Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Entschädigung II: Das Problem mit der überschießenden U-Haft

© Birgit Reitz-Hofmann – Fotolia.com

Die zweite StrEG-Entscheidung, die ich heute vorstelle, ist der OLG Hamm, Beschl. v. 03.11.2016 – 5 Ws 318/16 (zur ersten hier: Entschädigung I: Rechtsanwalt nicht nötig?, oder: „Schäbiges“ Land NRW). Er behandelt ein Problem, mit dem wir es im Bereich der StrEG häufig(er) zu tun haben: Nämlich die Problematik der sog. überschießenden U-Haft. Was damit gemeint ist, zeigt der Verfahrensverlauf im Beschluss des OLG Hamm. Der Angeklagte hatte sich in der Zeit vom 23.07.2015 bis zum 26.01.2016 in Untersuchungshaft befunden. Vorwurf: Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; Haftgrund Fluchtgefahr. Verurteilt wird der Angeklagte dann (nur) wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu eine Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu je 10,00 € verhängt. Im Übrigen wird er freigesprochen. Wird nun die erlittende U-Haft auf die Geldstrafe angerechnet, dann bleibt noch etwas „übrig“, was ggf. zu entschädigen ist – eben ein „überschießender“ Teil der U-Haft.

Das LG hatte in seiner Entscheidung die Verpflichtung der Staatskasse festgestellt, den Angeklagten für die von ihm erlittene Untersuchungshaft gem. §§ 2, 4 StrEG zu entschädigen. Dagegen dann (natürlich) die sofortige Beschwerde der StA, die vornehmlich eine Gesamtaufhebung der Entschädigungsentscheidung verlangt, zumindest aber hilfsweise festzustellen, dass der Angeklagte nur in dem Umfang zu entschädigen ist, in welchem eine Anrechnung der Untersuchungshaft nach § 51 Abs. 1 StGB nicht erfolgt. Die GStA tritt natürlich bei. Das OLG meint dazu:

„Nach § 2 StrEG ist grundsätzlich aus der Staatskasse zu entschädigen, wer durch den Vollzug der Untersuchungshaft einen Schaden erlitten hat, soweit er freigesprochen wird. Dies gilt auch bei einem teilweisen Freispruch (vgl. Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 59. Aufl., StrEG Anh. 5, § 2 Rdnr. 1).

Dies gilt jedoch nur, soweit nicht die vorrangig zu berücksichtigende Regelung des§ 51 Abs. 1 S. 1 StGB eingreift. Danach wird Untersuchungshaft, die ein Verurteilter aus Anlass einer Tat erlitten hat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, auf die verhängte Freiheits- oder Geldstrafe angerechnet. Die Anrechnung erfolgt von Amts wegen im Vollstreckungsverfahren, ein Ausspruch im Urteil ist nicht notwendig (vgl. Fischer, StGB, 63. Aufl., § 51 Rdnr. 4). Es nicht erforderlich, dass die Strafe allein wegen der Tat oder zumindest auch wegen der Tat verhängt worden ist, derentwegen sich der Verurteilte in Untersuchungshaft befunden hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 28. März 2000 in 4 Ws 62/00). Vielmehr ist es bei erlittener Untersuchungshaft nach dem Grundsatz der Verfahrensidentität ausreichend, wenn die Freiheitsentziehung aus Anlass einer Tat erfolgt ist, die Gegenstand des Verfahrens ist oder war. Das Verfahren muss sich während irgendeiner Phase auch auf eine Tat bezogen haben, die zumindest einer der Anlässe der Freiheitsentziehung war. So genügt insbesondere die gemeinsame Aburteilung, auch bei Freispruch oder Einstellung hinsichtlich der Tat, die zur Untersuchungshaft führte (vgl. Fischer, a.a.O., § 51 Rdnr. 6 m. w. N.; KG Berlin, a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 15. Januar 2008 in 3 Ws 702/07, StV 2008, 365).

