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OWi III: „der Verstoß war doch nur eine Kleinigkeit“, oder: Verdoppelung der Regelgeldbuße

Und zum Abschluss der heutigen Berichterstattung habe ich dann noch ein Entscheidung zur Geldbuße, und zwar das AG Ellwangen, Urt. v. 14.04.2023 – 7 OWi 36 Js 5096/23.

Die Entscheidung betrifft noch einmal eine Geldbuße, und zwar wegen eines „Handyverstoßes“. Das AG hat hier die Regelgeldbuße von 100 EUR u.a. wegen des Nachtatverhaltens des Betroffenen verdoppelt:

„Es ist von einem Bußgeldrahmen auszugehen, der grundsätzlich die Verhängung einer Geldbuße zwischen 5,00 € und 2.000,00 € ermöglicht (§ 17 Abs.1 OWiG, § 24 Abs. 3 Nr. 5 StVG).

Der Bußgeldkatalog sieht bei der vom Betroffenen begangenen (typischerweise) vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit einen Regelsatz von 100,00 € vor (Nr. 246.1 Anh. BKatV).

Dieser Regelsatz war aufgrund der fehlenden Unrechtseinsicht sowie dem aggressiven und respektlosen Nachtatverhaltenen des Betroffenen angemessen zu erhöhen.

Die fehlende Unrechtseinsicht des Betroffenen zeigte sich dadurch, dass der Betroffene seinen Handyverstoß vor Ort als „Kleinigkeit“ abtat und die beiden Polizeibeamten fragte, ob diese nichts Besseres zu tun hätten. Nach dem vom Betroffenen in der Hauptverhandlung gewonnen Eindruck hat sich an dieser Einstellung bislang nichts geändert, da er den Ernst der ihn kontrollierenden Polizeibeamten (Verfolgung mit Blaulicht, Eröffnung des Vorwurfs, förmliche Belehrung, Ordnungswidrigkeitenanzeige, Belanglosigkeit seiner beruflichen Stellung etc.) immer noch nicht nachvollziehen konnte und sich immer noch zu Unrecht wie ein Straftäter behandelt fühlte.

Das Nachtatverhalten des Betroffenen gegenüber den beiden ihn kontrollierenden Polizeibeamten vor Ort, insbesondere die Drohung damit, dass er nicht mehr für die Polizei tätig würde, wenn es zur Anzeige käme, sowie das Schlagen mit der flachen Hand auf die Motorhaube des Streifenwagens, ist in der Tat – wie vom Zeugen POM B. ausgedrückt – als selten respektlos zu beurteilen.

Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass sich der Betroffene nach seiner Persönlichkeit durch eine niedrigere Geldbuße nicht hinreichend beeindrucken lässt.“

StPO I: Zustellung an Betroffenen/Angeklagten, oder: Umfang der Unterrichtungspflicht des Verteidigers

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Und heute dann drei StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zustellung bzw. Vollamcht zu tun, aber es passt weder „Zustellung“ noch „Vollmacht“ als  (Unter)Kategorie, daher dann eben „StPO“. Das passt immer.

Den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 01.02.2023 – 201 ObOWi 49/23 – zum Umfang der Unterrichtungspflicht der Verteidigung bei Zustellungen an Betroffene.

Gegen die Betroffene ist ein Bußgeldbescheid erlassen worden. Gegen diesen der Betroffenen am 20.04.2022 zugestellten Bußgeldbescheid legte der Verteidiger form- und fristgerecht Einspruch ein und legte eine von der Betroffenen erteilte schriftliche Strafprozessvollmacht vom 02.05.2022 vor (!). Das AG verurteilte die Betroffene aufgrund der Hauptverhandlung vom 20.10.2022, an der sowohl die Betroffene als auch ihr Verteidiger teilnahmen. Gegen dieses Urteil legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 27.10.2022, beim AG eingegangen über das besondere Anwaltspost-fach (beA) am selben Tag, Rechtsbeschwerde ein. Die Amtsrichterin ordnete unter dem 11.11.2022 die Zustellung des Urteils an die Betroffene und die formlose Übersendung der Entscheidungsabschrift an den Verteidiger mit Zusatz „Die Zustellung erfolgt an Ihren Mandanten“ an. Die Zustellung an die Betroffene ist am 18.11.2022 erfolgt. Die Begründung der Rechtsbeschwerde, mit welcher der Verteidiger die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist am 21.12.2022 formgerecht beim AG eingegangen.

