Landgericht nicht. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau hätte aber auch dieses Verhalten des Angeklagten unmittelbar nach dem Tatgeschehen eventuell Rückschlüsse darauf zulassen können, ob es ihm darauf ankam, die Polizeibeamten tatsächlich mit der Axt zu verletzen oder nicht.“

Beweiswürdigung II: Lückenhafte Beweiswürdigung, oder: Wenn viele DNA-Spuren zum Angeklagten führen

In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Urt. v. 03.05.2022 – 6 StR 120/21 – geht es um die Beweiswürdigung in einem Verfahren wegen Mordes. Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes und des Raubes mit Todesfolge freigesprochen. Dagegen die Revision der StA, die Erfolg hatte.

Das Landgericht hatte Folgendes festgestellt:

„Am 8. Dezember 2016 zwischen 13:10 Uhr und 13:30 Uhr kehrte die 82-jährige Rentnerin    K.     vom Einkaufen in ihre Wohnung zurück. Sie brachte Teile ihrer Einkäufe in die Küche, zog sich ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Noch bevor sie sich die Schuhe ausziehen konnte, wurde sie im Flur-/Küchenbereich ihrer Wohnung überfallen und nach heftiger Gegenwehr erwürgt. Bei dem Geschehen fügte ihr der Täter weitere massive Verletzungen zu. So waren mehrere Rippen gebrochen. Ein Rippenbruch führte zu einer Verletzung der Herzaußenwand. Die Rippenbrüche können durch ein Knien oder Sitzen des Täters auf ihrem Brustkorb entstanden sein. Die Geschädigte wies ferner zahlreiche Hämatome auf, unter anderem an beiden Oberarmen, wobei die Unterblutungen als Griffspuren interpretiert werden können. Zuletzt wurde ihr – nicht todesursächlich – eine Plastiktüte über den Kopf gezogen.

Die Wohnung wurde vom Täter durchwühlt. Der Geldbörse der Geschädigten wurden 80 Euro entnommen.

Der Angeklagte war unmittelbarer Wohnungsnachbar der Getöteten. Er hatte vor der Tat keine Kontakte mit ihr. Im Ermittlungsverfahren machte er unterschiedliche Angaben dazu, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hatte.

In der Wohnung wurden die folgenden DNA-Spuren gesichert:

– An der Bekleidung des rechten Oberarms des Opfers (Spur 02.006) wurde ein DNA-Merkmalsgemisch von mindestens zwei Personen festgestellt. Eine biostatistische Berechnung ergab, dass dessen Verursachung durch das Opfer und den Angeklagten 257 Trilliarden Mal wahrscheinlicher ist als eine Verursachung durch die Geschädigte und eine unbekannte Person.
– An der Außenseite (Spur 04.004.05.4) und am Kartenfächer-Druckknopf (Spur 04.004.05.6) der Geldbörse des Opfers wurde männliche DNA festgestellt, die mit derselben Wahrscheinlichkeit dem Angeklagten zuzuordnen ist.
– Am bekleideten rechten Oberarm (Spur 02.007) wurde ein autosomales Merkmalsgemisch von mindestens zwei Personen festgestellt. Bei der Untersuchung der Spur mit DYS-Marker wurden Merkmalsgemische von mindestens zwei männlichen Personen festgestellt. Die intensivsten Merkmale wurden dem Angeklagten zugeordnet.
– An der Hose, rechter Unterschenkel Knie bis Hosensaum, des Opfers (Spur 02.012) wurde ein autosomales Merkmalsgemisch von mindestens drei Personen festgestellt. Hauptverursacherin der Spur ist die Geschädigte. Die DYS-Marker-Untersuchung ergab, dass die Spur ferner durch mindestens zwei männliche Personen verursacht wurde. Der Angeklagte wurde als Hauptverursacher festgestellt.
– An der Bekleidung des Opfers, linker Brustbereich (Spur 02.018), wurden die autosomalen Merkmale der DNA-Mischspur der Geschädigten zugeordnet. Die DYS-Marker-Untersuchung ergab Gemische von mindestens zwei männlichen Personen, wobei die intensivsten Merkmale dem Angeklagten zuzuordnen waren.

