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OWi II: Fahrt nach Mischkonsum von Cannabis/Kokain, oder: Wann entfällt die sog. „Medikamentenklausel“?

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In der zweiten Entscheidung des Tagesn, dem OLG Koblenz, Beschl. v. 13.04.2022 – 3 OWi 31 SsBs 49/22, den mir der Kollege Wandt aus Wuppertal vor ein paar Tagen geschickt hat, geht es ua. auch um die Anforderungen an die Urteilsgründe. Der Betroffene ist wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 2 StVG – also Drogenfahrt – verurteilt worden.

Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen fuhr der Betroffene am 23.06.2020 gegen 2:17 Uhr mit einem PKW, obwohl eine um 2:45 Uhr entnommene Blutprobe Werte von 13 ng/ml THC und 5 ng/ml Benzoylecgonin – ein Abbauprodukt von Kokain – aufwies. Der Betroffene hat sich dahingehend eingelassen, dass ihm bewusst gewesen sei, dass er das Kraftfahrzeug unter der Wirkung von Cannabis geführt habe, da ihm – wie vom AG auch festgestellt – von seinem behandelnden Arzt die Einnahme von bis zu 2g THC haltigen Produkten (Cannabisblüten) verordnet worden ist.

Auf der Grundlage dieser Beweisergebnisse hat das AG wegen des festgestellten Abbauprodukts Benzoylecgonin auf einen Beikonsum von Kokain geschlossen und daraus eine nicht bestimmungsgemäße Einnahme i.S.v. § 24a Abs. 2 Satz 3 des verordneten Medizinalcannabis hergeleitet und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass hierdurch das Privileg der Medikamentenklausel insgesamt entfalle und er damit durch den nachgewiesenen Wert von 13 ng/ml THC ordnungswidrig gehandelt habe.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg, auch die GStA hatte übrigens Aufhebung beantragt:

„Das Urteil leidet an einem Darstellungsmangel; die Feststellungen zum Arzneimittelprivileg des Betroffenen sind – worauf das Amtsgericht in den Urteilsgründen selbst hinweist – lückenhaft und tragen den Schuldspruch daher nicht.

Nach § 24a Abs. 2 StVG handelt derjenige, der unter der Wirkung berauschender Mittel am Straßenverkehr teilnimmt, ordnungswidrig. Nicht ordnungswidrig ist das Verhalten des Betroffenen nach § 24a Abs. 2 Satz 1, 2 StVG dann, wenn die festgestellte Substanz ausschließlich durch die bestimmungsgemäße Einnahme eines Arzneimittels in das Blut gelangt ist, vorausgesetzt, die Einnahme wurde für einen konkreten Krankheitsfall ärztlich verordnet (sog. Medikamentenklausel).

Der Unterschied zwischen bestimmungsgemäß eingenommenen Medikamenten und Drogen liegt in der unterschiedlichen Wirkung der Substanzen als Therapeutikum bei der Einnahme nach ärztlicher Verordnung und bei missbräuchlichem Konsum. Während ein Drogenkonsument eine Substanz zu sich nimmt, um berauscht zu sein, nimmt ein Patient eine Substanz zu sich um seine Leiden zu lindern (BT-Drucks 17/9868 v. 05.06.2012). Bei bestimmungsgemäßer Einnahme fahren die ein Medikament einnehmenden Patienten gerade nicht in einem berauschten Zustand. Erst durch die Einnahme des Arzneimittels sind sie überhaupt in der Lage, sicher am Straßenverkehr teilzunehmen (Rebel, ZfSch 2020, 133ff – juris; Maatz in Blutalkohol 1999, S. 36ff.). Da die Dosis jeweils individuell ist, gibt es auch keine Grenzwerte für die Einnahme von Medikamenten. Stattdessen gilt der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit. Danach muss ein Kraftfahrer ärztliche Anweisungen befolgen und die Gebrauchsanweisung des eingenommenen Medikaments beachten. Hält sich ein Kraftfahrer an diese Vorgaben, begeht er nach § 24a Abs. 2 Satz 2 StVG auch keine Ordnungswidrigkeit, da die Substanz dann aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt (BayVGH, Beschl. 11 B 18.2482 v. 29.04.2019 – juris). Eine bestimmungsgemäße Anwendung ist aber nur dann gegeben, wenn die Anwendung auf einer eindeutigen Verschreibung für eine symptombezogene Indikation beruht und das Arzneimittel nicht missbräuchlich oder überdosiert verwendet wird (OLG Bamberg, Beschl. 2 Ss Owi 1607/18 v. 02.01.2019 – Rn. 7 n. juris). Dazu bedarf es zunächst der Feststellung, ob und wann das Medikament durch einen Arzt verordnet, zur Behandlung einer konkreten Krankheit eingenommen und die Dosierungsanweisung beachtet worden ist (KG Berlin, Beschl. 3 Ws (B) 368/15 v. 30.07.2015 – Rn. 8 n. juris).