Die Voraussetzung der Verfahrensidentität ist vorliegend gegeben. Die Taten, aufgrund derer der Haftbefehl erlassen und der Angeklagte in Untersuchungshaft genommen worden ist, sind Gegenstand des gesamten Strafverfahrens gewesen und von der Strafkammer in ihrer Entscheidung vom 04. Februar 2016 abgeurteilt worden. Dabei ist neben Freisprechung im Übrigen lediglich noch eine Verurteilung des Angeklagten wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte tateinheitlich mit versuchter Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10,00 € erfolgt.

Die vom Angeklagten in der Zeit vom 23. Juli 2015 bis zum 26. Januar 2016 erlittene Untersuchungshaft ist nach der vorrangig zu beachtenden Bestimmung des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB auf die verhängte Geldstrafe von 60 Tagessätzen anzurechnen. Von der Möglichkeit der Anordnung des Unterbleibens der Anrechnung nach § 51 Abs. 1 S. 2 StGB hat die Strafkammer keinen Gebrauch gemacht.

Im Rahmen der nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG vorzunehmenden Gesamtabwägung zwischen den vorläufigen Maßnahmen und der endgültigen Rechtsfolge entspricht es vorliegend der Billigkeit, für die überschießende Strafverfolgungsmaßnahme, also die nach der Anrechnung noch verbleibende vom Angeklagten erlittene Untersuchungshaft, eine Entschädigung zu gewähren. Die verhängte Geldstrafe ist deutlich geringer als die Dauer der Untersuchungshaft des Angeklagten. Sie beträgt mit 60 Tagessätzen lediglich ein knappes Drittel der Untersuchungshaft von 188 Tagen. Schon aufgrund dieses ersichtlichen Missverhältnisses ist es sachgerecht, für die nicht anrechenbaren 2/3 der erlittenen Untersuchungshaft eine Entschädigung zu leisten.

Eine Entschädigung des Angeklagten ist vorliegend weder nach § 5 StrEG ausgeschlossen noch nach § 6 StrEG zu versagen.

Insbesondere hat der Angeklagte die Strafverfolgungsmaßnahme nicht grob fahrlässig i. S. d. § 5 Abs. 2 StrEG verursacht. Selbst wenn sich der Angeklagte wie von der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung ausgeführt, von Anfang an entsprechend den von der Strafkammer letztlich getroffenen Feststellungen geständig eingelassen und sich auch im Übrigen kooperativ verhalten hätte, wäre dennoch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen und Untersuchungshaft angeordnet worden. Angesichts des sich für die ermittelnden Beamten nach den  Aussagen mehrerer Zeugen ergebenden Geschehensablaufs zur Vorfallszeit bestand gegen den Angeklagten der dringende Verdacht, dass er ein schweres Sexualdelikt begangen hatte. Diesen dringenden Tatverdacht hätte der Angeklagte zur damaligen Zeit im Rahmen einer Einlassung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht entkräften können. Entsprechendes gilt für den Haftgrund der Fluchtgefahr. Der Angeklagte ist Asylbewerber. Ein fester Aufenthaltsort konnte nicht festgestellt werden. Er lebte getrennt von Ehefrau und Kind.“

Jetzt dürfte/sollte die Problematik der „überschießenden“ U-Haft an sich klar sein.

Btw: Wenn man liest: „Selbst wenn sich der Angeklagte wie von der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung ausgeführt, von Anfang an entsprechend den von der Strafkammer letztlich getroffenen Feststellungen geständig eingelassen und sich auch im Übrigen kooperativ verhalten hätte,…“ ist man – gelinde gesagt – doch ein wenig verwundert, oder?

U-Haft II: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafenaussetzung – so geht es beim BGH

© eyetronic Fotolia.com

© eyetronic Fotolia.com

Im ersten Posting des heutigen Tages: U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen ging es um den KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16. Dieses Posting betrifft jetzt den BGH, Beschl. v. 02.11.2016 –   StB 35/16, der in einem Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. ergangen ist, geht es auch um die Frage der U-Haft und des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Die Problematik ist ähnlich wie in dem KG, beschl. v. 13.09.2016. Der BGH:

2.a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nach Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sowie fast zehneinhalbmonatigem Untersuchungshaftvollzug fort.

