Archiv der Kategorie: Urteil

OWi II: Urteilsgründe beim Absehen vom Fahrverbot, oder: Augenblicksversagen, Härtefall, höhere Geldbuße

Bild von andreas160578 auf Pixabay

Und im zweiten Posting dann eine weitere Entscheidung des OLG Brandenburg zurm Fahrverbot, und zwar der OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.07.2024 – 2 ORbs 107/24 -, in dem das OLG zu den Anforderungen an die Urteilsgründe Stellung nimmt.

Gegen den Betroffenen ist wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 640 EUR verhängt worden. Von der Anordnung eines Fahrverbots hat das AG abgesehen, weil eine außergewöhnliche Härte vorliege. Der Betroffene und sein Verteidiger hätten in der Hauptverhandlung erklärt, dass der Betroffene die Geschwindigkeit aufgrund eines Augenblickversagens überschritten habe. Er habe mit seiner Familie im Fahrzeug gesessen und das geschwindigkeitsbegrenzende Schild schlicht übersehen. Auch seine Familie habe das Schild nicht wahrgenommen. Darüber hinaus sei er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Kundenberater im Außendienst für die gesamte Region O. auf seinen Pkw angewiesen. Bei seinem Tätigkeitsbereich handelt es sich um eine ländliche Region, die ein Ausweichen auf öffentliche Verkehrsmittel nicht ermögliche. Weder aus dem familiären noch dem beruflichen Umfeld stehe jemand als Fahrer zur Verfügung. Er sei in seiner Filiale der einzige Außendienstmitarbeiter. Seine Ehefrau sei beruflich selbst „stark eingeschränkt“ und fahre außerdem wegen eines tödlichen Verkehrsunfalls des gemeinsamen Sohnes nur in notwendigen Situationen selbst Auto. Darüber hinaus fahre der Betroffene seine minderjährigen Kinder in ländlicher Region täglich zur Schule oder jedenfalls zum nächstgelegenen Bahnhof. Das Fahreignungsregister des Betroffenen weise keine Eintragungen auf, was den Schluss zulasse, dass er „üblicherweise ein ordentlicher und vorschriftsmäßiger Fahrzeugführer“ sei.

Dagegen (natürlich) die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die (ebenso natürlich) beim OLG Erfolg hatte. Dem OLG gefallen die Gründe der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht:

„2. Die Entscheidung des Amtsgerichts, von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Nach den Vorgaben des Verordnungsgebers ist grundsätzlich – soweit wie hier der Tatbestand des § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV erfüllt ist – das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG indiziert, so dass es in diesen Fällen regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf. Das Tatgericht ist in diesen Fällen – auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung – gehalten, die Maßnahme anzuordnen und darf hiervon nur in besonderen Ausnahmefällen absehen, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen so erheblich von dem normierten Regelfall abweicht, dass er als Ausnahme zu werten ist und auf ihn das Regelbeispiel gemäß dem Bußgeldkatalog nicht mehr zutrifft, oder wenn die Maßnahme für den Betroffenen eine außergewöhnliche Härte darstellt; dem tatgerichtlichen Beurteilungsspielraum sind insoweit enge Grenzen gesetzt sind; das Absehen vom Fahrverbot muss auf einer eingehenden und nachvollziehbaren, auf Tatsachen gestützten Begründung beruhen (vgl. KG, Beschl. v. 15. Dezember 2020 – 3 Ws [B] 289 – 290/20 m.w.N.).

Diesen Begründungsanforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Dass das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, dass der Verkehrsverstoß nicht auf einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers, sondern lediglich auf einer augenblicklichen, auf lediglich einfache Fahrlässigkeit zurückzuführenden Unaufmerksamkeit beruhte, lässt sich den Urteilsgründen nicht in hinreichendem Maße entnehmen. Diese verweisen lediglich auf die nicht näher gewürdigte Einlassung des Betroffenen, er habe „das geschwindigkeitsbegrenzende Schild schlicht übersehen“.

b) Auch im Übrigen beschränken sich die Urteilsausführungen weitgehend auf eine nicht näher gewürdigte Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen zu vorliegenden Härtegründen. Von einem Fahrverbot darf insoweit nur abgesehen werden, wenn unter Anlegung strenger Maßstäbe das Fahrverbot eine Härte ganz ungewöhnlicher Art darstellt. Dass der Betroffene im Straßenverkehr noch nicht auffällig geworden ist, genügt hierfür nicht.