Ob die sog. Medikamentenklausel nach § 24a Abs. 2 Satz 3 StVG vorliegend eingreift oder nicht, vermag der Einzelrichter des Senats auf der Grundlage der im Urteil getroffenen Feststellungen nicht zu überprüfen. Um dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung zu ermöglichen, ob das Tatgericht den Begriff der bestimmungsgemäßen Einnahme richtig angewendet und der Betroffene sich an die Einnahme- und Dosierungsanweisungen gehalten hat, ist der entsprechende Inhalt des hierfür maßgeblichen Cannabinoidausweises (BayVGH, aaO. – n. juris Rn. 40) – sofern keine zulässige Bezugnahme erfolgt – im Wortlaut in den Urteilsgründen wiederzugeben. Aus diesem können sich über die aufzunehmende Menge hinaus noch weitere Angaben darüber ergeben, zu welchen Tageszeiten zu welchem Zweck sowie in welchem zeitlichen Abstand zum Führen eines Kraftfahrzeuges die Einnahme zu erfolgen hat oder welche Stoffe nicht zusammen mit der verordneten Substanz eingenommen werden dürfen. Daran fehlt es hier.“

Interessant dann die Segelanweisung des Einzelrichters des Senats:

„Liegen die Voraussetzungen des § 24a Abs. 2 Satz 3 StVG vor, lässt sich nach der Rechtsprechung des Kammergerichts die Einnahme von Medikamenten vom Konsum illegaler Drogen – etwa bei gleichem Wirkstoff im Blut – mit sachverständiger Hilfe unterscheiden (vgl. KG Berlin, Beschl. 3 Ws (B) 368/15 v. 30.07.2015). Im Umkehrschluss bedeutet dies für den vorliegenden Fall, dass der Konsum von illegalen Drogen neben Medizinalcannabis die Anwendung der Medikamentenklausel grundsätzlich nicht entfallen lässt. Ein ordnungswidriges Verhalten des Betroffenen läge jedenfalls dann vor, wenn nachzuweisen wäre, dass auch ohne die Einnahme der verordneten Menge des Medikaments der analytische Grenzwert überschritten worden wäre (vgl. KG Berlin aaO.; Rebel, aaO.) und die Medikation über dem verordneten Bereich läge.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrem Votum darüber hinaus ausgeführt, dass Feststellungen zu den Einnahme- und Dosierungsanweisungen auch bei dem vom Tatgericht angenommen Mischkonsum nicht entbehrlich sind:

„Diese Darstellung ist auch dann nicht entbehrlich, wenn weitere Substanzen, die selbst nicht in einer die Fahrtauglichkeit beeinträchtigen Konzentration vorliegen, im Blut des Betroffenen festgestellt wurden. Ob ein nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch vorliegt, kann naturgemäß nur beantwortet werden, wenn der bestimmungsgemäße Gebrauch hinreichend beschrieben ist. Die Frage inwieweit durch den Beikonsum weiterer – auch illegaler Substanzen – die bestimmungsgemäße Wirkung des Cannabis beeinträchtigt wird (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 29. April 2019 – 11 B 18.2482 – Rdnr. 38, juris), kann zudem nur bezogen auf das konkrete Krankheitsbild und die dem Betroffenen gemachten Einnahmevorgaben beantwortet werden.“

Habe ich so auch noch nicht gelesen.

OWi I: Messung mit standardisiertem Messverfahren, oder: Wurde die Bedienungsanleitung beachtet?