Von der Straferwartung, die sich nach der Verurteilung des Angeklagten auf die verhängte Jugendstrafe konkretisiert hat (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 52), geht weiterhin ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar nimmt der Angeklagte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend an, dass hierfür die sog. Nettostraferwartung maßgebend ist, so dass von dem festgelegten Strafmaß neben der vollzogenen Untersuchungs-haft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe in Abzug zu bringen sein kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 23; MüKoStPO/Böhm/Werner aaO, Rn. 53). Dem Angeklagten ist jedoch nicht darin zu folgen, dass er mit einer Reststrafenaussetzung tatsäch-lich rechnen kann. Das gilt unabhängig davon, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt (zur Frage des gesetzlichen Maßstabs im Fall einer Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft [§ 85 Abs. 6, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG] vgl. die Nachweise bei OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 2015 – III-2 Ws 33/15, juris Rn. 17 f.; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl., § 57 Rn. 9 Fn. 25).

Wie bereits das Kammergericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat, spricht schon das Vollzugsverhalten des Angeklagten gegen eine Reststrafenbewährung. Er hat in mindestens fünf Fällen an ver-schiedenen Tagen in den Monaten April bis Juni 2016 gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstoßen, dabei mehrfach Bedienstete beleidigt und in einem Fall bei Widerstandshandlungen versucht, Bedienstete durch Kopfstöße und Fußtritte zu verletzen.

Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit steht jedenfalls derzeit einer Reststrafenaussetzung entgegen; denn nach den Ausführungen des Kammergerichts war in der Hauptverhandlung nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte von seiner jihadistischen Grundeinstellung wirklich distanziert hätte. Auf diese Beurteilung der Geisteshaltung des Angeklagten kommt es für den Senat als Beschwerdegericht in besonderer Weise an; denn der Senat selbst hat keinen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen. Hinzu kommt, dass die Annahme der Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen voraussetzt. Sie müssen gerade nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen; insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 22 mwN).

Die Umstände, die gegen eine zu erwartende Reststrafenaussetzung sprechen, vergrößern zugleich die Besorgnis, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entzieht, weil sie Zweifel an seiner Zuverlässigkeit begründen. Soweit die Beschwerde auf das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Tag gelegte Wohlverhalten gegenüber dem Gericht verweist, deutet dies nur darauf hin, dass er willens und fähig ist, sein Verhalten nach Zweckmäßig-keitsgesichtspunkten zu steuern, zumal er sich Bediensteten der Justizvoll-zugsanstalt gegenüber auch über Richter abfällig äußerte.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte auch türkischer Staatsangehöriger ist, über Fremdsprachenkenntnisse und Auslandskontakte verfügt, sich von September 2009 bis Dezember 2015 im Ausland aufhielt und trotz des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012 nicht ergriffen werden konnte. Diesbezüglich verweist der Senat auf die Ausführungen im Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 und in dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 4. Oktober 2016.

Den benannten die Fluchtgefahr begründenden Umständen stehen auch mit Blick darauf, dass sich der Angeklagte selbst stellte und mittlerweile wieder über stabile familiäre Bindungen in Deutschland verfügt, hinreichend gewichtige fluchthindernde Umstände nicht entgegen.

Nach alledem kann dahinstehen, inwieweit, wie das Kammergericht meint, weitere gegen den Angeklagten geführte, noch offene Ermittlungsverfah-ren die Fluchtgefahr erhöhen, namentlich dasjenige wegen des Verdachts der Mitgliedschaft im Islamischen Staat (IS). Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Berücksichtigung eines anderen Strafverfahrens einen bestimm-ten Verdachtsgrad für eine Tatbegehung oder -beteiligung voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 1992 – 3 Ws 636/92, MDR 1993, 371; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 19).“

