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Wiedereinsetzung II: Ausbleiben des Betroffenen, oder: Darf der Betroffene seinem Verteidiger vertrauen?

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Die zweite Entscheidung stammt aus einem OWi-Verfahren. Es ist (fast) ein Klassiker. Es geht nämlich um die Frage, ob ein Mandant auf die Auskunft seines Verteidigers, ein Termin werde nicht stattfinden, vertrauen darf.

Gegen den Betroffenen war ein Bußgeldbescheid ergangen. Der Verteidiger legte dagegen form- und fristgerecht Einspruch ein. Das Amtsgericht bestimmte darauf am Termin zur Hauptverhandlung auf den 06.06.2024, wobei das persönliche Erscheinen der Betroffenen angeordnet wurde.  Am 04.06.2024 beantragte der Verteidiger, den Hauptverhandlungstermin zu verlegen, da er wegen einer Lendenwirbelfraktur, die am 21. beziehungsweise am 24.05.2024 festgestellt worden sei, nicht reisefähig sei. Ab Mitte Juli d. J. könne er wieder Hauptverhandlungstermine wahrnehmen. Das AG forderte vom Verteidiger ein ärztliches Attest an (sic!).

Am 05. Juni 2024 lehnte das AG dann den Verlegungsantrag ab, da eine Arbeits- und/oder Reiseunfähigkeit (des Verteidigers) nicht ärztlich attestiert worden sei. Das AG verwarf in der Hauptverhandlung vom 06.06.2024 den Einspruch, da weder die Betroffene noch der Verteidiger erschienen waren.

Dagegen beantragte der Verteidiger die Zulassung der Rechtsbeschwerde und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag verworfen.Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte beim LG Stuttgart mit dem LG Stuttgart, Beschl. v. 20.9.2024 – 17 Qs 46/24 – Erfolg:

„2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Soweit der Verteidiger den Wiedereinsetzungsantrag mit seiner eigenen Erkrankung be-gründet, kommt es darauf nicht an. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut (§ 74 Abs. 2 OWIG) ist allein maßgeblich, ob der Betroffene – nicht sein Verteidiger – genügend entschuldigt war. Eine Erkrankung des Verteidigers vermag einen solchen Entschuldigungsgrund mithin grundsätzlich nicht darzustellen. Ob das Amtsgericht dem Verlegungsantrag hätte stattgeben müssen beziehungsweise ob die Voraussetzungen für die Verwerfung des Einspruchs unter diesen Umständen vorgelegen haben, ist nicht Gegenstand dieses Rechtsmittels.

b) Der Wiedereinsetzungsantrag war jedoch begründet, weil der Verteidiger schlüssig dargelegt und durch seine anwaltliche Versicherung glaubhaftgemacht hat, dass er der Betroffenen – über ihren Ehemann – mitgeteilt habe, dass „der Termin deshalb [wegen seiner Verhinderung] nicht stattfinden könne“.

Die Auskunft eines Verteidigers an einen Betroffenen, der Termin könne nicht stattfinden, ist – soweit keine besonderen Umstände vorliegen – geeignet, bei dem Betroffenen ein Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Auskunft zu begründen und schließt eine schuldhafte Säumnis im Termin aus (vgl. Senge in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage, § 74 Rn. 33).

Anhaltspunkte, dass seitens der Betroffenen Zweifel an der Richtigkeit der Auskunft ihres Verteidigers angebracht waren (vgl. hierzu KG, Beschluss vom 9. Mai 2012 – 3 Ws 260/12, Beck LSK 2012, 360619), sind dabei nicht ersichtlich. Liegen – aus Laiensicht – keine Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit oder einen Irrtum des Verteidigers vor, darf er den Worten seines Verteidigers vertrauen, ohne dies hinterfragen zu müssen.