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Nachdem ich gestrigen Tag mit einem Sonder-OWi-Posting beendet habe, und zwar der „Kneif-Entscheidung“ des BGH im BGH, Beschl. v. 30.03.2022 – 4 StR 181/21 (dazu Sondermeldung: Einsichtnahme in die Messreihe, oder: Keine Divergenz – “Kneift” der BGH in der Sache?) heute dann ein „normaler“ OWi-Tag.

Den eröffne ich mit einem OLG Karlsruhe-Beschluss, den mit der Kollege Hufnagel geschickt hat. In dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.04.2022 – 1 Rb 35 Ss 193/22 – geht es noch einmal/mal wieder um die Anforderungen an die Urteilsgründe bei einem standardisierten Messverfahren. Der Betroffene ist wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden. Zugrunde gelegt worden ist eine Messung mit Riegl FG 21P. Dem OLG reichen dann die Feststellung des AG und desse Beweiswürdigung nicht:

„Zwar unterliegt die Beweiswürdigung des Bußgeldrichters nur eingeschränkter Überprüfung im Rechtsbeschwerderechtszug. Gemäß § 261 StPO i.V.m. § 71 OWiG obliegt es dem Tatgericht, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen, ist allein Sache des Tatrichters. Ihm allein obliegt es, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er – an sich mögliche – Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht. Weder ist der Tatrichter gehindert, an sich mögliche, wenn auch nicht zwingende Folgerungen aus bestimmten Tatsachen zu ziehen, noch kann ihm vorgeschrieben werden, unter welchen Voraussetzungen er zu einer bestimmten Folgerung und einer bestimmten Überzeugung kommen darf oder gar muss. Diese freie Würdigung des Bußgeldrichters darf das Rechtsbeschwerdegericht lediglich auf Rechtsfehler überprüfen, nicht aber durch seine eigene ersetzen (vgl. auch BGHSt 10, 20). Das Rechtsbeschwerdegericht hat die tatrichterliche Beweiswürdigung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24.03.2015 – 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Einen sachlich-rechtlichen und daher auf die Sachrüge im Rechtsbeschwerderechtszug beachtlichen Fehler beinhaltet die Beweiswürdigung allerdings, wenn sie in sich widersprüchlich; lückenhaft oder unklar ist, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt oder falsche Maßstäbe für die zur Verurteilung erforderliche bzw. ausreichende Gewissheit angelegt werden.

Gemessen an diesen Maßstäben hält das angefochtene Urteil rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Urteilsausführungen sind bzgl. der ordnungsgemäßen Durchführung der Messung lückenhaft und deshalb rechtsfehlerhaft (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO iVm § 71 OWiG). Sie genügen nicht den Anforderungen, die an die Darlegung und Begründung eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Messergebnisses zu stellen sind.

Bei der im vorliegenden Verfahren vorgenommenen Geschwindigkeitsmessung mit dem Laser-Handmessgerät Riegl FG21P handelt es sich grundsätzlich um ein sog. standardisiertes Messverfahren, bei dem der Tatrichter im Urteil nur die Messmethode und den berücksichtigten Toleranzwert anzugeben hat. Dies gilt jedoch nur dann, wenn das verwendete Messgerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardgemäß, d. h. im geeichten Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs- bzw. Gebrauchsanweisung verwendet wurde. Nur so kann mit der für eine spätere Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, ob das Gerät in seiner konkreten Aufstellsituation tatsächlich mit der bei standardisierten Messverfahren vorausgesetzten Präzision arbeitet und so eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt (OLG Koblenz DAR 2006, 101/102; OLG Bamberg Beschl. v. 2.12.2016 — 2 Ss OWi 1185/16, BeckRS 2016, 116866 Rn. 7, beck-online). Beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass Verfahrensbestimmungen nicht eingehalten wurden oder – substantiiert – Messfehler geltend gemacht werden, müssen im Urteil hierzu Ausführungen gemacht werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat zur Begründung ihres Antrags auf (teilweise) Aufhebung des Urteils in ihrer Stellungnahme vom 28.03.2021 folgendes ausgeführt:

„Eine Überprüfung, ob das verwendete Messgerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardgemäß – entsprechend der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs- und Gebrauchsanweisung – verwendet wurde, wie seitens der Verteidigung substantiiert bestritten, ist dem Rechtsbeschwerdegericht vorliegend nicht möglich. Ausweislich der Urteilsgründe (UA, S. 3) hat das Amtsgericht ohne nähere Ausführungen festgestellt, dass das Gerät nach den Anweisungen des Herstellers getestet und bedient wurde. Weiter hat das Gericht ausgeführt, dass das Polizeifahrzeug nach Abschluss der Eingangstests auf dem Parkplatz Lächle nochmals einige Meter bis zur Ausfahrt des Parkplatzes bewegt wurde, um dort die Messung der Fahrzeuge durchzuführen. Feststellungen dazu, welche konkreten Anforderungen der Hersteller an die Durchführung der Funktionstests stellt, wie sie vom Bedienungspersonal ordnungsgemäß durchzuführen sind und ob sich der Messbeamte an die entsprechenden Herstellervorgaben tatsächlich gehalten hat (vgl. OLG Gelle, Beschluss vom 26.06.2009 – 311 SsBs 58/09, NZV 2010, 414), fehlen, obwohl seitens der Verteidigung eingewandt wurde, dass das Polizeifahrzeug mit dem Gerät nach den Eingangstests noch bewegt worden sei und auch die Abschlusstests auf einem anderen Parkplatz stattgefunden hätten. Diese Feststellungen wären jedoch erforderlich gewesen. So sind nach der Gebrauchsanweisung des eingesetzten Messgerätes ,nach jedem Transport des Messgeräts an einen neuen Einsatzort im Einsatzfahrzeug zu Beginn vier Tests durchzuführen. Dass diese Herstellerangaben beachtet wurden, ist nicht ersichtlich. Dem Urteil kann insbesondere nicht entnommen werden, dass das Messgerät händisch zur Ausfahrt des Parkplatzes Löchle gebracht wurde. Nur wenn das Gerät entsprechend der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs- und Gebrauchsanweisung verwendet wurde, kann davon ausgegangen werden, dass das Messgerät mit der bei standardisierten Messverfahren vorausgesetzten Präzision arbeitete. Nur in diesem Fall ist eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage gegeben. Anderenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Messergebnis verändert wurde, beispielsweise aufgrund von Erschütterungen im Einsatzfahrzeug.

Die erfolgte Messung als solche ist nicht generell unverwertbar. Vielmehr muss das Gericht – sollte die Messung nicht entsprechend der Bedienungs- und Gebrauchsanweisung erfolgt. sein – von einem individuellen Messverfahren ausgehen, das nicht mehr die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit für sich in Anspruch nehmen kann (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 02.12.2016 – 2 Ss OWi 1185/16, BeckRS 2016, 116866). Die Urteilsgründe enthalten, da das Gericht von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen ist, nicht die erforderlichen. Feststellungen hinsichtlich einer individuellen Überprüfung der Messung und genügen damit nicht den Anforderungen an die Darstellung eines außerhalb eines standardisierten Messverfahrens zustande gekommenen Messergebnisses.“

Dieser zutreffenden Rechtsauffassung schließt sich der Senat an. Aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen — ausgenommen sind die Feststellungen zur Fahrereigenschaft, welche von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind — aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm § 353 StPO).“

Also: Zurück auf Null.

Steuer I: Feststellungen im Steuerstrafverfahren, oder: Geeignete Schätzungsmethoden

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Thema Steuer? Ja, aber nicht das Steuer im Auto, sondern Steuerstrafrecht und was damit zu tun hat.

Und die erste Entscheidung ist dann der BGH, Beschl. v. 10.02.2022 – 1 StR 484/21 -, der sich zu  für das Steuerstrafverfahren geeigneten Schätzungsmethoden äußert.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Steuerhinterziehung von Körperschaft- und Gewerbesteuer für die Besteuerungszeiträume 2009 bis 2013 sowie Umsatzsteuer in den Besteuerungszeiträumen 2010 bis 2013) verurteilt. Dabei hatte das LG seine Feststellungen zu den sich nach den Steuererklärungen ergebenden – eingetretenen oder erstrebten – Steuerverkürzungen auf eine Schätzung gestützt, weil Rechnungen über nicht in die Buchhaltung aufgenommene Warenumsätze nicht existent beziehungsweise auffindbar waren. Seiner Schätzung hatte das LG für die einzelnen Besteuerungszeiträume durchgeführte Warenverkehrsrechnungen zugrundegelegt und hierfür den Anfangsbestand und die Einkäufe gemäß Buchhaltung den Verkäufen gemäß Buchhaltung gegenübergestellt.