Eine „besondere Härte“ in diesem Sinne liegt entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht schon dann vor, wenn der Betroffene bei seiner beruflichen Tätigkeit und im privaten Bereich „in einem exorbitanten Maß auf seine Fahrerlaubnis angewiesen“ ist. Berufliche Nachteile, auch schwerwiegender Art, sind mit einem Fahrverbot nicht nur in Ausnahmefällen, sondern häufig verbunden. Der Umstand, beruflich besonders auf die Fahrerlaubnis angewiesen zu sein, muss für den Betroffenen ein besonderer Grund sein, sich verantwortungsbewusst zu verhalten (vgl. OLG Bamberg DAR 2010, 332). Nur wenn das Fahrverbot zu einer Härte ganz außergewöhnlicher Art, beispielsweise zum Verlust des Arbeitsplatzes oder dem Existenzverlust eines Selbstständigen, führen würde, kann von der Verhängung des Fahrverbotes unter gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße abgesehen werden (std. Rspr. der Senate des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, vgl. Senat, Beschluss vom 19. November 2008 – 2 Ss (OWi) 194 B/08 – m.w.N.). Es ist einem Betroffenen auch grundsätzlich zuzumuten, durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen die Zeit des Fahrverbots zu überbrücken, wie z.B. durch Inanspruchnahme von – gegebenenfalls unbezahlten – Urlaub, die Anstellung eines bezahlten Fahrers oder die Hinzuziehung von Fahrdiensten. Die hierdurch auftretenden finanziellen Belastungen hat der Betroffene hinzunehmen, notfalls durch Aufnahme eines Kredits, zumal sich im Hinblick auf die verhältnismäßig kurze Dauer des Fahrverbots eventuelle finanzielle Einbußen ohnehin regelmäßig in einem überschaubaren und grundsätzlich zumutbaren Rahmen bewegen (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 29. Januar 2009 – 2 Ss OWiG 39/09, zit. nach Juris).

Insoweit fehlt es abgesehen von der nicht hinreichend gewürdigten Einlassung des Betroffenen an ausreichenden Feststellungen, die eine derartige besondere Härte für ihn, seine Familienangehörigen oder seinen Arbeitgeber begründen könnten. Die Urteilsgründe verhalten sich weder zu den finanziellen Verhältnissen des Betroffenen und den Möglichkeiten, die Zeit des Fahrverbotes jedenfalls teilweise durch Urlaub zu überbrücken, noch zur Berufstätigkeit der Ehefrau und dem genauen Schulweg der Kinder.

3. Da zwischen der Festsetzung der Geldbuße und dem Absehen von der Anordnung eines Fahrverbotes ein innerer Zusammenhang besteht, unterliegt das angefochtene Urteil, dessen Gegenstand wegen der Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid allein die Rechtsfolgenentscheidung ist, insgesamt der Aufhebung.

Das Amtsgericht wird bei der erneut zu treffenden Entscheidung u.a. einen – dann kompensationslosen, eine Erhöhung der Geldbuße regelmäßig nicht rechtfertigenden – Wegfall des Fahrverbotes im Hinblick auf einen lediglich einfach fahrlässigen Pflichtenverstoß näher zu prüfen haben. Insoweit gilt, dass für die Anordnung eines Fahrverbots gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers auch bei einer die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV erfüllenden Geschwindigkeitsüberschreitung dann kein Raum ist, wenn diese darauf beruht, dass der Betroffene infolge lediglich einfacher Fahrlässigkeit das die Geschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen übersehen hat, und keine weiteren Anhaltspunkte vorliegen, aufgrund derer sich die Geschwindigkeitsbeschränkung aufdrängen musste (vgl. BGHSt 43, 241ff.).

