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StGB I: Weisungsverstoß in der Führungsaufsicht, oder: Ausreichende Feststellung in den Urteilsgründen?

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Ich stelle heute dann mal wieder StGB-Entscheidungen vor. Alle drei stammen aus der Instanz.

Zunächst berichte ich über den OLG Köln, Beschl. v. 07.01.2025 – 1 ORs 226/24 – zum erforderlichen Umfang der tatsächlichen Feststellungen bei einer Verurteilung wegen Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht. Das OLG hat auf die Sprungrevision des Angeklagten dessen Verurteilung durch das AG aufgehoben:

„2. Das Rechtsmittel hat (vorläufig) Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils samt der Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

Der Schuldspruch gem. § 145a StGB – welcher im Verurteilungsfalle richtig auf „Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in zwei Fällen“ lauten müsste – wird von den getroffenen Feststellungen nicht getragen.

Zum Tatgeschehen hat das Amtsgericht (lediglich) folgendes festgestellt:

„Die Angeklagte steht gemäß Beschluss des Landgerichts Köln vom 30.10.2019 – 121 StVK 281/19 – seit dem 12.12.2019 unter Führungsaufsicht.

Durch Konkretisierungsbeschluss des Landgerichts Köln vom 13.03.2023 ist der Angeschuldigten aufgegeben worden, jeden ersten Montag eines Monats in der Sprechstunde in der Zeit von 14:30 Uhr bis 17:45 Uhr in der Führungsaufsichtsstelle persönlich vorzusprechen. In Kenntnis der Beschlüsse und trotz entsprechender Belehrung über die Konsequenzen etwaigen Verstöße erschien die Angeschuldigte in den Monaten April und Mai 2023 nicht in der Sprechstunde der Führungsaufsichtsstelle.

Wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gem. § 145a S. 1 StGB wird bestraft, wer während der Führungsaufsicht gegen eine bestimmte Weisung der in § 68b Abs. 1 StGB bezeichneten Art verstößt und dadurch den Zweck der Maßregel gefährdet.

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind teilweise lückenhaft und belegen nicht, dass sich die Angeklagte im Sinne von § 145a StGB strafbar gemacht hat.

a) Die Vorschrift des § 145a StGB ist eine Blankettvorschrift, deren Tatbestand erst durch eine genaue Bestimmung der Führungsaufsichtsweisung ausgefüllt wird; erst hierdurch wird die Vereinbarkeit der Norm mit Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet. Voraussetzung ist daher, dass die Weisung rechtfehlerfrei ist (vgl. BGH NStZ 2020, 480). Hierfür muss die Weisung, gegen die die Täterin verstoßen hat, hinreichend bestimmt sein (vgl. nur: Fischer, StGB, 71. Aufl., § 145a Rn 6). Dies ist in den Urteilsgründen darzustellen. In Anbetracht des Gebots aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Umstands, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen zulässt, muss sich zudem aus dem Führungsaufsichtsbeschluss selbst ergeben, dass es sich bei der Weisung, auf deren Verletzung die Verurteilung gestützt werden soll, um eine solche gem. § 68b Abs. 1 StGB handelt, die nach § 145a S. 1 StGB strafbewehrt ist. Dafür ist zwar einerseits eine ausdrückliche Bezugnahme auf § 68b Abs. 1 StGB nicht erforderlich, andererseits wird sie aber ohne weitere Erläuterung regelmäßig nicht ausreichen, um dem Verurteilten die notwendige Klarheit zu verschaffen (zu den vorgenannten Voraussetzungen insgesamt: BGH NStZ 2021, 733).

Dem genügt das Urteil des Amtsgerichts nicht. Die — nach den getroffenen Feststellungen — die Führungsaufsicht begründenden und die Weisungen näher ausformenden Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Köln vom 30. Oktober 2019 und vom 3. März 2023 werden in den Urteilsgründen – anders, als es sich zumindest dringend empfiehlt (BGH NStZ-RR 2023, 369) – nur auszugsweise mitgeteilt. Während sich aus den Feststellungen insoweit zwar noch eine hinreichend bestimmte Weisung als solche erkennen lässt, kann jedoch nicht abschließend geprüft werden, ob in dem sie anordnenden Beschluss unmissverständlich klargestellt ist, dass der Verstoß gegen diese Weisung auch strafbewehrt ist. Soweit die Urteilsgründe die Beschlüsse wiedergeben, kann ihnen dies nicht entnommen werden, da lediglich festgestellt wird, dass die Angeklagte „über die Konsequenzen etwaige] Verstöße“ belehrt worden sei. Wann eine Belehrung wie konkret über welche Konsequenzen erfolgt sein soll, bleibt indes im Ungewissen. Die Feststellungen erfahren insoweit auch keine Ergänzung durch die Beweiswürdigung, in welcher „auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Beschluss des Landgerichts Bonn [gemeint ist wohl: Köln], BI. 3 ff. d.A.“ Bezug genommen wird. Um den Inhalt einer Urkunde zum Gegenstand der Urteilsgründe zu machen, bedarf es der Wiedergabe des Urkundeninhalts; die bloße Wiedergabe der Blattzahlen ist insoweit unbehelflich (MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 264). Ein Verstoß gegen eine strafbewehrte Weisung nach § 68b Abs. 1 StGB kann durch die getroffenen Feststellungen mithin nicht belegt werden.