Der BGH hat aufgehoben, weil eingetretene oder erstrebte Steuerverkürzungen durch die landgerichtliche Schätzung nicht rechtsfehlerfrei belegt waren:

„a) Im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. Januar 2014 – 1 StR 561/13 Rn. 19; vom 20. Dezember 2016 – 1 StR 505/16 Rn. 14; vom 29. August 2018 – 1 StR 374/18 Rn. 7; vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 und vom 11. März 2021 – 1 StR 521/20 Rn. 11; jeweils mwN). Bei der Wahl der Schätzungsmethode hat das Tatgericht einen Beurteilungsspielraum; es muss jedoch nachvollziehbar darlegen, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese im konkreten Fall für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen geeignet ist (st. Rspr.; z.B. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12 ff.; vom 14. Juni 2011 – 1 StR 90/11 Rn. 10; vom 8. August 2019 – 1 StR 87/19 Rn. 7 und vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 f.; jeweils mwN). Bei seiner Überzeugungsbildung hat das Tatgericht die vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6). Die Schätzungsgrundlagen sind in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar mitzuteilen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12; vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6 und vom 25. November 2021 – 5 StR 211/20 Rn. 14).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn die der Schätzung zugrunde gelegten Warenverkehrsrechnungen auf Basis der angenommenen Doppelverkürzung auf Einnahmen- und Ausgabenseite sind nicht rechtsfehlerfrei durchgeführt worden.

aa) Eine Warenverkehrsrechnung ist grundsätzlich ebenso wie die Geldverkehrsrechnung eine auch für das Steuerstrafverfahren geeignete Schätzungsmethode (vgl. zur Geldverkehrsrechnung BGH, Beschluss vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 27). Voraussetzung für eine belastbare Geld- oder Warenverkehrsrechnung ist aber stets, dass die Rechnung von einem gesicherten Anfangsbestand und einem gesicherten Endbestand ausgeht (st. Rspr.; grundlegend BFH, Urteil vom 21. Februar 1974 – I R 65/72, BFHE 112, 213 Rn. 12 ff., in der Folge u.a. BFH, Urteil vom 2. März 1982 – VIII R 225/80 Rn. 19 ff.; aus neuerer Zeit BFH, Urteil vom 12. Dezember 2017 – VIII R 5/14 Rn. 42; Beschluss vom 23. Februar 2018 – X B 65/17 Rn. 40).

bb) Dies ist hier nicht der Fall. Dass die sich aus den Inventurlisten der B.    GmbH ergebenden Anfangs- und Endbestände den tatsächlichen Warenbeständen zum jeweiligen Stichtag entsprachen, ist nicht rechtsfehlerfrei belegt.

(1) Die Beweiswürdigung ist allerdings Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 16. Januar 2020 – 1 StR 89/19, BGHSt 64, 252, Rn. 23 mwN).

(2) Diesen Anforderungen wird die landgerichtliche Beweiswürdigung nicht gerecht. Sie erweist sich mit Blick auf die den Warenverkehrsrechnungen jeweils zugrunde gelegten Anfangs- und Endbestände als lückenhaft. Trotz Annahme einer Doppelverkürzung auf Wareneingangs- und Warenausgangsseite hat das Landgericht seinen Warenverkehrsrechnungen die vom Angeklagten beziehungsweise dem Zeugen E.   nach jeweiliger Inventur dokumentierten Anfangs- und Endbestände zugrunde gelegt und ergänzend darauf verwiesen, dass der Angeklagte und der Zeuge E.   angegeben hätten, die Inventurübersichten seien zutreffend. An einer Begründung, warum die Strafkammer die Inventuraufstellungen für zutreffend hält und den diesbezüglichen Angaben des Angeklagten und des Zeugen E.   folgt, obwohl sie sowohl die Aufzeichnungen des Angeklagten und des Zeugen E.   für die Buchhaltung der B.    GmbH für unrichtig hält als auch deren Angaben zur vollständigen Erfassung der Warenumsätze in der Buchhaltung im Übrigen als unglaubhaft erachtet, fehlt es indes (vgl. zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung, wenn das Gericht einer Zeugenaussage nur teilweise glauben will, BGH, Urteil vom 28. Oktober 2021 – 4 StR 118/21 Rn. 18 mwN). Mit der sich als naheliegend aufdrängenden Möglichkeit, dass die sich aus den Inventuraufstellungen ergebenden Warenanfangs- und Endbestände eines jeden Jahres ebenso wie die Buchhaltung der B.    GmbH im Übrigen unzutreffend sein könnten, hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt….“