Soweit das OLG Brandenburg (Beschluss vom 27. September 2022 – 1 OLG 53 Ss-Owi 378/22) im Falle einer falschen Anweisung durch den Verteidiger, einem Termin fernzubleiben, mangels Entscheidungskompetenz des Verteidigers keine entschuldigende Wirkung zumisst, kommt es hierauf im hiesigen Fall nicht an, da sich der Verteidiger keine solche Entscheidungskompetenz zugesprochen hat, sondern bei lebensnaher Betrachtung für einen Laien den Anschein erweckt hat, der Termin sei oder werde (sicher) durch das Gericht aufgehoben.

Soweit das Amtsgericht darauf abstellt, der Verteidiger habe nicht dargelegt, die Betroffene auf eine bereits erfolgte Terminsaufhebung hingewiesen zu haben, ist solcher Vortrag nicht zwingend notwendig. Tatsächlich impliziert die Aussage des Verteidigers „der Termin könne nicht stattfinden“, dass die Terminsaufhebung durch das Gericht unvermeidlich sei beziehungsweise sicher erfolgen werde.

Im übrigen sind die Anforderungen an ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht zu überspannen, wenn es – wie hier – um einen erstmaligen Zugang zu Gericht geht.“

Wiedereinsetzung I: Rechtsmittelbegründungsfrist, oder: Eigenverantwortliche Prüfpflicht des Anwalts

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In die neue Woche starte ich dann mit zwei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung.

Die erste stammt vom BGH. Es handelt sich bei dem BGH, Beschl. v. 31.07.2024 – XII ZB 573/23 – zwar um eine Entscheidung aus einem Zivilverfahren. Die Ausführungen des BGH zur Prüfpflicht des Rechtsanwalts betreffend den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen können aber auch im Strafverfahren von Bedeutung haben, wenn dem Mandanten, wie z.B. bei der Nebenklage, ausnahmsweise ein Verschulden seines Anwalts zugerechnet wird.

Gestritten wird in dem vom BGH entschiedenen Verfahren (noch) um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Beschwerdebegründungsfrist. Das AG hatte den Antragsgegner in einem Verfahren nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG (sonstige Familiensache) verpflichtet, an die Antragstellerin, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, einen Betrag von 293.000 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten am 25.07.2023 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 24.08.2023 beim AG Beschwerde eingelegt und diese am 02.10.2023 begründet. Das AG hat den mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Schriftsatz am 04.10.2023 auf elektronischem Wege an das OLG weitergeleitet. Durch Beschluss vom selben Tag hat das OLG darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Beschwerde des Antragsgegners als unzulässig zu verwerfen, weil eine Rechtsmittelbegründung nicht innerhalb der Frist des § 117 Abs. 1 Satz 3 FamFG eingegangen sei. Dieser Hinweis ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners am 06.10.2023 zugegangen.

Am 11.10.2023 hat der Antragsgegner beim OLG Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin Frau E. seines Verfahrensbevollmächtigten ausgeführt, diese sei in der Kanzlei für die Fristenverwaltung zuständig. In den mehr als 20 Jahren ihrer Beschäftigung sei ihr bislang kein Fehler im Fristenkalender unterlaufen. Nach der Organisation des Büros werde zunächst eine Vorfrist von einer Woche eingetragen, wobei die Fristen sowohl in einem gesonderten Fristenkalender als auch digital in der Anwaltssoftware notiert würden. Neben der Vorfrist gebe es ferner die sogenannte Notfrist. Der Verfahrensbevollmächtigte kontrolliere regelmäßig die Einhaltung der Fristen. Sämtliche Mitarbeiter seien bei Aufnahme ihrer Tätigkeit über die Regelungen für die Fristenkontrolle und deren Bedeutung belehrt worden. Diese Belehrungen würden auch regelmäßig wiederholt, zuletzt am 04.08.2023. Der Verfahrensbevollmächtigte habe beim Diktat der Beschwerdeschrift explizit erklärt, dass die Frist für die Beschwerdebegründung einen Monat betrage und diese allerspätestens am 25.09.2023 beim OLG, hilfsweise beim Familiengericht, einzugehen habe. Er habe ferner diktiert, dass ihm die Akte zur Vorfrist am 18.9.2023 vorgelegt werden solle, damit ausreichend Zeit für die Rechtsmittelbegründung verbleibe. Tatsächlich habe Frau E. die Vorfrist aber versehentlich für den 18.10.2023 und die Notfrist für den 25.10.2023 eingetragen. Dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners sei dies nicht aufgefallen, da er auf die ordnungsgemäße Einhaltung und Beachtung der Fristen vertraut habe und aufgrund seiner Arbeitsbelastung eine Kontrolle nicht erfolgt sei. Erst durch den Hinweis des OLG vom 04.10.2023 habe er den Fehler bemerkt und nach seiner urlaubsbedingten Abwesenheit vom 03. bis zum 10.10.2023 den Wiedereinsetzungsantrag gestellt.

Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners, die keinen Erfolg hatte.

Der BGH führt dazu umfangreich aus. Ich beschränke mich daher hier auf Leitsatz der Entscheidung, nämlich:

Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen.

Dazu hatte der BGH übrigens schon mal ählich im BGH, Beschl. v. 01.03.2023 – XII ZB 483/21, NJW-RR 2023, 698) – Stellung genommen.

Kostenentscheidung nach Entfallen der Einziehung, oder: Auswirkungen zugunsten des Angeklagten

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Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 27.08.2024 – 5 StR 240/24 – auch vom BGH. Der hat dann auch noch einmal zur Kostenentscheidung beim Entfallen einer Einziehungsanordnung Stellung genommen.

Das LG hatte den Angeklagten wegen Beihilfe zum schweren Raub und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 10.000 EUR angeordnet, wobei er insoweit als Gesamtschuldner haften sollte. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt; mit seiner sofortigen Beschwerde hat er die Kostenentscheidung des Urteils angegriffen, soweit ihm seine notwendigen Auslagen insgesamt auferlegt worden sind.

Der BGH hat das Urteil des LG wegen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben, die weitergehende Revision hat er verworfen. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten hat er die Kostenentscheidung des LG-Urteils dahin ergänzt, dass der Angeklagte seine notwendigen Auslagen hinsichtlich der Einziehung nur insoweit trägt, als diese angeordnet worden ist; im Übrigen trägt diese Auslagen die Staatskasse. Im Umfang der Aufhebung hat der BGH dann die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision und der sofortigen Beschwerde, an das LG zurückverwiesen:

„4. Die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg.

Für die Verteidigung gegen die Einziehung ist dem Verteidiger eine zusätzliche Gebühr nach Nr. 4142 der Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 Unterabschnitt 5 zum RVG (im Folgenden VV-RVG) entstanden, die – in Abweichung vom allgemeinen strafprozessualen Vergütungssystem nach Pauschalsätzen – nach dem (Gegenstands-)Wert der Einziehung berechnet wird (§§ 13, 49 RVG). Dieser betrug entsprechend der Anklageschrift mehr als 217.000 Euro; aus diesem Wert ist die Gebühr zu berechnen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – 3 Ws 66/23). Tatsächlich eingezogen wurde bei dem Angeklagten aber nur ein Betrag in Höhe von 10.000 Euro; insoweit wäre eine geringere Gebühr angefallen (vgl. Anlage 2 RVG zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG; § 49 RVG).