U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen

© Alex White - Fotolia.com

© Alex White – Fotolia.com

Der KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16 – behandelt zwei Fragen, die in der Verteidigungsparaxis in U-Haft-Fällen eine große Rolle spielen. Es handelt sich einmal um die Frage, ob bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets ein beachtlicher Fluchtanreiz besteht – leider immer wieder problematisch, obwohl die Meinung der OLG da ziemlich eindeutig ist. Und das zweite Problem ist die Frage nach der Berücksichtigung einer möglichen Strafrestaussetzung bei der Bestimmung der Straferwartung. Zu beiden Fragen nimmt der KG, Beschluss umfangreich wie folgt Stellung:

„bb) Bei der Bestimmung der – für die Entscheidung maßgeblichen – sog. Nettostraferwartung ist unter Anrechnung der Untersuchungshaft derzeit ein Rest von zwei Jahren und einem Monat offen. Aus diesem folgt für den Beschwerdeführer, der zudem ein offensichtlich hohes Interesse daran hat, sich in der Hauptverhandlung gegen die Tatvorwürfe aktiv zu verteidigen, kein besonderer Fluchtanreiz.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts gibt es keine „Grenze“ von etwa zwei Jahren, bei der allein aus einer solchen Straferwartung „Fluchtgefahr herzuleiten“ und nur noch zu prüfen sei, ob diese durch besondere Tatsachen wieder ausgeräumt werden könne. Der Senat hat in seiner jüngeren Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –; veröffentlicht in StV 2012, 350 mwN) dargelegt, dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbesondere die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz – nur darum kann es gehen, keinesfalls um den Haftgrund selbst – bestehe. Denn andernfalls käme es zu einer unzulässigen Haftgrundvermutung allein wegen einer bestimmten Strafhöhe. Mit der in StV 2012, 350 veröffentlichten Entscheidung hat sich der Senat gegen frühere Rechtsprechung, zu der auch die von der Kammer zitierte Entscheidung des Kammergerichts vom 2. März 2006 – 5 Ws 68/06 – gehörte, gewandt, und er hat die maßgeblichen Rechtsgrundsätze in der Folgezeit präzisiert. Den in der Senatsentscheidung vom 3. November 2011 enthaltenen Rechtsgrundsätzen sind die anderen Senate des Kammergerichts in der Folgezeit beigetreten (vgl. etwa KG, Beschlüsse vom 27. Dezember 2011 – 2 Ws 586/11 –; vom 10. Januar 2014 – 2 Ws 1/14 –, vom 23. Juli 2014 – 3 Ws 341/14 –, vom 21. August 2014 – 1 Ws 61/14 – [juris] und vom 26. Oktober 2015 – 5 Ws 132/15 –). An den in früheren Entscheidungen enthaltenen Rechtsgrundsätzen, die dem vom Landgericht zitierten Grundsatz entsprachen, ist demgemäß nicht festzuhalten (vgl. auch Senat, Beschluss vom 29. August 2016 – 4 Ws 124/16 –). Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob es in Fällen besonders hoher Straferwartung gerechtfertigt ist, an die Tatsachen, die einen deshalb anzunehmenden besonders hohen Fluchtanreiz entkräften können, erhöhte Anforderungen zu stellen. Auch braucht er sich nicht mit der Frage zu befassen, bei welcher Höhe eine solche besonders hohe (Rest-) Straferwartung vorliegt; allerdings kämen angesichts der dargelegten Erwägungen insoweit nur langjährige Strafen bzw. Strafreste, um die es vorliegend indessen nicht geht, in Frage.

cc) Der Hinweis des Landgerichts, dass die Frage einer Reststrafaussetzung „derzeit ungewiss“ sei, weil diese vor allem vom Verhalten des Angeklagten im Vollzug abhängig sei, trifft für sich genommen zwar zu. Diese selbstverständliche Feststellung entbindet das Gericht aber nicht von seiner Verpflichtung, die für die Haftentscheidung notwendige Prognose im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsurteils aufgrund der zur Zeit der Haftentscheidung gegebenen Sachlage anzustellen. Die vom Landgericht gewählte Argumentation führte demgegenüber dazu, dass zur Frage der Nettostraferwartung die erforderliche – auch zu den übrigen Haftvoraussetzungen zu treffende und von den Haftgerichten regelmäßig getroffene – Prognoseentscheidung unterbleibt und somit gleichsam die Vollverbüßung ohne Prüfung zur Grundlage der Haftentscheidung wird.