Strafzumessung II: Berufsrechtliche Folgen übersehen, oder: Einmal Rechtsanwalt, einmal Apotheker

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Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zum strafzumessungsrechtlichen Dauerbrenner: Übersehen der berufsrechtlichen Konsequenzen der Verurteilung.

Zunächst der BGH, Beschl. v. 08.03.2021 – 3 StR 398/21. Der Angeklagte, ein Rechtsanwalt, war vom LG wegen Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage in Tateinheit mit Strafvereitelung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dem BGH gefällt die Strafzumessung nicht:

“ Die „Strafzumessungserwägungen der Kammer, die sich nur mit der Frage eines Berufsverbots nach § 70 StGB befasst und dessen Verhängung abgelehnt hat, lassen nicht erkennen, ob sie bei der Strafbemessung die – unabhängig von einem Berufsverbot – (möglicherweise) drohenden anwaltsgerichtlichen Sanktionen gemäß § 114 Abs. 1 BRAO in den Blick genommen hat. Die beruflichen Nebenwirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung auf das Leben des Angeklagten sind jedenfalls dann als bestimmender Strafzumessungsgrund ausdrücklich anzuführen, wenn dieser durch sie seine berufliche oder wirtschaftliche Basis verliert (BGH, Beschluss vom 11. April 2013 – 2 StR 506/12, NStZ 2013, 522 mwN). Dass dies hier der Fall sein könnte, lässt sich nicht nur nicht ausschließen, sondern ist wahrscheinlich: Nach den Feststellungen ist der Angeklagte jedenfalls bis zum Zeitpunkt des Urteils als Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei, insbesondere auch als Strafverteidiger, tätig gewesen. Dazu, ob dem Angeklagten Maßnahmen nach § 114 Abs. 1 BRAO drohen, verhalten sich die Feststellungen nicht. Angesichts dessen, dass es sich bei der Beteiligung eines Rechtsanwalts, zumal in der Eigenschaft als solchem, an einem Aussagedelikt um einen – wie die Kammer zu Recht ausführt – besonders schwerwiegenden Verstoß gegen eine Berufspflicht handelt, erscheint es naheliegend, dass ihm in Folge der strafgerichtlichen Verurteilung anwaltsgerichtliche Maßnahmen, zumindest ein zeitlich befristetes Vertretungsverbot (§ 114 Abs. 1 Nr. 4 BRAO) oder sogar eine Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft (§ 114 Abs. 1 Nr. 5 BRAO) drohen (vgl. § 113 Abs. 1 BRAO). Bei Aussagedelikten, wie sie hier Gegenstand der Verurteilung sind, ist nach der anwaltsrechtlichen Rechtsprechung die Ausschließung aus der Anwaltschaft sogar der Regelfall, weil ein gravierender Verstoß gegen die Kernpflicht anwaltlicher Tätigkeit vorliegt (vgl. dazu Lubini, NZWist 2020, 178 (181)). Auf Grund dessen droht dem Angeklagten der Verlust seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Basis. Daher hätte das Gericht sich mit etwaigen Folgen dieser Art auseinandersetzen und diese ggf. mildernd berücksichtigen müssen.“

Und dann noch der BGH, Beschl. v. 15.03.2022 – 5 StR 497/21 -, in dem es um einen Apotheker ging:

„1. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.