Das – hier weitgehende – Entfallen der von der Staatsanwaltschaft begehrten Einziehungsanordnung muss sich, wenn die Tragung der gesamten Kosten (vgl. § 465 Abs. 1 StPO) durch den Angeklagten unbillig wäre, bei der Kostenentscheidung zugunsten des Angeklagten auswirken (BayObLG, StraFo 2024, 74, 75; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 – 5 StR 229/19; vom 25. Februar 2021 – 1 StR 423/20, NJW 2021, 1829; vom 13. Oktober 2021 – 4 StR 270/21 Rn. 2; vom 1. Februar 2024 – 5 StR 93/23, wistra 2024, 344, 345). Dies hat der Senat nach dem Rechtsgedanken des § 465 Abs. 2 Satz 2 StPO für die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens jedenfalls dann zu beachten, wenn – wie hier – eine zulässige Kostenbeschwerde erhoben ist und die tatgerichtliche Einziehungsanordnung aus Rechtsgründen niedriger als ursprünglich beantragt ausfällt, ohne dass von der Einziehung nach § 421 StPO abgesehen wird (zur Behandlung der Kosten im Revisionsverfahren, insbesondere wenn nach § 421 StPO von der Einziehung abgesehen wird BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2021 – 5 StR 458/20, NStZ-RR 2021, 229, 230; vom 8. Dezember 2021 – 5 StR 296/21, NStZ-RR 2022, 160; vgl. zur Kostenentscheidung bei Absehen von der Einziehung auch KG Berlin, wistra 2024, 130, 131).

Hier wäre es unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu belasten, weil die Entscheidung über die Einziehung in erheblichem Umfang zu seinen Gunsten ausgegangen ist und durch die ursprüngliche Beantragung höhere notwendige Auslagen nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO entstanden sind. Da diese Kosten mit Blick auf ihre zusätzliche Entstehung (vgl. Nr. 4142 VV-RVG) ohne weiteres identifizier- und bezifferbar sind, hat der Senat insoweit eine Entscheidung über die Kostentragungspflicht getroffen und von einer Verteilung nach Bruchteilen (vgl. § 464d StPO) abgesehen. Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung steht dem nicht entgegen, da sich für das Strafverfahren und das vermögensordnende, quasi-kondiktorische Einziehungsverfahren (vgl. Habetha, NJW 2021, 1830, 1831) mit Fest- und Wertgebühren unterschiedliche Gebühren- und Vergütungssysteme gegenüberstehen (vgl. BayObLG, StraFo 2024, 74, 79).“

Die Entscheidung liegt auf der Linie der obergerichtlichen Rechtsprechung in der Frage. Diese hat für den Angeklagten und auch den Verteidiger erhebliche Bedeutung, da er, wenn der Staatskasse ein Teil der notwendigen Auslagen auferlegt wird, diese gegenüber der Staatskasse geltend machen kann, wobei er – als Pflichtverteidiger –  nicht an die Beschränkungen aus § 49 RVG gebunden ist.

Interessant ist die Entscheidung des BGH auch wegen der Ausführungen zum Gebührenanspruch des Verteidigers. Denn mit denen bestätigt der BGH – inzidenter – noch einmal die h.M. in der Rechtsprechung. wonach sich die Höhe der Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG nach den zum Zeitpunkt des Entstehens der Gebühr erkennbaren Anhaltspunkten in der Verfahrensakte richtet.

Kann man übrigens alles nachlesen bei <<Werbemodus an>> Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021 <<Werbemodus aus>>.

SV III: Vergütung für ein anthropologisches Gutachten, oder: Einzelfallabhängige Vergütung des Sachverständigen

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Und als dritte Entscheidung dann noch ein Beschluss zum Sachverständigen, und zwar zu einer Vergütungsfrage. Es geht in dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.08.2024 – 1 Ws 209/23 – um die Vergütung des Sachverständigen fü ein anthropologisches Vergleichsgutachten. Darum haben der Sachverständige und die Landeskasse gestritten. Die Höhe der Vergütung kann ja auch für den – verurteilten – Angeklagten, der die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, relevant werden.

Hier zunächst der Leitsatz der OLG Entscheidung, und zwar:

Anthropologische Vergleichsgutachten sind rechtlich weder einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG genannten Sachgebiete noch einer der in Teil 2 der Anlage 1 genannten Honorargruppen M1 bis M3 zuzuordnen. Die Vergütungsfestsetzung erfolgt anhand der im konkreten Einzelfall erbrachten sachverständigen Leistungen gemäß § 9 Abs. 2 JVEG.