Es wird jetzt um Wiedereinsetzung gestritten und zur Begründung ausgeführt, dass dem Verteidiger das Urteil des Amtsgerichts erst am 21.12.2022 zugestellt worden sei und ihm – unter Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO auch nicht vorab mitgeteilt worden sei, wann das Urteil des AG an die Betroffene zugestellt wurde. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Die Frist zur Begründung der form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde wurde versäumt. Die Frist begann mit der Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils an die Betroffene am 18.11.2022 (§ 345 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) und endete mit Ablauf des 19.12.2022, nachdem der 18.12.2022 ein Sonntag war.

Die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG richterlich angeordnete Zustellung an die Betroffene erweist sich als wirksam. Nach § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG ist im Fall der Zustellung an den Betroffenen auch der Verteidiger zu benachrichtigen, dessen Vollmacht nicht nachgewiesen ist; erst recht gilt dies demnach für den schriftlich bevollmächtigten Verteidiger.

Zwar gilt der Verteidiger gemäß § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG als ermächtigt, Zustellungen für den Betroffenen in Empfang zu nehmen. Die Vorschrift gestattet demnach Zustellungen an den Verteidiger, begründet jedoch keine Rechtspflicht, entsprechend zu verfahren. Daher sind an den Betroffenen persönlich gerichtete Zustellungen gleichwohl wirksam und setzen die Rechtsmittelfristen in Lauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 145a Rn. 6 m.w.N.). Nichts anderes folgt daraus, dass eine solche Verfahrensweise der Regelung in Nr. 154 Abs. 1 RiStBV widerspricht (vgl. BGH, Beschl. v. 18.09.2018 – 3 StR 92/18 bei juris = NStZ-RR 2019, 24 = BeckRS 2018, 28285 und 12.02.2014 – 4 StR 556/13 bei juris = BeckRS 2014, 5620; KG, Beschl. v. 27.11.2020 – [5] 161 Ss 155/20 [47/20] bei juris = StraFo 2021, 69 = OLGSt StPO § 145a Nr 7 = NJW-Spezial 2021, 58 = BeckRS 2020, 36756), die als bloße Verwaltungsvorschrift den Richter nicht bindet. Selbst ein etwaiger Verstoß gegen die in § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO normierte Ordnungsvorschrift, den Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zu unterrichten, begründet nicht die Unwirksamkeit der Zustellung, sondern kann lediglich im Einzelfall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen (vgl. BGH, Beschl. v. 31.01.2006 – 4 StR 403/05 bei juris = wistra 2006, 188 = BGHR StGB § 44 Verschulden 9 = NStZ-RR 2006, 211 = BeckRS 2006, 1918; KG, a.a.O; KK/Willnow StPO 9. Aufl. § 145a Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 14; i.E. so auch BGH, Beschl. v. 13.09.2022 – 5 StR 279/22 bei juris = BeckRS 2022, 27294).

Maßgeblich für den Fristbeginn war vorliegend insoweit allein die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG von der Tatrichterin angeordnete und von der Geschäftsstelle bewirkte Zustellung an die Betroffene am 18.11.2022. Die von der Tatrichterin angeordnete formlose Bekanntgabe des Urteils an den Verteidiger, die am 21.11.2022 erfolgt ist, war keine Zustellung im Rechtssinne, sodass der Eingang des Urteils bei dem Verteidiger entgegen der in seiner Gegenerklärung vom 31.01.2023 geäußerten Rechtsauffassung für den Fristbeginn ohne Bedeutung war. Die erst am 21.12.2022 eingegangene Rechtsbeschwerdebegründung war daher verfristet.

2. Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde, die voraussetzt, dass die Betroffene ohne Verschulden verhindert war, diese Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG), kommt nicht in Betracht. Der Antrag der Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde ist in mehrfacher Hinsicht bereits unzulässig, §§ 44, 45 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.

a) Das Vorbringen im Schriftsatz der Verteidigung vom 31.01.2023 erfüllt die Voraussetzungen eines zulässigen Wiedereinsetzungsantrags schon deshalb nicht, weil ihm nicht zu entnehmen ist, dass die Betroffene ohne Verschulden gehindert war, die versäumte Frist einzuhalten; der Vortrag legt nämlich nicht dar, dass sie ihren Verteidiger überhaupt mit der Einlegung und Begründung des Rechtsmittels beauftragt hatte. Eine Frist versäumt nur diejenige, der sie einhalten wollte, aber nicht eingehalten hat (BGH, Beschl. v. 12.07.2017 – 1 StR 240/17 bei juris = BeckRS 2017, 119054; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.03.2017 – 3 Ss OWi 330/17 bei juris = BeckRS 2017, 106539; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 44 Rn. 5). Allein aus der Einlegung der Rechtsbeschwerde ergibt sich ein entsprechender Auftrag der Betroffenen nicht, da der Verteidiger seinerseits gemäß § 297 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Befugnis hat, selbstständig Rechtsmittel einzulegen.

b) Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen leidet darüber hinaus an weiteren durchgreifenden Mängeln im Tatsachenvortrag und dessen Glaubhaftmachung im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Antrag ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb dieser Frist muss der Antragsteller auch Angaben über den Wiedereinsetzungsgrund machen. Die erforderlichen Angaben sind, ebenso wie ihre Glaubhaftmachung, Voraussetzung der Zulässigkeit des Antrags (vgl. BGH, Beschl. v. 14.01.2015 – 1 StR 573/14 bei juris = NStZ-RR 2015, 145). Ein Wiedereinsetzungsantrag muss daher unter konkreter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet werden, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Antragstellers entnommen werden kann (vgl. LR/Graalmann-Scherer StPO 27. Aufl. § 45 Rn. 13). Vorzutragen ist stets ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

So wird schon nichts zu der Frage vorgetragen, aus welchen Gründen die Betroffene nach Zustellung des Urteils an sie am 18.11.2022 davon abgesehen hat, sich an ihren Verteidiger zu wenden. Soweit die Betroffene im Rahmen ihres Wiedereinsetzungsantrags geltend macht, dass ihrem Verteidiger entgegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO nicht mitgeteilt worden sei, wann das Urteil an sie selbst zugestellt wurde, vermag dieses Vorbringen eine Wiedereinsetzung nicht zu begründen. Denn die von ihr in den Raum gestellte gesetzliche Verpflichtung besteht nicht. Die Verfahrensvorschrift des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO verlangt im Falle der Zustellung an den Betroffenen, dass der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet wird. Das Gericht nimmt insoweit seine prozessuale Fürsorgepflicht wahr und gewährleistet einen ausreichenden Informationsstand der Verteidigung (vgl. BeckOK/Krawczyk StPO [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 145a Rn. 10). Die Regelung soll sicherstellen, dass der Verteidiger die nötigen Maßnahmen insbesondere zur Fristenkontrolle treffen kann, auch wenn ihn der Betroffene ihn nicht von sich aus benachrichtigt (vgl. MüKo/Kämpfer/Travers 2. Aufl. StPO § 145a Rn. 15). Insoweit ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO, dass der Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zugleich zu unterrichten ist. Die Benachrichtigung soll also gleichzeitig mit der Zustellung zur Post gegeben werden (vgl. LR/Jahn a.a.O. § 145a Rn. 14). Eine darüberhinausgehende Verpflichtung des Gerichts, insbesondere die Unterrichtung des Verteidigers über den Zeitpunkt der Zustellung an den Betroffenen, welcher sich erst nach Eingang des Zustellungsnachweises bei Gericht feststellen lässt, beinhaltet die Vorschrift nicht. Die Pflicht zur Kontrolle der einzuhaltenden Fristen verbleibt bei dem bevollmächtigten Verteidiger (LR/Jahn a.a.O.), der sich erforderlichenfalls durch Rückfrage bei dem Betroffenen über den Zeitpunkt der Zustellung in Kenntnis setzen muss.

Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen ist nach alledem als unzulässig zu verwerfen.“

Gilt natürlich auch bei Zustellungen an den Beschuldigten.

Verkehrsrecht III: Teures Zufahren auf zwei Politessen, oder: Widerstand gegen eine Anhalteanordnung

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Und als dritte Entscheidung dann der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 02.03.2023 – 1 ORbs 35 Ss 57/23. Es handelt sich allerdings nicht um eine „unmittelbare“ verkehrsstrafrechtliche Entscheidung, aber das Geschehen, das dem Beschluss zugrunde liegt, hat seinen Ausgang im Verkehrsrecht. Es geht nämlich um Widerstand (§§ 113, 114 StGB) gegen eine (verkehrsrechtliche) Anhalteanordnung von zwei Politessen.