Soweit die Staatsanwaltschaft Berlin in ihren – vom Landgericht wegen des Haftgrundes in Bezug genommenen – Stellungnahmen vom 12. April und 24. August 2016 ausgeführt hat, dass eine Reststrafaussetzung „nicht selbstverständlich“ bzw. „nicht sicher“ sei, ist dies zwar ebenfalls richtig, verfehlt aber den zutreffenden Prüfungsansatz. Es ist allgemein anerkannt, dass – weil bei der strafprozessualen Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft zu fragen ist, ob ihre Verhängung (als ultima ratio) wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten ist (vgl. Senat StV 2014, 26 = StraFo 2013, 375 mwN) – die für die Untersuchungshaft erforderlichen Tatsachen mit hoher Wahrscheinlichkeit (positiv) festzustellen sind. Auch die Erwartung einer hohen, Fluchtanreiz bietenden Freiheitsstrafe ist eine „bestimmte Tatsache“ im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO, für deren Vorliegen – soll die Haftanordnung darauf gestützt werden – eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss (vgl. Senat StraFo 2015, 108 = ZJJ 2015, 204 = OLGSt StPO § 112 Nr. 19). Da sich die Straferwartung nach dem tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug bestimmt, ist somit zu fragen, ob die Vollverbüßung der dem Beschwerdeführer drohenden, bis zu vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe hoch wahrscheinlich ist. Dies wiederum setzt im Rahmen der Haftentscheidung die Prognose voraus, dass der Angeklagte keine realistische Chance auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB besitzt, diese also im konkreten Fall eher unwahrscheinlich ist.

Die Tatsache, dass die Beurteilungsgrundlage für diese Prüfung bei Entscheidungen über die Untersuchungshaft in der Regel schwach ist, rechtfertigt es nicht, die Prüfung zu unterlassen. Bei dem Beschwerdeführer wäre im Rahmen einer Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB zu bedenken, dass der Umstand, dass er wegen zweier in den Jahren 2007/2006 bzw. 2010 begangener Fahrlässigkeitsdelikte – fahrlässiger Verletzung der Verlustanzeigepflicht und fahrlässiger Insolvenzverschleppung – zu einer (erledigten) Gesamtgeldstrafe verurteilt worden ist, nicht maßgeblich ins Gewicht fallen dürfte. Für ihn wird demgegenüber die Tatsache streiten, dass er beim Antritt einer zu verbüßenden (Rest-) Strafe voraussichtlich mindestens 69 Jahre alt sein und erstmals Strafhaft verbüßen wird und seine letzte Straftat dann mehr als fünf Jahre zurückliegen wird. Ausweislich der vom Senat bei der Justizvollzugsanstalt Moabit angeforderten Stellungnahme des Sozialdienstes vom 7. September 2016 hat sich der Beschwerdeführer im Vollzug der Untersuchungshaft bislang völlig beanstandungsfrei geführt; er musste insbesondere nicht disziplinarisch belangt werden und gilt bei den Mitgefangenen als vermittelnd und ausgeglichen. Auch angesichts dieses Vollzugsverhaltens erscheint, selbst bei Berücksichtigung des Organisationsgrades der Taten und des langen Zeitraumes ihrer Begehung, die Annahme einer hohen Wahrscheinlichkeit, der Angeklagte werde die im Raum stehende Gesamtfreiheitsstrafe voll verbüßen müssen, nicht gerechtfertigt. Bei einer Reststrafaussetzung zum 2/3-Zeitpunkt hätte er einen Strafrest von nur noch neun Monaten zu befürchten, der ihm keinen nennenswerten Fluchtanreiz mehr bietet. Auch bei einer Reststrafaussetzung erst zu einem späteren Zeitpunkt ließe sich unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten, auch bei Beachtung möglicher Rückforderungsansprüche, nicht annehmen, er  werde wegen des ihm noch drohenden tatsächlichen Freiheitsentzuges seinen bisherigen Lebensmittelpunkt dauerhaft aufgeben und sich unter endgültiger Änderung aller wesentlichen Lebensumstände in eine ungewisse Zukunft – etwa in einem fremden Land oder im Untergrund, ggf. ohne die in Deutschland gesicherte medizinische Behandlung seiner gesundheitlichen Probleme – begeben. Bei der hier gegebenen Sachlage braucht sich der Senat nicht mit der weiteren Frage zu befassen, ob für den Angeklagten eine realistische, den Fluchtanreiz vermindernde Aussicht bestünde, den Rest einer rechtskräftig erkannten Strafe im offenen Vollzug verbringen zu können.“