Und zu § 9 Abs. 2 JVEG führt das OLG aus:

„2. Die Vergütungsfestsetzung richtet sich damit – wie von dem Landgericht grundsätzlich zutreffend angenommen – nach § 9 Abs. 2 JVEG. Das dem Landgericht danach eingeräumte Ermessen kann der Senat nur eingeschränkt überprüfen. Seiner Kontrolle unterliegt lediglich, ob die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung vorlagen, ob von dem Ermessen Gebrauch gemacht wurde, ob alle wesentlichen Tatsachen berücksichtigt und die gebotenen Grenzen eingehalten wurden(vgl. BGH, Urteil vom 13. April 1994, XII ZR 168/92).Dem Beschwerdegericht ist es insbesondere verwehrt, sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Tatrichters zu setzen (vgl. Bleutge in: BeckOK KostR, 44. Ed. 1. Januar 2024, JVEG § 4 Rn. 33; Binz in: Binz/Dorndörfer/Zimmermann, GKG, FamFG, JVEG, 5. Auflage, § 4 Rn. 17).

Vorliegend lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen, ob das Landgericht von dem ihm zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht hat. Vielmehr ist das Landgericht erkennbar davon ausgegangen, dass anthropologische Gutachten schematisch einer bestimmten Vergleichsgruppe zuzuordnen und aufgrund der von ihnen umfassten Tätigkeiten stets in Anlehnung an die Honorargruppe 16 der Anlage 1 zu § 9 JVEG zu vergüten seien. So befasst sich das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss nicht im Einzelnen mit den konkret vom Gutachter erbrachten Tätigkeiten und deren Umfang und Schwierigkeit, sondern ordnet anthropologische Gutachten allgemein einer bestehenden Honorargruppe zu. Die Kammer hat somit erkennbar verkannt, dass die Vergütung in dem konkreten Einzelfall nach billigem Ermessen zu erfolgen hat, wobei zwar die Vergleichbarkeit mit einem Sachgebiet als Kriterium heranzuziehen ist, jedoch abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalles zu bewerten ist, welche Vergütung angemessen ist.

Eine einheitliche Vergütung für anthropologische Sachverständigengutachten ist bereits deshalb nicht möglich, da diesen Begutachtungen keine standardisierten Untersuchungsmethoden zugrunde liegen (BGH, Urteil vom 15. Februar 2005, 1 StR 91/04, juris, Rn. 16; Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 5. Juli 2006, Ss 81/05, juris, Rn. 7; Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2007, Ss (OWi) 4/07, juris, Rn. 5; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Mai 2006, 1 Ss 106/06, juris, Rn. 15; Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 6. April 2010, 3 Ss OWi 378/10, juris, Rn. 12) und die von dem Sachverständigen zu erbringenden Leistungen von der jeweiligen Begutachtungsmaterie abhängen. Umfang und Schwierigkeit der anthropologischen Begutachtung können wesentlich voneinander abweichen und hiermit auch das für die Beantwortung der Gutachtenfrage im Einzelfall erforderliche Fachwissen. Es fehlt daher an der notwendigen Vergleichbarkeit der maßgeblichen Parameter, anhand derer diese in jedem Fall einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG bestimmten Sachgebiet oder einer der dort in Teil 2 der Anlage genannten Honorargruppen M1 bis M3 zugeordnet werden könnten. Dies zeigt sich auch bereits daran, dass im Gesetzgebungsverfahren des Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes kein gemeinsamer Markt für anthropologische Sachverständigengutachten gefunden werden konnte, anhand dessen die Ermittlung einer durchschnittlichen Preisgestaltung möglich gewesen wäre (vgl. BT-Drucks. 17/11471, S. 260, 355).