Soweit die Merkmalsgemische auf andere männliche Verursacher hinwiesen, wurden die männlichen Bewohner des Mehrfamilienhauses sowie die nach der Entdeckung der Tat an und in der Wohnung tätigen Polizeibeamten und Rettungskräfte als Spurenverursacher ausgeschlossen.“

Das sachverständig beratene Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten mit einer zur Verurteilung ausreichenden Sicherheit überzeugen können. Zwar spreche die an der Geldbörse und am Leichnam sichergestellte DNA des Angeklagten in erheblichem Maße dafür, dass er die Tat begangen habe. Jedoch bestehe die konkrete Möglichkeit, dass die DNA des Angeklagten aus dem Treppenhaus durch Sekundär- oder Tertiärübertragung an den Tatort gelangt sei. Mehrere Personen hätten die Wohnung ohne Schutzkleidung betreten oder die Schutzkleidung bereits angezogen, bevor sie den Hauseingang des Mehrfamilienhauses betreten hätten. Zudem seien vor Eintreffen der Spurensicherungskräfte Veränderungen an der Leiche, insbesondere der Oberbekleidung, vorgenommen worden. Auch seien der Personalausweis und die Krankenkassenkarte des Opfers den Rettungskräften aus der Wohnung herausgegeben und anschließend wieder in die Wohnung verbracht sowie in die Geldbörse zurückgesteckt worden. Erst danach sei die Geldbörse auf Spuren untersucht worden.

Der BGH hat die Beweiswürdigung des LG als lückenhaft beanstandet:

„2. a) Entsprechend den Ausführungen der Beschwerdeführerin begegnet es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass sich das Landgericht nicht näher mit der Aussagekraft der Ergebnisse der DYS-Marker-Untersuchungen betreffend die Spuren 02.007, 02.012 und 02.018 auseinandergesetzt und diese nicht erkennbar mit dem ihnen zukommenden Gewicht in seine Beweiswürdigung eingestellt hat.

Namentlich die beweiswürdigenden Ausführungen betreffend die Spur 02.012 an der Hose der Getöteten, wonach der Angeklagte als Mitverursacher insoweit (lediglich) nicht ausgeschlossen werden könne (UA S. 37), lassen besorgen, dass das Landgericht diesen Befunden letztlich überhaupt keinen Beweiswert beigemessen hat. Dafür spricht auch, dass es sich im Weiteren ausdrücklich nur mit den „DNA-Treffern“ befasst und die an der Hose gefundene Spur außer Acht lässt (UA S. 54). Damit wird aber verkannt, dass die Untersuchung mit DYS-Markern das Y-Chromosom betrifft, das in väterlicher Linie gekoppelt und von Mutationen abgesehen unverändert weitervererbt wird (vgl. LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 171 mwN). Demgemäß kommen als Verursacher – worauf auch der Sachverständige hingewiesen hat (UA S. 37) – neben dem Angeklagten nur aus derselben väterlichen Linie stammende männliche Verwandte wie seine Brüder als Spurenverursacher in Betracht. Anhaltspunkte für eine Anwesenheit seiner Brüder sind aber nicht vorhanden.

b) Das angefochtene Urteil lässt eine umfassende Gewichtung der vorhandenen Beweisanzeichen vermissen. Der gerichtsbiologische Sachverständige hatte zwar ausgeführt, dass eine sekundäre oder tertiäre Übertragung von DNA an den Tatort „grundsätzlich immer möglich“ sei. Gegenständlich halte er eine solche Übertragung aber für unwahrscheinlich, weil die DNA des Angeklagten an zwei verschiedenen Orten, nämlich an der Leiche und an der Geldbörse, gefunden worden sei. Dem entspricht das durch den Senat eingeholte Gutachten des Sachverständigen für forensische DNA-Analyse Prof. Dr. Courts (Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Köln).