Das AG hat den Angeklagten wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte gem. § 114 Abs. 1 StGB verurteilt. Die Zeuginnen P. und K., Angehörige des städtischen Gemeindevollzugsdienstes, hatten festgestellt, dass ein Pkw widerrechtlich in einer Brandschutzzone abgestellt war. Daraufhin „tippten“ sie eine Verwarnung, führten eine Halteranfrage durch und ordneten an, dass das Fahrzeug abzuschleppen sei. In der Folge erschien das Ehepaar C. vor Ort. Frau C. öffnete die Fahrzeugtür, nahm auf dem Fahrersitz Platz und wollte wegfahren, was die Zeuginnen P. und K. unterbanden. „Aus dem Nichts“ erschien nun der Angeklagte, zog Frau C. aus dem Fahrzeug und fuhr mit aufheulendem Motor los, obwohl die Zeuginnen ihn lautstark („Stopp, Halt!“) und mit Handzeichen zum Stehenbleiben aufforderten.

Mit ihrer Anordnung wollten die Zeuginnen die Personalien aller Beteiligten erheben, die Verantwortlichkeit für das Abstellen des Pkw in der Brandschutzzone klären und vor Ort mit diesen und dem Abschleppunternehmer die Kostentragung regeln. Der Angeklagte fuhr die Anhalteanordnung wahrnehmend, aber ignorierend, auf die sich in einer Entfernung von ungefähr drei bis vier Meter vor dem Fahrzeug befindliche Zeugin P. zügig zu, um diese „am Vollzug der Maßnahme“ zu hindern. Die Zeugin P. musste zur Seite springen, um nicht von dem sich von der Örtlichkeit entfernenden Fahrzeug erfasst zu werden.

Das OLG hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen:

„2. Der Angeklagte hat somit der Anordnung der Zeuginnen, das Fahrzeug anzuhalten und an der Örtlichkeit zu verbleiben, mit Gewalt Widerstand geleistet.

a) Bei den Zeuginnen handelt es sich um Amtsträgerinnen gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 b) StGB, die nach § 125 BWPolizeiG i.V.m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 a) DVOPolG und § 25 BWLVwVG berechtigt waren, im Wege der Ersatzvornahme das Abschleppen des in einer Brandschutzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs anzuordnen und die unmittelbare Ausführung dieser Maßnahme zu veranlassen.

b) Bei der gegenüber dem Angeklagten getroffenen Verhaltensanordnung durch den Ruf „Stopp, Halt!“ handelt es sich um einen wirksamen, nicht offensichtlich rechtswidrigen mündlichen Verwaltungsakt, dem der Angeklagte Folge zu leisten hatte. Der Einwand der Revision, der Angeklagte habe durch das Wegfahren des Pkw die Störung beseitigt, weshalb es weder angemessen noch erforderlich gewesen sei, diesen hieran zu hindern, verfängt nicht. Der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung im Rahmen von § 113 Abs. 3 StGB ist nach der Rechtsprechung der sog. strafrechtliche Rechtsmäßigkeitsbegriff zu Grunde zu legen (zuletzt BGHSt 60, 258 = NJW 2015, 3109 m.w.N.; bestätigt von BVerfG NVwZ 2007, 1180). Es kommt nur darauf an, dass die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Hoheitsträgers gegeben sind, er also örtlich und sachlich zuständig ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der ihm gegebenenfalls eingeräumtes Ermessen pflichtgemäß ausübt. Die Grenzen der Pflicht zur Duldung einer nach den maßgeblichen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme sind dort erreicht, wo diese mit dem Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) schlechthin unvereinbar sind (BVerfG NJW 1991, 3023; BGHSt 4, 161 [164] = NJW 1953, 1032).

c) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe haben die Zeuginnen P. und K. ihre an den Angeklagten gerichtete Anordnung unter pflichtgemäßer Würdigung der tatsächlichen Eingriffsvoraussetzungen getroffen: Die zur Klärung der Verantwortlichkeiten für den Ordnungsverstoß und für die Pflicht zur Kostentragung für die Ersatzvornahme (Anfahrt des Abschleppdienstes, vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.06.2002 – 1 S 1531/01) notwendigen Ermittlungen waren Bestandteil der im Rahmen des Aufgabenbereichs der Zeuginnen zu treffenden Ordnungsmaßnahmen. Zum einen stand für diese die „Rolle“ des Angeklagten (Fahrer, Halter oder Unbeteiligter) noch nicht fest. Im Übrigen widerspricht es auch nicht pflichtgemäßer Ermessensausübung, vor Ort die Kostentragung für die (sich erledigende) Abschleppmaßnahme zu klären, etwa durch Herbeiführung einer Einigung des Kostenpflichtigen mit dem Abschleppunternehmer, wodurch sich ein Heranziehungsbescheid der Behörde erledigt.