Einem Kraftfahrzeugführer kann das für ein Fahrverbot erforderliche grob pflichtwidrige Verhalten nicht vorgeworfen werden, wenn der Grund für die von ihm begangene erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung darin liegt, dass er das die Höchstgeschwindigkeit begrenzende Zeichen nicht wahrgenommen hat, es sei denn, gerade diese Fehlleistung beruhe ihrerseits auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit; für die Bewertung seines Verschuldens ist es, solange er die ohne das Vorschriftszeichen geltende Höchstgeschwindigkeit einhält, unerheblich, ob er die durch das Vorschriftszeichen angeordnete Geschwindigkeit weniger oder mehr überschreitet. Das Maß der Pflichtverletzung hängt nur davon ab, wie sehr ihm das Übersehen des Schildes zum Vorwurf gereicht; das erhebliche Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung, auf das die Regelbeispielsfälle abstellen, lässt insofern keinen Schluss darauf zu, dass der Fahrzeugführer das Vorschriftszeichen wahrgenommen oder grob pflichtwidrig nicht wahrgenommen hat (BGH, aaO.).

Mit Rücksicht darauf bedarf es zunächst einer näheren tatgerichtlichen Würdigung, ob die Einlassung des Betroffenen, er habe die – nach den Feststellungen beidseits der Fahrbahn auf 100 km/h angeordnete – Geschwindigkeitsbeschränkung nicht wahrgenommen, als glaubhaft zu bewerten ist. Gegebenenfalls ist sodann zu prüfen, ob diese Fehlleistung aufgrund der konkreten Umstände wie der Anordnung der Beschilderung und der Tatsituation (vgl. hierzu BGH, aaO.) die Annahme einer lediglich augenblicklichen Unaufmerksamkeit gebietet, die für sich genommen noch nicht als grob fahrlässig zu bewerten ist, sondern jedem sorgfältigen und pflichtbewussten Verkehrsteilnehmer einmal unterlaufen kann.“

Strafe III: Verfahrensverzögerung in der Revision, oder: LG bummelt, GBA arbeitet schnell

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur Verfahrensverzögerung und zur Berücksichtigung bei der Strafzumessung – oder auch nicht. Dazu der BGH im BGH, Beschl. v. 13.08.2024 – 5 StR 388/24:

„Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen besonders schwerer Vergewaltigung und wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision führt lediglich zur Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung des Revisionsverfahrens und erweist sich im Übrigen als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Es ist im Revisionsverfahren zu einer Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG) gekommen. Dem liegt Folgendes zugrunde: Gegen das nach sieben Hauptverhandlungstagen in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil vom 1. August 2023 hat der Beschwerdeführer mit am 2. August 2023 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers Revision eingelegt, den Antrag auf Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an eine andere Strafkammer gestellt und dies mit der Rüge einer Verletzung materiellen Rechts begründet. Nach Urteilszustellung am 17. Oktober 2023 und zweimaliger Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft Berlin ist dieser die Revisionsbegründung erst am 25. Juni 2024 nach § 347 Abs. 1 Satz 1 StPO zugestellt worden. Eine Förderung des Revisionsverfahrens fand in der Zwischenzeit nicht statt. Der Beschwerdeführer befand sich – mit zweitägiger Unterbrechung wegen Erzwingungshaft – aufgrund des Haftbefehls der Kammer vom 1. August 2023 während der gesamten Dauer des Revisionsverfahrens in Untersuchungshaft.

Damit ist das Revisionsverfahren nach Ablauf der einmonatigen Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht hinreichend gefördert worden, obwohl es sich um eine Haftsache handelte. Der Senat hat diese Verzögerung auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen, weil sie nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2023 – 5 StR 349/23 mwN). Rechtfertigende Gründe für die eingetretene Verzögerung sind aus den Akten nicht ersichtlich. Soweit über die Voraussetzungen einer möglichen Haftverschonung verhandelt wurde, hätte dies gegebenenfalls anhand zu fertigender Doppelakten geschehen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 2008 – 3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208).