Soweit anthropologische Vergleichsgutachten der Identifikation von Personen dienen sollen, können diese Identitätsgutachten erhebliche Unterschiede zueinander aufweisen und deshalb nicht pauschal derselben Honorargruppe zugeordnet werden. Für die Beurteilung der Identitätswahrscheinlichkeit kommt es maßgeblich auf die Feststellung und den Abgleich individueller Merkmale eines Menschen an. Die Beurteilung dieser individuellen Merkmale unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls machen es erforderlich, dass der Sachverständige Fachkenntnisse aus dem Bereich der Biologie oder Medizin aufweist und zur Geltung bringen kann. Es kann im Einzelfall auch von Bedeutung sein, wie sich individuelle phänotypische Einzelmerkmale im Rahmen einer körperlichen Bewegung oder durch Einsatz äußerer Einwirkungen, wie etwa durch Masken oder maskenähnliche Objekte oder auch durch medizinische Veränderungen im Erscheinungsbild, verändern oder wie diese bewusst verfremdet oder entstellt werden können (OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Februar 2024, 2 Ws 40/23, juris, Rn. 15).

Im Wesentlichen kommt es für den Umfang, die Schwierigkeit und auch das erforderliche Fachwissen darauf an, was für ein Bilddokument vorliegt und ob es sich um ein Einzelbild, eine Bilderreihenfolge oder eine Videodatei handelt sowie auch maßgeblich auf die Qualität der Bilder und welche individuellen Merkmale auf diesen überhaupt mit welcher Sicherheit zu erkennen sind. Dies zeigt sich bereits daran, dass ein anthropologisches Gutachten in Ordnungswidrigkeitenverfahren zumeist lediglich einen Abgleich eines Lichtbildes und der hierauf erkennbaren individuellen Merkmale mit denjenigen einer bestimmten Person erfordert, während beispielsweise in dem vorliegenden Verfahren eine Videoaufnahme mit verschiedenen Einzelbildern auszuwerten und die dort aus verschiedenen Perspektiven erkennbaren individuellen Merkmale der abgebildeten Person mit denjenigen des Beschuldigten zu vergleichen waren.

Letztendlich obliegt es damit dem zur Entscheidung berufenen Gericht, die für die sachverständige Begutachtung angemessene Vergütung anhand der für diese in dem konkreten Einzelfall erforderlichen Tätigkeiten, des Umfang und der Schwierigkeit der Begutachtung unter wertendem Vergleich mit den für die Zuordnung zu einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG bestimmten Sachgebiet oder auch die Eingruppierung in eine der in Teil 2 der genannten Anlage bestimmten Honorargruppe (M1 bis M3) maßgeblichen Anforderungen festzusetzen. So kann es sachgerecht sein, die Leistungen des anthropologischen Sachverständigen in einer einfachen Sache der Honorargruppe M1 und in einem umfangreichen Verfahren der Honorargruppe M3 zuzuordnen (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Februar 2024, 2 Ws 40/23, juris, Rn. 16). Ebenso sind Fälle denkbar, in denen eine Zuordnung zu einem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 JVEG genannten Sachgebieten, und hier voraussichtlich dem Sachgebiet 16 (grafisches Gewerbe), gerechtfertigt sein kann, weil der Sachverständige Leistungen erbracht hat, die sich nicht in reiner Bildbearbeitung erschöpfen, sondern hinsichtlich der Komplexität und des Umfangs eine Vergleichbarkeit mit den u. a. von dem Begriff des grafischen Gewerbes erfassten Leistungen der Bildverarbeitung, des Designs, verschiedener Drucktechniken sowie Reproduktionen zu begründen vermag.

Da das Landgericht diese Einzelfallabhängigkeit der angemessenen Vergütung verkannt hat und sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen lässt, dass es sich dem ihm insoweit zukommenden Ermessen bewusst war, liegt ein einen Verfahrensfehler begründender Ermessensnichtgebrauch vor, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache zwingt.“

SV II: Reststrafaussetzung zur Bewährung durch StVK , oder: Mündliche Anhörung des SV erforderlich?