Ich frage mich immer, warum eigentlich das KG oder auch andere OLG die Fragen immer wieder entscheiden müssen? Sind doch ausgekaut.

Sorry Herr Verteidiger, warum tragen Sie das in einer Haftsache vor?

© Alex White - Fotolia.com

© Alex White – Fotolia.com

Manchmal kann ich nur den Kopf schütteln, wenn ich eine Entscheidung lese. So ist es mir beim OLG Koblenz, Beschl. v. 29.07.2016 – 2 Ws 335/16 – ergange, bei dem es sich um eine Entscheidung des OLG im Haftbeschwerdeverfahren handelt. Es ist u.a. um den Beschleunigungsgrundsatz gestritten worden. Das OLG hat die Haftbeschwerde des Angeklagten verworfen, es sieht den Beschleunigungsgrundsatz als nicht verletzt. Und in dem Zusammenhang ist mir eine Passage im OLG-Beschluss sauer augestoßen und hat zu Kopfschütteln geführt. Aber nicht über das OLG – lassen wir mal die Frage der Beschleunigung außen vor – sondern über das Verteidigerverhalten und/oder ein Schreiben, das der Verteidiger im Verfahren an das LG gerichtet hatte und dessen Inhalt ihm jetzt das OLG entgegenhält:

„Dass vom Vorsitzenden der Jugendkammer eine vorausschauende, straffe und effiziente Verhandlungsplanung (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfG NJW 2006, 672) beabsichtigt war, kommt in seinen eingangs ausführlich dargestellten Bemühungen zum Ausdruck, durch eine die terminlichen Belange der Verteidiger nach Möglichkeit berücksichtigende und ausdrücklich am Beschleunigungsgebot orientierte Kommunikation mit den Beteiligten eine zeitnahe und hochfrequente Verhandlungsfolge zu gewährleisten. Die vom Vorsitzenden mit Verfügung vom 26. Januar 2016 vorgeschlagenen 21 Terminstage zwischen dem 23. März und dem 3. Juni 2016 hätten – Verfügbarkeit der Verteidiger vorausgesetzt – zwanglos eine Verhandlungsfrequenz von durchschnittlich mehr als einem Verhandlungstag pro Woche ermöglicht.

Es war jedoch insbesondere der Verteidiger des Beschwerdeführers, der diese Bemühungen unter anderem mit einem Widerspruch gegen die vom Vorsitzenden beabsichtigte Beiordnung von Pflichtverteidigern zur Verfahrenssicherung unterlief und sich hierbei des das Beschleunigungsgebot missachtenden Argumentes bediente, sein Mandant befinde sich erst (Hervorhebung durch den Senat) seit vier Monaten in Untersuchungshaft, was als Anregung an den Vorsitzenden verstanden werden musste, sich mit der Terminierung mehr Zeit zu lassen als von diesem beabsichtigt. Der Vorsitzende ließ sich hierauf nicht ein und verwies darauf, dass das Beschleunigungsgebot die Beiordnung von Sicherungspflichtverteidigern und eine Durchführung von Teilen der Hauptverhandlung in Abwesenheit der originär tätigen Verteidiger gebiete.“

Sorry Herr Kollege, aber wenn ich so formuliere/schreibe, ist das doch eine Steilvorlage an das Gericht. Man fragt sich was das soll, zumal sich m.E. in Zusammenhang mit U-Haft die Formulierung eines Verteidigers mit „erst“ von vornherein verbietet.