Vor diesem Hintergrund hätte es näherer Erörterung bedurft, dass sich vom Angeklagten herrührende Spuren an mehreren Stellen des Leichnams befanden (vgl. auch BGH, Urteil vom 12. Januar 2012 – 4 StR 499/11, NStZ 2012 648 [dort nicht abgedruckt] LR-StPO/Sander, aaO, § 261 Rn. 156; siehe auch Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger/Schneider/Schneider, NStZ 2022, 72, 75, 78). Dies gilt umso mehr, als mit dem Arm der Getöteten (multiple Druckmale) und ihrem Brustbereich (Rippenbrüche, vermutlich verursacht durch Knien oder Sitzen des Täters auf dem Brustkorb) Stellen betroffen waren, die nach den Feststellungen massiver Gewalthandlungen von Seiten des Täters ausgesetzt waren. Eine Überspannung der Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt es in diesem Zusammenhang dar, wenn die Jugendkammer darauf verweist, dass nicht habe festgestellt werden können, ob der Ort der jeweiligen Spuren exakt mit den Druckmalen korrespondiere. Denn dieser Umstand kann seine Erklärung zwanglos in einem Verrutschen der Kleidung finden. Den Urteilsgründen (UA S. 14 f.) lässt sich überdies nicht entnehmen, dass durch die Rettungskräfte bzw. Polizeibeamten gerade am Arm des Opfers Veränderungen vorgenommen wurden.

Schließlich fehlen Ausführungen dazu, ob die Gesamtheit der am Leichnam gefundenen Spuren Primärübertragungen so sehr nahelegen, dass aus sachverständiger Sicht ohnehin unwahrscheinliche sekundäre oder tertiäre Übertragungen aus dem Hausflur heraus nur noch theoretisch in Betracht kommen. Diese wären auch deswegen notwendig gewesen, weil in der Wohnung – was das Landgericht im Grundsatz nicht verkannt hat – keine Spuren von anderen den Hausflur wie der Angeklagte nutzenden männlichen Hausbewohnern, von den Rettungskräften oder den Polizeibeamten gefunden wurden.“

Beweiswürdigung I: Nur eingeschränkte Überprüfung, oder: Wenn das Tatgericht zu viele Fehler macht

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Ich meine, dass ich schon länger keine Entscheidungen zur Beweiswürdigungsfragen vorgestellt habe. Daher heute die Thematik.

Und ich eröffne mit dem schon etwas älteren BGH, Urt. v. 02.02.2022 – 5 StR 282/21. Ergangen ist die Entscheidung in einem BtM-Verfahren. Das LG hatte den Angeklagten vom Vorwurf des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einer Vielzahl von Fällen freigesprochen. Dagegen hatte die StA Revision eingelegt, beschränkt auf einen Fall. Die Revision hatte Erfolg:

„Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

F., sein Bruder, der Mitangeklagte Fa. und zwei weitere Mitangeklagte waren aufgrund von Ermittlungsmaßnahmen in anderen Strafverfahren und daraufhin angeordneten Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen in den Verdacht geraten, am Betrieb eines Kokainlieferservice im B.er Stadtgebiet beteiligt zu sein, bei dem Kokain in Einheiten von 0,5 Gramm, abgefüllt in sogenannten Eppendorfgefäßen, telefonisch bestellt werden konnte und dann an der gewünschten Adresse angeliefert wurde.

Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2016 mit seiner damaligen Lebensgefährtin in deren Wohnung. Er blieb indes – wie sein Bruder, der zumindest zeitweise mit Frau und Tochter in einer anderen Wohnung in B. lebt – in der Dreizimmerwohnung der Mutter gemeldet. Der Angeklagte begab sich nach einem Streit mit seiner Lebensgefährtin etwa zwei bis drei Tage vor dem 26. Februar 2019 mit einer Reisetasche, Rasierzeug und Zahnbürste sowie einigen Kleidungsstücken in die Wohnung der Mutter, um dort in einem unbewohnten Zimmer zu übernachten. Bei der Durchsuchung am 26. Februar 2019 wurden in dem von dem Angeklagten genutzten Zimmer unter einem dort befindlichen Schreibtisch in einem Karton Eppendorfgefäße und fünf Druckverschlussbeutel gefunden sowie – daneben auf dem Boden liegend – insgesamt 221 Gramm Kokaingemisch teilweiser fester Substanz mit einem Wirkstoffgehalt von 182,9 Gramm Kokainhydrochlorid bei einer Messunsicherheit von +/- 5 %, verpackt in zwei Schnellverschlusstütchen und vier verknotete Kunststoffbeutel sowie eine kleine Feinwaage mit betäubungsmittelsuspekten Anhaftungen. An zwei der Kunststoffbeutel fanden sich im Knotenbereich DNA-Spuren des Angeklagten. Darüber hinaus wurden in dem Zimmer insgesamt elf Mobiltelefone sichergestellt, wovon sich acht Telefone in einer der Schreibtischschubladen befanden. Es handelte es sich um ältere Modelle, mindestens vier Modelle waren äußerlich defekt. Im Wohnzimmer wurde Bargeld in Höhe von 8.800 Euro in einer Stückelung von 14 x 500, 7 x 100‚ 21 x 50, 2 x 20 und 1 x 10 Euro in einer kleinen schwarzen Ledertasche unter einem Kissen der Couch sichergestellt; auch an dieser Ledertasche fanden sich DNA-Spuren des Angeklagten.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil ihm weder ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge noch der Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nachzuweisen gewesen sei. Dazu hat die Strafkammer ausgeführt: Dem Angeklagten sei seine Einlassung nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu widerlegen, dass er, als er das Zimmer bezogen habe, „verschiedene Tüten“ auf dem Schreibtisch vorgefunden und geöffnet und dabei „wahrgenommen [habe], dass es sich hierbei um Drogen handelte“. Er habe die Tüten daraufhin wieder verschlossen und unter den Schreibtisch auf eine Kiste geräumt, in die er nicht hineingeschaut habe; an eine Feinwaage habe er keine Erinnerung. Das Zimmer sei „zeitweise von verschiedenen Mitgliedern der Großfamilie F. […] bewohnt worden […] so dass auch mehrere Schlüssel zu der Wohnung existierten.“ Das Geld in der Geldtasche im Wohnzimmer unter den Sofakissen gehöre seiner Mutter, die nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2017 eine Erbschaft von 9.000 Euro erhalten habe; davon habe er sich im Einverständnis mit ihr 200 Euro genommen, weil er Geld gebraucht habe. Zu den Mobiltelefonen könne er nur sagen, dass sein Bruder zu diesem Zeitpunkt in einem Reparatur- und Verkaufsladen für Mobiltelefone gearbeitet habe.

II.

Die während des Revisionsverfahrens wirksam auf den Teilfreispruch betreffend den Angeklagten im Fall VIII.3. der Urteilsgründe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

1. Allerdings muss das Revisionsgericht es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteile vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21 Rn. 11; vom 4. November 2021 – 3 StR 105/21 Rn. 6, jeweils mwN).

2. Solche Rechtsfehler liegen hier vor. Denn die Beweiswürdigung weist Lücken auf, die Strafkammer hat falsche Maßstäbe angelegt und überzogene Anforderungen an ihre Überzeugungsbildung gestellt. Im Einzelnen:

a) Es erweist sich – jedenfalls mit Blick auf das Beweisergebnis im Übrigen – als rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht den Angeklagten freigesprochen hat, weil es gemeint hat, mangels anderer Erkenntnisse nach der Beweisaufnahme seine Einlassung nicht widerlegen zu können. Nach dieser hätten andere Mitglieder der Familie F., von denen bereits einige wegen Betäubungsmittelhandels verurteilt wurden, zeitweise in dem freien Schlafzimmer in der Wohnung der Mutter gewohnt. Es sei „durchaus möglich“, dass der Angeklagte, der „aus einer drogenerfahrenen Familie stamme“, die Beutel mit Kokain nur geöffnet und dabei seine DNA-Spuren hinterlassen habe, weil er lediglich habe wissen wollen, „ob sich in allen Beuteln Kokain befand oder etwa beispielsweise auch oder nur Streckmittel.“

Der Umstand, dass das Landgericht davon ausgegangen ist, es müsse die Einlassung des Angeklagten „widerlegen“, deutet hier bereits darauf hin, dass es überzogene Anforderungen an seine Überzeugungsbildung angelegt hat. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat; auch entlastende Angaben des Angeklagten sind nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21 Rn. 11 mwN).