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Im zweiten Posting etwas zum Sachverständigen im Verfahren betreffend die Strafaussetzung zur Bewährung, und zwar den OLG Celle, Beschl. v. 29.04.2024 – 1 Ws 126/24.

Der Verurteilte wurde am 13.06.2022 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zwei Drittel der Strafe waren am 06.042024 vollstreckt, die Endstrafe ist auf den 07.042025 notiert. Die StVK hat zur Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB ein Sachverständigengutachten eines Diplom-Psychologen eingeholt. Dieser hat – im Gegensatz zur Stellungnahme der JVA – eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten im Ergebnis befürwortet. Zur mündlichen Anhörung des Verurteilten am 03.04.2024 wurde der Sachverständige zunächst geladen, nach Verzicht der Verteidigerin auf seine mündliche Anhörung aber wieder abgeladen. Im Anhörungstermin hat auch der Verurteilte selbst darauf verzichtet, den Sachverständigen mündlich zu hören.

Die StVK hat dann die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

„Die gemäß §§ 454 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat – jedenfalls vorläufig – Erfolg.

1. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer war bereits deswegen aufzuheben, weil sie an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet. Denn die Strafvollstreckungskammer hat zu Unrecht von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen abgesehen.

a) Gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO ist im Falle der Einholung eines Prognosegutachtens vor einer Entscheidung über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung der Sachverständige mündlich anhören. Von der Anhörung darf gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO nur abgesehen werden, wenn sowohl der Verurteilte und sein Verteidiger als auch die Staatsanwaltschaft darauf verzichten.

b) Die Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO lagen nicht vor, weil die Staatsanwaltschaft nicht auf die Sachverständigenanhörung verzichtet hat.

Die Strafvollstreckungskammer hat in ihrer Verfügung vom 6. Februar 2024, mit der die Akten der Staatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme vom Gutachten übersandt wurden, auch nach einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen gefragt. Zu dieser Frage hat sich die Staatsanwaltschaft aber weder in ihrer Rücksendeverfügung vom 13. Februar 2024, mit der sie auf ihre frühere Stellungnahme Bezug nahm, noch später geäußert.

Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 5. Oktober 2023 – 1 Ws 206/23 –, Rn. 9, juris, m. w. N.). Auch dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nicht am Anhörungstermin teilgenommen hat, kann jedenfalls unter den vorliegenden Umständen eine solche eindeutige Erklärung nicht entnommen werden, weil der Staatsanwaltschaft aufgrund der Ladungsverfügung vom 27. Februar 2024 keine Terminsnachricht übersandt und sie auch über die spätere Abladung des Sachverständigen nicht informiert wurde.

c) Darüber hinaus begegnet das Absehen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen im vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Aufklärungspflicht durchgreifenden Bedenken.

Die Pflicht zur bestmöglichen Aufklärung des Sachverhalts kann auch in Fällen, in denen der Sachverständige nicht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören ist, seine mündliche Anhörung erfordern (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.08.2015 – 1 Ws 319/15, beck-online). Denn die Anhörung dient nicht nur der Verwirklichung rechtlichen Gehörs, sondern soll vor allem die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbereiten und ihre materielle Richtigkeit gewährleisten (vgl. OLG Braunschweig, a. a. O.). Die mündliche Erörterung eines solchen Gutachtens in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten gibt diesen Gelegenheit, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren, das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen und zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (OLG Braunschweig a. a. O.).

Angesichts der grundlegenden unterschiedlichen Prognosebeurteilungen der Justizvollzugsanstalt einerseits und des Sachverständigen andererseits wäre eine solche eingehende Erörterung des Gutachtens – unter Mitwirkung der Vollzugsanstalt (§ 454 Abs. 3 Satz 3 StPO) – im vorliegenden Fall geboten gewesen, nachdem die Justizvollzugsanstalt nach Vorlage seines Gutachtens noch eine ausführliche Stellungnahme abgegeben und darin ihre bisherige Beurteilung bekräftigt und vertiefend begründet hat.“