Auch im Übrigen: Ein Verteidiger muss nicht kooperativ sein, ich kann aber m.E. nicht die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes rügen, wenn ich – so mein Eindruck in dieser Sache – selbst nichts dazu beitragen kann – oder will -, dass es voran geht.

Als Nichtraucher mit zwei Rauchern in der Haftzelle; dafür gibt es 500 €

entnommen wikimedia.org Urheber ??? ??????

entnommen wikimedia.org
Urheber ??? ??????

Das LG Schwerin, Urt.v. 04.05.2015 – 4 O 165/15 – sorry, leider jetzt erst gefunden – wird auf ein geteiltes Echo treffen. Es geht um Schadensersatz für einen Nichtraucher. D.h.: Die Entscheidung wird Nichtraucher freuen, die Raucher werden nicht so begeistert sein. Um keinen zu verprellen, halte ich dann mal lieber den Mund und stelle die Entscheidung nur vor.

Das Urteil schließt ein Verfahren ab, das schon länger läuft. Der Kläger befand sich vor seiner strafrechtlichen Verurteilung in der Zeit vom 27.02.2010 bis zum 12.04.2011 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Stralsund. Er hatte am Aufnahmetag und auch danach darauf hingewiesen, dass er Nichtraucher ist und aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mit Rauchern in eine Zelle gelegt werden wolle. Gleichwohl wurde er vom 27.02.2010 bis zum 03.03.2010 in einem 3-Personen-Haftraum zusammen mit zwei rauchenden Mitgefangenen untergebracht. Bei den Mitgefangenen handelte es sich um starke Raucher, die auch während der Nacht mehrmals geraucht haben. Trotz Lüftung durch Öffnen des Fensters – soweit möglich – war ein ständiger Rauchgeruch vorhanden und der Kläger war nach der ersten Nacht wegen Beschwerden in ärztlicher Behandlung. Der Kläger hatte dann beim LG Stralsund einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und die Feststellung begehrt, dass die „Zulassung der Zufügung von körperlichen Schmerzen durch gesundheitsgefährdende Stoffe“ rechtswidrig gewesen sei. Die Sache ist dann bis zum BVerfG gegangen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.2012 – 2 BvR 737/11 und Nichtraucherschutz auch in der U-Haft). Letztlich hat dann das LG Stralsund hat mit Beschluss vom 17.12.2013 festgestellt, dass die Unterbringung des Klägers mit zwei rauchenden Gefangenen vom 27.02.2010 bis zum 03.03.2010 rechtswidrig gewesen ist.

Und dafür gibt es jetzt 500,– € Schadensersatz:

Zum Anspruchsgrund:

„- Das Vorliegen einer rechtswidrigen Verletzung von Amtspflichten ergibt sich bereits aus der Entscheidung des Landgerichts Stralsund mit Beschluss vom 17.12.2013 ( Anlage K 2), denn die Feststellung der Rechtswidrigkeit entfaltet für den Amtshaftungsprozess bindende Wirkung (vgl. BGH, Beschluss vom 28.09.2006, AZ: III ZB 89/05; juris).

– Diese Amtspflichtverletzung ist auch als schuldhaft anzusehen, denn die vom beklagten Land vorgetragenen Umstände – die zudem vom Kläger bestritten worden sind – rechtfertigen die von den Bediensteten der Justizvollzugsanstalt getroffene Unterbringungsentscheidung nicht, auch nicht für einen Zeitraum von fünf Tagen. Das beklagte Land hat durch hinreichende Organisationsmaßnahmen, so u.a. durch eine ausreichende Anzahl von Hafträumen und ausreichendes Personal sicherzustellen, dass die – wie vom beklagten Land angeführt – besonderen Haftvorgaben und -bedingungen sowie Haftzwecke sowohl für die Vollzugshäftlinge als auch für die Untersuchungshäftlinge gewährleistet und durchgesetzt werden können, ohne dass damit eine Beeinträchtigung des Schutzes des Häftlings vor einer gesundheitlichen Gefährdung und eine nicht nur unerhebliche Belästigung durch das Rauchen von Mithäftlingen verbunden ist.“