Für die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten waren schon keine Anhaltspunkte ersichtlich: Er hat keinen – auch nur entfernten – Verwandten, der angeblich das Zimmer genutzt habe, namhaft gemacht, was sich als gegebenenfalls zu würdigendes Teilschweigen erweist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 StR 258/16 Rn. 23). Konkrete tatsächliche Umstände, die dafür sprechen, dass jemand anders als der Angeklagte die Betäubungsmittel in das Zimmer gebracht hatte, hat die Strafkammer nicht festgestellt. Vielmehr war es der Angeklagte, der die Tüten mit Kokain nachweislich nicht nur flüchtig berührt, sondern auch verknotet hatte. Der pauschale Verweis der Strafkammer auf die „drogenerfahrene“ Familie des Angeklagten, innerhalb derer es bereits zu Verurteilungen wegen Betäubungsmittelhandels gekommen sei, bleibt insoweit gänzlich vage. Hinzu kommt, dass das von der Strafkammer unterstellte Motiv des Angeklagten für das angebliche Öffnen von zwei verknoteten Beuteln mit Kokain nicht einmal von ihm selbst in seiner Einlassung genannt worden ist. Nach alledem hat das Landgericht die naheliegende Möglichkeit außer Betracht gelassen, dass es sich bei der Einlassung des Angeklagten insoweit um eine bloße Schutzbehauptung handeln könnte.

Angesichts der – was die Strafkammer im Ansatz auch nicht verkannt hat – den Angeklagten in erheblichem Maße belastenden objektiven Beweismittel, namentlich der DNA-Spuren, aber auch der übrigen Auffindesituation, bestand hier zudem Anlass für eine besonders sorgfältige Erörterung der näheren Umstände der Einlassung. Insbesondere – zumal vor dem Hintergrund, dass das Urteil nichts zum Einlassungsverhalten vor der Hauptverhandlung mitteilt – hätte sich eine Auseinandersetzung damit aufgedrängt, ob die Angaben des Angeklagten in Kenntnis der Ergebnisse der abgeschlossenen Ermittlungen gemacht wurden und ihnen deswegen ein geringerer Beweiswert beizumessen sein könnte, weil der Angeklagte bei diesem Kenntnisstand die Möglichkeit hatte, seine Darstellung an die bisherigen Ermittlungserkenntnisse anzupassen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 5 StR 411/20, NStZ 2021, 319 mwN).

b) Rechtsfehlerhaft ist weiter, dass die Strafkammer die Einlassung des Angeklagten nicht – wie geboten – einer echten Plausibilitätsprüfung unterzogen und erschöpfend gewürdigt hat (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 StR 258/16 Rn. 20). Denn an die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2003 – 4 StR 270/03, NStZ-RR 2004, 88; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 167 mwN). Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Glaubhaftigkeitsprüfung ist dabei die Plausibilität und Stimmigkeit der Einlassung an sich (vgl. BGH, Urteile vom 16. Dezember 2020 – 2 StR 209/20 Rn. 21 ff.; vom 5. November 2020 – 4 StR 381/20, NStZ 2021, 574 mwN; Beschluss vom 12. November 2019 – 5 StR 451/19 Rn. 7 mwN).

aa) Die Strafkammer hat ausweislich der Urteilsgründe lediglich die Einlassung des Angeklagten, er habe nur für ein paar Tage in dem Zimmer in der Wohnung seiner Mutter gewohnt, einer näheren Plausibilitätsprüfung unterzogen und insoweit ausgeführt, dafür spreche, dass sein Rasierzeug und die Zahnbürste in dem von ihm bewohnten Zimmer auf dem Schreibtisch gefunden worden seien und nicht im Badezimmer. Wie der Generalbundesanwalt indes zutreffend ausgeführt hat, ist es für die Frage, ob der Angeklagte im Zeitpunkt der Durchsuchung Betäubungsmittel in dem von ihm genutzten Zimmer aufbewahrte, um mit ihnen Handel zu treiben, bedeutungslos, ob er in der Wohnung seiner Mutter seinen Lebensmittelpunkt hatte oder sich nur vorübergehend dort aufhielt.

bb) Ungeprüft übernommen hat das Landgericht hingegen die angesichts des eingeräumten vorangegangenen Drogenfundes für sich genommen wenig plausible Erklärung, der Angeklagte habe in die unter dem Tisch stehende Kiste, in der sich die Eppendorfgefäße zur Portionierung und Auslieferung des Kokains befanden, nicht hineingeschaut, als er die Tüten mit Betäubungsmitteln eben darauf abgelegt habe und er habe an die ebenfalls dort liegende Feinwaage „keine Erinnerung“. Eine Plausibilitätsprüfung hätte die Frage ergeben, wie sich diese Einlassung und die darin zum Ausdruck gebrachte Indifferenz des Angeklagten gegenüber anderen zum Betäubungsmittelhandel dienenden Gegenständen mit dem ihm unterstellten Interesse am genauen Inhalt der mit Kokain befüllten Tüten in Einklang bringen lässt.