a) Die Revision macht zutreffend geltend, die Ausführungen zur Strafzumessung ließen nicht erkennen, ob das Landgericht mögliche berufsrechtliche Konsequenzen in seine Erwägungen eingestellt hat. Die Erörterung solcher Umstände ist geboten, weil nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB die Wirkungen zu berücksichtigen sind, die von der Strafe für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind. Hierzu zählen als bestimmende Strafzumessungsgründe (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) nicht nur Beamte treffende Nebenfolgen, sondern auch solche, die sich bei anderen Berufsgruppen wie Apothekern auswirken können (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 1991 – 5 StR 542/90, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 23 mwN). Der Angeklagte ist nach den Feststellungen approbierter Apotheker und seit 1998 Inhaber einer Apotheke. Die zur Verurteilung führenden Straftaten beging er unter Ausnutzen seiner beruflichen Stellung. Es liegt daher nahe, dass die Approbation des Angeklagten nach § 6 Abs. 2 Bundes-Apothekerordnung widerrufen und die Erlaubnis zum Betreiben der Apotheke nach § 3 Nr. 3 Apothekengesetz erlöschen wird.

Dass das Landgericht nach § 70 StGB die Anordnung eines Berufsverbotes geprüft und im Ergebnis abgelehnt hat, genügt der Erörterungspflicht hier nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 StR 256/16, NZWiSt 2017, 39).“

Strafzumessung I: Strafaussetzung zur Bewährung, oder: Kurzer Strafrest und erste Freiheitsstrafe

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Heute ist zwar Feiertag – Ostermontag – aber: Warum an dem Tag nicht ein wenig arbeiten? Und daher gibt es hier heute das ganz normale Programm, und zwar mit Entscheidungen zur Strafzumessung. Zweimal zwei BGH-Beschlüsse.

Ich beginne mit zwei Beschlüssen zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung. Zunächst der BGH,  Beschl. v. 22.03.2022 – 1 StR 62/22 – in dem der BGH ein im sog. 2. Durchgang ergangenes Urteil des LG München I aufgehoben hat, weil:

„Die Strafzumessung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung wegen eines durchgreifenden Erörterungsfehlers nicht stand. Denn das Landgericht hat sich nicht mit dem hier bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) auseinandergesetzt, dass nach Anrechnung erlittener Untersuchungshaft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) nunmehr allein etwas mehr als ein Monat der Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der für eine Reststrafaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB maßgebliche Zweidrittelzeitpunkt ist längst überschritten. Der Angeklagte, der sich zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils seit über einem Jahr wieder auf freiem Fuß befand, arbeitet derzeit als Koch sowie für einen Sicherheitsdienst und hat einen festen Wohnsitz. Unter diesen Umständen ist ein Herausreißen aus den sozialen Bindungen durch die Vollstreckung des kurzen Strafrestes mit einer besonderen, vom Landgericht nicht ersichtlich bedachten Härte verbunden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. August 2009 – 5 StR 257/09, BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 9 Rn. 6 f. und vom 28. August 2012 – 3 StR 305/12 Rn. 4); insbesondere ist dieser Gesichtspunkt nicht der strafmildernden Berücksichtigung des fast 20-monatigen Vollzugs der Untersuchungshaft unter den Einschränkungen der COVID-Pandemie zu entnehmen.“

Und als zweite Entscheidung dann der BGH, Beschl. v. 26.01.2022 – 6 StR 633/21. Auch in ihm beanstandet der BGH die Nichtgewährung von Bewährung:

„Die Strafkammer hat anknüpfend an die „Gefährlichkeitsprognose der Sachverständigen“ eine positive „Sozialprognose“ im Sinne des § 56 StGB (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 4. November 2021 – 6 StR 12/20, Rn. 119; zur Gefährlichkeitsprognose nach § 63 StGB, BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2014 – 2 StR 297/14) verneint und dabei zu Ungunsten des Angeklagten ausgeführt, dass aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung sowie der ungünstigen sozialen Situation – ungeregelte Lebensführung, keine berufliche Perspektive – eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung von Gewaltstraftaten bestehe. Diese Einschätzung wird von den Urteilsgründen nicht getragen. Hinzu kommt, dass wesentliche Umstände, die eine günstige Prognose begründen können, unbeachtet geblieben sind. Denn das Landgericht hat sich nicht damit auseinandergesetzt, dass der Angeklagte erstmals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1991 – 5 StR 598/91) und dass er sich im Sommer 2021 in dieser Sache mehr als zwei Monate in Haft befunden hat (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 215).“