Und zur Anspruchshöhe:

– Der Kläger ist unfreiwillig als Nichtraucher dem Rauch zweier stark rauchender Mithäftlinge auf engstem Raum – sowohl tagsüber als auch nachts – ausgesetzt gewesen, wobei es trotz Lüftung zu einer starken Rauchentwicklung im Haftraum gekommen ist. Der Kläger war damit für fünf Tage durch dieses unfreiwillige „Passivrauchen“ einer nicht ausschließbaren Gesundheitsgefährdung ausgesetzt.

– Es ist beim Kläger auch zum Auftreten von Kopfschmerzen gekommen. Allerdings ist – soweit der Kläger diese mit „stark“ angibt – eine über das mit Kopfschmerzen in der Regel verbundene allgemeine Unwohlsein hinausgehende Intensität sowie die Dauer und Form einer damit ggf. verbundenen starken Lebensbeeinträchtigung mangels Darlegung hinreichend konkreter und objektivierbarer Beschwerdeumstände nicht feststellbar.

– Den hierzu erfolgten Beweisangeboten des Kläger war insoweit auch nicht nachzugehen. Weder für die Beiziehung der Gefangenenakte noch für die Vernehmung der angebotenen Zeugen lagen hinreichende Anknüpfungstatsachen vor. Sie waren vielmehr auf Ausforschung gerichtet und daher unzulässig, zumal es auch nicht Aufgabe des Gerichts ist, sich aus einer Akte die maßgebenden Umstände herauszusuchen. Ebenfalls war auch der Kläger nicht als Partei zu vernehmen, da weder das beklagte Land dieser zugestimmt hat, noch die Voraussetzungen des § 448 ZPO vorlagen.

– Der Kläger befand sich wegen dieser Beschwerden nach der ersten Nacht in ärztlicher Behandlung. Weitere Behandlungen haben erkennbar nicht stattgefunden.

– Das Gericht geht auch nicht davon aus, dass es zu weiteren erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen gekommen ist. Soweit der Kläger das Auftreten von „Atembeschwerden“ behauptet ist mangels hinreichend konkreter Angaben zu den tatsächlichen Beschwerdeumständen (Form, Intensität, Zeit, Dauer) nicht von einer damit verbundenen erheblichen Lebensbeeinträchtigung auszugehen……

– Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringung erst durch ein langwieriges Verfahren über mehrere Instanzen erreichen konnte sowie dass dem Kläger gegenüber – erkennbar – zum damaligen Zeitpunkt für die getroffenen Unterbringungsentscheidung keinerlei Begründung/Erklärungen abgegeben worden sind.

– Einzubeziehen ist auch der Umstand, dass der Entscheidung der Bediensteten der Justizvollzugsanstalt – erkennbar – kein schikanöses Verhalten zugrunde gelegen hat. Das beklagte Land hat ausführlich und nachvollziehbar dargelegt, aufgrund welcher besonderer Umstände es zu dieser Entscheidung gekommen ist. Dies lässt die Rechtswidrigkeit der Entscheidung zwar nicht entfallen, gleichwohl ist dies bei der Bemessung der Höhe einer möglichen Entschädigung zu berücksichtigen.

– Zu berücksichtigen ist zudem, dass es über die fünf Tage hinaus zu keinen weiteren körperlichen Beeinträchtigungen und insbesondere auch zu keinen dauerhaften Gesundheitsschäden gekommen ist.

– Auch handelt es sich bei den fünf Tagen, in denen der Kläger der erheblichen Rauchentwicklung durch die stark rauchenden Mitgefangenen ausgesetzt war, um einen relativ begrenzten Zeitraum.“