cc) Schließlich hat das Landgericht auch die Einlassung des Angeklagten, das im Wohnzimmer in einer Geldtasche mit DNA-Spuren von ihm aufgefundene Geld stamme aus einer Erbschaft der Mutter aus dem Jahr 2017 nicht der gebotenen kritischen Prüfung unterworfen. Diese hätte die Frage aufgeworfen, warum er ausgerechnet im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Wohnungsdurchsuchung von den von der Mutter ererbten 9.000 Euro, die bis dahin – also über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren – offenbar unangetastet blieben, Geld erhalten haben sollte und die Tasche danach nicht seiner Mutter zurück in ihr Zimmer gelegt, sondern im Wohnzimmer unter den Sofakissen versteckt haben will.

c) Jedenfalls angesichts der Gesamtheit der aufgezeigten Rechtsfehler kann der Freispruch des Angeklagten – auch eingedenk der eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts – keinen Bestand haben. Die Sache bedarf deshalb insoweit umfassender neuer Verhandlung und Entscheidung.“

OWi II: Kein Fahrverbot wegen besonderer Härte?, oder: Urteilsgründe bei drohendem Arbeitsplatzverlust

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Im zweiten Posting dann mal wieder etwas zum Fahrverbot nach § 25 StVG, und zwar der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.04.2022 – 3 Ss-OWi 415722. Der Betroffene ist wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden. Das AG hatte kein Fahrverbot verhängt und dazu ausgeführt:

„Der Bußgeldkatalog sieht für Verstöße wie den vorliegenden eine Regelgeldbuße von 160 € und ein einmonatiges Regelfahrverbot vor. Wird von der Anordnung eines Fahrverbots ausnahmsweise abgesehen, so soll das für den betreffenden Tatbestand als Regelsatz vorgesehene Bußgeld angemessen erhöht werden, § 4 Abs. 4 BKatV. Von vorstehend genannter Möglichkeit wurde vorliegend Gebrauch gemacht. Statt ein Fahrverbot zu verhängen, wurde die Regelgeldbuße vorliegend auf 320 € erhöht und somit verdoppelt. Das ausnahmsweise Absehen vom Fahrverbot beruht auf den unter I. aufgeführten Erwägungen zur beruflichen Tätigkeit des Betroffenen und zu seiner in diesem Zusammenhang noch bestehenden Probezeit. Da der Betroffene in der derzeit laufenden Probezeit ohne nähere Begründung des Arbeitgebers und ohne wesentliche rechtliche Hürden entlassen werden kann und in der Probezeit in der Regel kein Urlaub genommen werden darf, stellt das vorliegend grundsätzlich vorgesehene Regelfahrverbot eine besondere Härte für den Betroffenen dar, die insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Ersttäter handelt, unverhältnismäßig ist.“

Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde der StA hatte Erfolg. Dem OLG genügen die Ausführungen des AG nicht:

„b) Diesen Anforderungen genügt die angefochtene Entscheidung nicht.

aa) Für die festgestellte Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2, 49 StVO, § 41 Nr. 1 i.V.m. Nr. 11.3.7 BKatV, §§ 24, 25 StVG ist eine Regelgeldbuße von 160,00 Euro sowie ein Regelfahrverbot von einem Monat nach Nr. 11.3.7 BKatV vorgesehen. Bei dieser Zuwiderhandlung ist ein grober bzw. beharrlicher Pflichtverstoß indiziert, dessen Ahndung, abgesehen von besonderen Ausnahmefällen, eines Fahrverbotes als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme bedarf (BGHSt 38, 125, 134 = NJW 1992, 446; BGHNJW 2016, 1188, 1190; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn.19 m.w.N.). Zeichnet sich der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen durch wesentliche Besonderheiten aus, so kann der Tatrichter dennoch die Überzeugung gewinnen, dass trotz eines Regelfalls die Verhängung eines Fahrverbots unangemessen ist und der notwendige Warneffekt unter angemessener Erhöhung der Regelgeldbuße erreicht werden kann, wobei das Absehen vom Fahrverbot stets näher zu begründen ist (BGHSt 38, 231, 237 = NJW 1992, 1397; Senat, Beschl. v. 31.01.2022 – 3 Ss-OWi 41/22, BeckRS 2022, 2657 Tz. 12 f.; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn. 26 m.w.N.).