d) Indem der Angeklagte auf die in einer Entfernung von 3-4 Metern vor ihm stehende Zeugin P. zügig zufuhr, so dass diese zur Seite springen musste, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, hat er zur Verhinderung oder Erschwerung der Diensthandlung gegen diese materielle Zwangsmittel angewandt (vgl. BGH Beschluss vom 9.11.2022 – 4 StR 272/22, BeckRS 2022, 35746 m.w.N; Rosenau in LK-StGB, 13. Aufl. Rn. 23 m.w.N.), zugleich – tateinheitlich – mit feindseligem Willen unmittelbar auf deren Körper in einer Weise eingewirkt und sie somit bei ihrer Diensthandlung i. S. v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich angegriffen (BGH Beschluss vom 13.05.2020 – 4 StR 607/19, BeckRS 2020,13163, Beschluss vom 11.06.2020 – 5 StR 157/20, BeckRS 2020, 13939; OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2019 – 4 RVs 9/19BeckRS 2019, 3129; Fischer, StGB. 70. Aufl. § 114 Rn. 5), wobei eine körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters nicht erforderlich ist (BGHSt 65, 36 = BeckRS 2020, 13939; OLG Dresden, Urt. v. 02.09.2022 – 1 OLG 26 Ss 40/22, BeckRS 2022, 34595; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl., § 114 Rdn. 4).“

„Teuer“ insofern, weil die Aktion den Angeklagten sechs Monate auf Bewährung „gekostet“ hat.

Strafe III: Segelanweisung für ein Berufsverbot, oder: Gefahr künftiger erheblicher Rechtsverletzungen?

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Und dann haben wir hier noch den BGH, Beschl. v. 24.01.2023 – 6 StR 476/22. Der BGH hat eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern aufgehoben wegen einer mangelhaften Beweiswürdigung. Er gibt dann für die neue Hauptverhandlung eine „Segelanweisung“:

„Lediglich ergänzend bemerkt der Senat:

1. Sollte das neue Tatgericht für den Fall eines Schuldspruchs wiederum die Anordnung eines Berufsverbots erwägen, wird es – näher als bislang geschehen – in den Blick zu nehmen haben, dass § 70 StGB tatbestandlich die Gefahr künftiger ähnlicher erheblicher Rechtsverletzungen durch den Täter im maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung voraussetzt. In die gebotene Gesamtwürdigung wäre in besonderer Weise einzustellen, dass der Angeklagte bislang unbestraft ist und ihn möglicherweise schon diese erste Verurteilung und eine (drohende) Vollstreckung von weiteren Taten abhalten könnte (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2013 – 4 StR 296/12, StV 2013, 699; Beschluss vom 12. September 1994 – 5 StR 487/94, NStZ 1995, 124). Dies gilt gleichermaßen mit Blick auf die länger zurückliegenden Tatzeiten, das fehlende Bekanntwerden weiterer Straftaten gerade auch im Zusammenhang mit seiner – bis zur Hauptverhandlung ausgeübten – Erziehertätigkeit sowie mit Rücksicht auf eine jedenfalls bislang nicht festgestellte tatursächliche sexuelle Devianz (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2013 – 4 StR 296/12, aaO).“

Strafe II: Verurteilung wegen eines BtM-Deliktes, oder: „der Angeklagte ist ein Nazi-Verblendeter“

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Bei der zweiten vorgestellten Entscheidung handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 07.02.2023 – 6 StR 9/23.

Auch hier hatte das LG den Angeklagten u.a. wegen (bewaffneten) Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. Der BGH bestandet die Strafzumessung:

„1. Während der Schuldspruch sowie die Maßregelanordnungen auf die durch die Sachrüge veranlasste umfassende revisionsgerichtliche Überprüfung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben haben, unterliegt der Strafausspruch durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken.