Zur Kompensation genügt hier deren Anerkennung durch eine entsprechende Feststellung, weil das Ausmaß der Verzögerung durch die ausgesprochen zügige Bearbeitung der Revisionssache beim Generalbundesanwalt deutlich gemildert worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2023 – 5 StR 349/23 mwN) und der Verteidiger des Angeklagten selbst um eine zweiwöchige Verfristung gebeten hatte, um die Frage einer möglichen Revisionsrücknahme zu klären.“

Strafe II: Belastendes Fehlen eines Milderungsgrundes, oder: So nicht

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und die zweite Entscheidung, der BGH, Beschl. v. 01.08.2024 – 4 StR 2/24 -, betrifft einen Klassiker im Rahmen der Strafzumessung, also einen Punkt, der immer wieder falsch gemacht wird, und zwar:

Das LG hat die Angeklagten jeweils wegen „gemeinschaftlicher“ gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Dagegen die Revision, die hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg hatte:

„2. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.

a) Das Landgericht hat neben anderen Zumessungskriterien zu Lasten des Angeklagten B.   gewertet, dass er für den bewusstlos am Boden liegenden Nebenkläger keine Hilfe gerufen, sondern sich aus der Straßenbahn entfernt habe.

Diese Erwägung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn sie lässt besorgen, dass die Kammer – rechtsfehlerhaft – das Fehlen eines möglichen Strafmilderungsgrundes zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 – 4 StR 45/20 Rn. 4). Das Herbeiholen ärztlicher Hilfe für das Opfer ist regelmäßig strafmildernd zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 23. November 1994 – 3 StR 311/94 Rn. 2). Umgekehrt darf aber nicht ohne weiteres strafschärfend berücksichtigt werden, dass eine solche Bemühung unterblieben ist (vgl. BGH bei Holtz MDR 1979, 806; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 46 Rn. 40). Die Formulierung der Kammer lässt sich auch nicht, anders als der Generalbundesanwalt meint, als bloße Bekräftigung für die strafschärfende Berücksichtigung der konkret eingetretenen Lebensgefahr begreifen.

Der Senat vermag nicht sicher auszuschließen, dass das Landgericht ohne diese fehlerhafte Erwägung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte, und hebt daher den Strafausspruch auf. Da der Rechtsfehler nur die rechtliche Bewertung der festgestellten Strafzumessungstatsachen betrifft, können die getroffenen Feststellungen zu den Strafaussprüchen bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

b) Die Aufhebung im Strafausspruch war auf den Mitangeklagten C.   zu erstrecken (§ 357 StPO). Der Mitangeklagte C.   ist wegen derselben Tat wie der verbliebene Revident verurteilt worden (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2024 – 2 StR 30/22 Rn. 31). Das Landgericht hat im Rahmen der Strafzumessung auch zu seinen Lasten gewertet, dass dieser für den bewusstlos am Boden liegenden Nebenkläger keine Hilfe gerufen, sondern sich aus der Straßenbahn entfernt habe, so dass auch eine Gleichartigkeit der Rechtsverletzung gegeben ist. Die Regelung der Revisionserstreckung gilt auch für einen Angeklagten, der zwar zunächst Revision eingelegt, diese aber zurückgenommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – 1 StR 51/96, NJW 1996, 2663, 2665).“

Strafe I: Umfassendes Verwertungsverbot aus § 51 BZRG, oder: Ausnahmen nur in sehr eng begrenzten Fällen

Bild von Alexandra_Koch auf Pixabay

Und heute dann eine wenig StPO, und zwar drei BGH-Entscheidungen.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 10.04.2024 – 5 StR 96/24 -zum Verwertungsverbot von Vorstrafen. Der Angeklagte ist mit Urteil vom 26.06.2002 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der BGH mit Urteil vom 07.05.2003 (5 StR 556/02) das Urteil im Strafausspruch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Feststellungen hat der BGH aufrechterhalten. Das neue Tatgericht hat den Angeklagten – er war etwa zwanzig Jahre lang unbekannten Aufenthalts und hatte sich dem Strafverfahren entzogen – nunmehr auf der Grundlage des rechtskräftigen Schuldspruchs mit Urt. v. 3.11.2023 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten bliebt ohne Erfolg:

„2. Soweit das Landgericht sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch durch Bezugnahme bei der Strafzumessung im engeren Sinne strafschärfend berücksichtigt hat, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt – wenn auch nicht einschlägig – vorbestraft war und die Warnfunktion der letzten Verurteilung vom 12. Juni 2001 ignorierte, erweist sich dies als rechtsfehlerhaft.

a) Bei Erlass des Urteils vom 26. Juni 2002 enthielt der Bundeszentralregisterauszug des Angeklagten drei Eintragungen. Zuletzt war er vom Amtsgericht Darmstadt am 12. Juni 2001 zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden, wobei die Bewährungszeit bis zum 31. Juli 2003 dauerte. Die Taten (jeweils Handeltreiben mit Heroin) beging er zwischen September und Ende Dezember 2001 (Tat 1) und am 14. Januar 2002 (Tat 2). Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem neuen Tatgericht und dem Erlass des Urteils vom 3. November 2023 enthielt der Bundeszentralregisterauszug nach den Feststellungen keine Eintragungen mehr.

b) Der strafschärfenden Berücksichtigung von Vorstrafen und der Missachtung der Warnfunktion der letzten Verurteilung vom 12. Juni 2001 steht das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG jetzt entgegen, was der Senat auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 1973 – 2 StR 451/72, BGHSt 25, 100, 101 f.; Beschlüsse vom 22. Dezember 2015 – 2 StR 207/15, NStZ-RR 2016, 120; vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 382/15, NStZ 2016, 468; vom 2. Februar 2023 – 4 StR 453/22 mwN).

aa) Die Vorschrift des § 51 Abs. 1 BZRG begründet ein umfassendes Verwertungsverbot (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 – 4 StR 528/20, NStZ-RR 2021, 187, 188 f.; vom 28. August 2012 – 3 StR 309/12, NJW 2012, 3591; betreffend die von einer Vorverurteilung ausgehende Warnfunktion: BGH, Beschluss vom 12. Januar 1990 – 3 StR 407/89). Dies hat die Strafkammer nicht beachtet.

bb) Das Verwertungsverbot durfte nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die im Ausgangsurteil vom 26. Juni 2002 getroffenen Feststellungen mit der Entscheidung des Senats vom 7. Mai 2003 bindend geworden sind. Insoweit gilt:

Hebt das Revisionsgericht ein Urteil auf, haben die Feststellungen aber Bestand, weil diese nicht von dem Rechtsfehler betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO), ist das Tatgericht im weiteren Verfahren an diese Feststellungen gebunden. Es darf sie zwar noch ergänzen; die ergänzenden Feststellungen dürfen den bindend gewordenen jedoch nicht widersprechen. Beweisergebnisse, die im Widerspruch zu bindenden Feststellungen stehen, haben außer Betracht zu bleiben (vgl. zur innerprozessualen Bindungswirkung BGH, Beschlüsse vom 3. November 1998 – 4 StR 523/98, BGHR StPO § 358 Abs. 1 Bindungswirkung 1; vom 23. September 2009 – 5 StR 314/09; Urteile vom 12. Mai 2021 – 5 StR 4/21, NStZ 2021, 628 mwN; vom 14. Januar 1982 – 4 StR 642/81, BGHSt 30, 340 f.; LR/Franke, 26. Aufl., § 353 Rn. 32 f.).

Aufgrund der nach dieser Maßgabe bindenden Feststellungen steht fest, dass der Angeklagte im Tatzeitpunkt – wenn auch nicht einschlägig – vorbestraft war, die Taten während des Laufs der Bewährung beging und die Warnfunktion der letzten Verurteilung vom 12. Juni 2001 ignorierte. Die ergänzende Feststellung, dass im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des neuen Tatgerichts alle Vorstrafen aus dem Bundeszentralregister getilgt waren, steht dazu nicht in Widerspruch. Sie bezieht sich auf einen späteren Zeitpunkt, mithin eine nach Erlass des Ausgangsurteils eingetretene Veränderung.