Grundsätzlich ist anerkannt, dass die Verhängung eines Fahrverbots unter Anwendung der Regelbeispielstechnik des Bußgeldkatalogs nach Maßgabe des § 25 Abs. 1 S.1 StVG dann ungemessen erscheint und daher von der Verhängung abgesehen werden kann, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder zum Existenzverlust bei einem Selbstständigen führen würde und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.07.2006 – 2 Ss-OWi 246/06, BeckRS 2014, 477; OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 – 5 RBs 48/22, BeckRS 2022, 5633 Tz.30 m.w.N.).

bb) Im Grundsatz zu Recht ist das Amtsgericht in seiner Begründung davon ausgegangen, dass ein Fahrverbot während der Probezeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als Berufskraftfahrer grundsätzlich die Besorgnis der Auflösung des Arbeitsverhältnisses begründen kann. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Maßstäbe der Besorgnis einer drohenden Kündigung in einem nicht gesicherten Arbeitsverhältnis nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Zudem ist es dem Tatrichter bei der Beurteilung der Frage, ob für den Betroffenen eine solche unbillige Härte aufgrund eines konkret drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes anzunehmen ist, nicht verwehrt, der Behauptung bzw. Besorgnis des Betroffenen zu glauben.

Das Amtsgericht hat ausgeführt, das ausnahmsweise Absehen vom Fahrverbot beruhe insbesondere auf der beruflichen Tätigkeit des Betroffenen und der in diesem Zusammenhang bestehenden Probezeit. Da der Betroffene in der derzeit laufenden Probezeit ohne nähere Begründung des Arbeitgebers und ohne wesentliche Hürden entlassen werden und in der Probezeit in der Regel kein Urlaub genommen werden könne, stelle das Regelfahrverbot eine besondere Härte für den Betroffenen dar.

Die Urteilsfeststellungen über den einen Härtefall begründenden Arbeitsplatzverlust beruhen indes ausschließlich auf den Angaben des Betroffenen und lassen dabei eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob eine Kündigung durch den Arbeitgeber tatsächlich konkret zu befürchten ist. Der Tatrichter hat jedoch im Urteil darzulegen, aus welchen Gründen er diese Angaben für glaubhaft erachtet, um Missbrauch auszuschließen und dem Rechtsbeschwerdegericht eine Entscheidung auf fundierter Tatsachengrundlage zu ermöglichen (OLG Bamberg, Beschl. v. 22.01.2009 – 2 Ss OWi 5/09, NZV 2010, 46; OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 – 5 RBs 48/22, BeckRS 2022, 5633 Tz. 31; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn. 26 m.w.N.). Die Aufklärungspflicht des Tatrichters bestimmt sich dabei nach § 77 Abs. 1 OWiG. Dementsprechend darf sich die Begründung im Urteil nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen.

Die angefochtene Entscheidung enthält jedoch keine tragfähigen Erwägungen zu der Glaubhaftigkeit der Angaben des Betroffenen. Das Tatgericht führt allein aus, dass die Annahme der Voraussetzungen für das Absehen eines Fahrverbotes auf den Angaben des Betroffenen beruhen. Die daran anschließenden Urteilserwägungen, ob Zweifel am Zutreffen der Angaben des Betroffenen aufgekommen seien, beziehen sich lediglich auf die Einlassung des Betroffenen hinsichtlich des ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoßes. Auch die vom Tatgericht gewählte Formulierung, wonach „in der Regel kein Urlaub genommen werden darf“ indiziert, dass sich diese vom Tatgericht gezogene Schlussfolgerung nur als eine Annahme bzw. bloße Vermutung erweist.

Gleichzeitig hat sich das Amtsgericht im Rahmen der Begründung des Rechtsfolgenausspruches nur auf einen möglichen Arbeitsplatzverlust und auf seine Eigenschaft als Ersttäter beschränkt. Jedoch dürfen sämtliche konkreten Umstände des Einzelfalles in objektiver und subjektiver Hinsicht in der Entscheidung nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.03.1996 – 2 BvR 616/91, NZV 1996, 284, 285).“