a) Das Landgericht hat bei seiner Strafzumessung berücksichtigt, dass „es sich bei dem Angeklagten um einen Nazi-Verblendeten handelt“, was deutlich mache, dass dieser „nicht nur im vorliegenden strafrechtlichen Kontext, sondern in komplexer Hinsicht dazu disponiert ist, sich über Normen hinwegzusetzen, die ein zivilisiertes Zusammenleben ermöglichen sollen; dies ist strafzumessungserheblich und hat sich zu seinen Lasten ausgewirkt“. Den Schluss auf diese Einstellung des bislang unbestraften Angeklagten hat es aus zahlreichen Gegenständen gezogen, die im Zuge einer Wohnungsdurchsuchung neben den zum Handel bestimmten Betäubungsmitteln sichergestellt werden konnten. Dabei handelte es sich etwa um „ein Buch mit der Aufschrift ‚Adolf Hitler‘“ und um auf einem Mobiltelefon gespeicherte Bilddateien mit Hakenkreuzsymbolen und weiteren auch antisemitischen Inhalten.

b) Diese straferschwerende Bewertung hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand.

aa) Grundlage der Strafzumessung sind die Bedeutung der Tat für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der in ihr zutage tretenden persönlichen Schuld des Angeklagten (vgl. BGH, Urteile vom 30. September 1952 – 2 StR 675/51, BGHSt 3, 179, 180; vom 24. Juni 1954 – 4 StR 893/53, NJW 1954, 1416; vom 4. August 1965 – 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266; Beschluss vom 20. Juni 2017 ? 4 StR 575/16, NStZ 2017, 577). Zwar kann auch die Gesinnung des Täters bei der Strafbemessung berücksichtigt werden (§ 46 Abs. 2 StGB). Dies gilt aber nur, wenn diese aus der Tat spricht, mit ihr also in einem inneren Zusammenhang steht (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 1979 – 4 StR 606/78, NJW 1979, 1835; LK/Schneider, 13. Aufl., § 46 Rn. 88). Ein außerhalb der Tatausführung liegendes Verhalten und die Lebensführung des Angeklagten müssen – um eine strafschärfende Bewertung zu eröffnen – mit der Straftat zusammenhängen, auf diese Weise Schlüsse auf ihren Unrechtsgehalt zulassen oder Einblick in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewähren (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 1954 – 4 StR 893/53, NJW 1954, 1416; vom 26. Juli 1983 – 1 StR 447/83, StV 1984, 21).

Nichts anderes gilt für die mit den Gesetzen zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12. Juni 2015 (BGBl. I S. 925) und zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30. März 2021 (BGBl. I S. 441) in § 46 Abs. 2 StGB näher benannten rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe und Ziele des Täters. Zwar sollte die Bedeutung dieser Umstände für die gerichtliche Strafzumessung durch ihre gesetzliche Erwähnung stärker hervorgehoben werden und die Aufgabe des Strafrechts widerspiegeln, insbesondere zu Zwecken der positiven Generalprävention, für das Gemeinwesen grundlegende Wertungen zu dokumentieren und zu bekräftigen (vgl. BT-Drucks. 18/3007, S. 7; LK/Schneider, aaO, Rn. 77 ff. mwN; krit. – weil lediglich deklaratorischer Natur – etwa SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 46 Rn. 96; SK-StGB/Horn/Wolters, 9. Aufl., § 46 Rn. 132). Der schon vom Schuldgrundsatz eingeforderte innere Zusammenhang zur Tat ist aber auch hier zwingend (vgl. LK/Schneider, aaO, § 46 Rn. 80; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 46 Rn. 15c; SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 46 Rn. 99).

bb) Die deshalb notwendige tatschulderhöhende Beziehung der Gesinnung des Angeklagten zur Tat hat das Landgericht nicht dargelegt. Eine solche ergibt sich – anders als möglicherweise bei Aggressions- und Gewaltdelikten – auch nicht ohne Weiteres aus dem Tatbild des festgestellten Betäubungsmittel- bzw. Straßenverkehrsdelikts.

cc) Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die Strafkammer – zumindest auch – insoweit auf das Vorleben des Angeklagten (§ 46 Abs. 2 StGB) in rechtsfehlerfreier Weise abgestellt hat.

(1) Zwar ist es zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte weitere nicht abgeurteilte Straftaten begangen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 1981 – 3 StR 83/81, BGHSt 30, 165). Voraussetzung dafür ist aber, dass diese prozessordnungsgemäß festgestellt (vgl. Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung, 3. Aufl., Teil 4 Kapitel 14 Rn. 19; Schäfer/Sander/von Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 653, 666) und dadurch in ihrem wesentlichen Unwertgehalt abzuschätzen sind (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13, Rn. 22; Beschluss vom 7. Januar 2015 – 2 StR 259/14, NStZ 2015, 450).“