Trifft das neue Tatgericht zulässig solche ergänzenden, den bisherigen nicht widersprechenden Feststellungen, ist es an die sich hieran anknüpfenden Rechtsfolgen, wie hier das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, gebunden, so dass getilgte Vorstrafen und die von ihnen ausgehende Warnwirkung nicht mehr zum Nachteil des Angeklagten strafschärfend verwertet werden dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 1990 – 3 StR 407/89).

3. Die Strafe kann gleichwohl Bestand haben. Entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts, zu dem sich der Angeklagte nicht verhalten hat, hält der Senat sowohl die dem Strafrahmen des § 29a Abs. 1 BtMG entnommenen Einzelstrafen von einem Jahr und sechs Monaten (Fall 1) und zwei Jahren und sechs Monaten (Fall 2) als auch die hieraus gebildete Gesamtfreiheitsstrafe für angemessen im Sinne von § 354 Abs. 1a StPO.“

KCan I: Neufestsetzung von Strafe und Bewährung, oder: Verwertung von „alten“ ANOM-Daten

Bild von chiplanay auf Pixabay

In die 35 KW. geht es dann mit KCanG-Entscheidungen. Allerdings habe ich heute nicht ganz so viel wie sonst. Das verwundert sicherlich, wenn man die Homepage des BGH im Auge hat und verfolgt, was sich dort zu den Fragen tut. Derzeit gibt es reichlich Entscheidungen des BGH, allerdings letztlich immer zu denselben Fragen, wie vor allem: Milderes Gesetz und Neufestsetzung der Strafe. Die kann man nicht alle vorstellen. Ich stelle hier heute allerdings auch einige Entscheidungen zur Neufestsetzung der Strafe vor.

Im Einzelnen:

Der OLG Schleswig, Beschl. v. 01.08.2024 – 1 Ws 123/24 äußert sich noch einmal zur Zuständigkeit für die Neufestsetzung einer Strafe oder die Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB mit folgendem Leitsatz:

1. Für die Neufestsetzung einer Strafe oder die Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB ist das erkennende Gericht zuständig.
2. Eine Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern folgt nicht aus der Verweisung in Art. 313 Abs. 5 EGStGB, da § 462a StPO auch nach der Einführung des Konsumcannabisgesetzes von dieser Verweisung nicht erfasst wird.

Auch der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 08.08.2024 – 1 Ws 101/24 – nimmt zur Frage der Neufestsetzung der Strafe Stellung, und zwar im Hinblick auf Strafaussetzung zur Bewährung:

Eine nach Art. 316p i.V.m. Art. 313 Abs. 4 Satz 1 EGStGB veranlasste Neufestsetzung der Strafe erfordert bei Festsetzung einer aussetzungsfähigen Strafe auch eine neue Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung.

Und dann habe ich den AG Mannheim, Beschl. v. 06.08.2024 – 2 Ls 302 Js 14819/21 -, auch zur Neufestsetzung mit folgendem Leitsatz:

Mit der Formulierung „zugleich“ in Art. 313 Abs. 3 Satz 1 EGStGB ist (lediglich) Tateinheit, nicht aber Handlungseinheit gemeint.

Und dann noch etwas Verfahrensrechtliches, und zwar mal wieder Verwertbarkeit von Daten, die durch die Überwachung von Messengerdiensten vor dem 01.04.2024 gewonnenen worden sind, nach dem 01.04.2024 – Stichwort: Katalogtat. Dazu äußert sich der OLG Saarbrücken, Beschl. v.  13.08.2024 – 1 Ws 152/24:

    1. Die Verwertbarkeit von Daten, die über den Kryptomessengerdienst ANOM gewonnen wurden, richtet sich nach denselben Grundsätzen (BGHSt 67, 29) wie die Verwertbarkeit von Daten des Anbieters EncroChat.
    2. Die Daten dürfen in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Die Straftat muss auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein.
    3. Für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen ist auf den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen. Liegt demnach aufgrund der zum 1.4.2024 durch das Cannabisgesetz in Kraft getretenen Neuregelungen zum Verwertungszeitpunkt keine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 StPO mehr vor, scheidet die Verwertbarkeit der ANOM-Chatprotokolle aus und dürfen diese zur Begründung eines dringenden Tatverdachts nicht herangezogen werden.