b) Zudem setzt § 145a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 145a Rn. 22; BeckOK StGB/Heuchemer, 63. Ed., § 145a Rn. 1) voraus, dass durch den Weisungsverstoß eine Gefährdung des Maßregelzwecks eintritt; dies ist dann der Fall, wenn sich die Gefahr weiterer Straftaten erhöht oder die Aussicht ihrer Abwendung verschlechtert hat. Dazu bedarf es eines am Einzelfall orientierten Wahrscheinlichkeitsurteils, das neben dem sonstigen Verhalten der Angeklagten auch die konkrete spezialpräventive Zielsetzung der verletzten Weisung in den Blick nimmt (BGH NStZ-RR 2018, 309; BGH StV 2020, 22; OLG Naumburg StV 2020, 30).

Sowohl zu dem Zweck der Führungsaufsicht als auch zur Gefährdung desselben durch das — alleine festgestellte — zweimalige Fernbleiben der Angeklagten von Gesprächsterminen in der Führungsaufsichtsstelle, verhält sich das Urteil des Amtsgerichts überhaupt nicht, sodass die Feststellungen auch insoweit lückenhaft sind und eine Verurteilung nicht zu tragen vermögen.

c) Schließlich tragen die Feststellungen auch den subjektiven Tatbestand des § 145a S. 1 StGB nicht.

Nach § 15 StGB ist ein vorsätzliches Handeln erforderlich, wobei ein bedingter Vorsatz ausreicht. Die Täterin muss wissen, dass eine bestimmte Weisung gegen sie ergangen ist; dass sie im Augenblick der Tat an die Weisung denkt, ist nicht notwendig. Das Vorsatzerfordernis erstreckt sich auch darauf, dass der Weisungsverstoß den Zweck der Maßregel gefährdet. Die Täterin muss also wissen und zumindest billigend in Kauf nehmen, dass sie durch ihren Weisungsverstoß wieder in die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten geraten könnte. Ein bedingter Vorsatz ist auch dann möglich, wenn die Täterin hofft, jener Versuchung widerstehen zu können. Jedoch können die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen dann fehlen, wenn die Täterin aus einer besonderen, nachvollziehbaren Situation heraus der Weisung keine Folge leistet. Es kommt insbesondere in Betracht, dass der bewusste Weisungsverstoß aus anerkennenswerten Motiven — wenn schon nicht mit einer Rechtfertigung, z.B. bei der Nothilfe — erfolgt und damit einhergeht, dass die Täterin die Gefährdung des Maßregelzwecks nicht billigend in Kauf nimmt (MüKoStGB/Groß/Anstötz, 4. Aufl., § 145a Rn. 18).

Auch hierzu fehlen Feststellungen in dem angegriffenen Urteil. Insbesondere nach der im Urteil wiedergegebenen Einlassung der Angeklagten, nach der sie aufgrund ihrer COPD-Erkrankung häufig Angstzustände habe und nicht vor die Tür gehen könne (S. 2, 7 des Urteils), hätte sich hier eine Auseinandersetzung mit der Frage aufgedrängt, ob vorliegend auch ein nicht strafbarer fahrlässiger Verstoß gegen die erteilte Weisung oder eine vorsätzliche Terminsversäumnis, allerdings ohne Inkaufnahme einer – ebenfalls bislang nicht festgestellten (s.o.) – Maßregelgefährdung in Betracht kommt.“

Zustellung III: Nicht erkannte Unwirksamkeit, oder: Welche Folgen hat das im Rechtsmittelverfahren?

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Als drittes Posting dann noch der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.02.2025 – 2 Ws 19/25 – zu den Folgen einer nicht erkannten Unwirksamkeit der Zustellung für das Rechtsmittelverfahren

Ergangen ist der Beschluss in einem Widerrufsverfahren.  Die Ladung zu der mündlichen Anhörung, zu der der Verurteilte dann nicht erschien ist, war dem Verurteilten im Weg der Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten zugestellt worden. Die Zustellung des Widerrufsbeschlusses erfolgte in der gleichen Weise am 13.09.2024. In einer E-Mail an das AG vom 12.10.2024 teilte der Verurteilte mit, dass sich seine Wohnanschrift bereits am 01.01.2024 geändert habe. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 28.10.2024 legte der Verurteilte sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss ein und beantragte, ihm gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dazu wurde unter Vorlage des Mietvertrags vorgetragen, dass der Verurteilte bereits seit 01.01.2024 in Ludwigshafen wohnhaft sei und er deshalb den Widerrufsbeschluss nicht erhalten habe. Vielmehr habe er von dem Widerruf erst durch die Ladung zu Strafantritt am 22.10.2024 erfahren. Das LG hat den Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt und die sofortige Beschwerde als unzulässig verwrofen. Hiergegen legte der Verurteilte sofortige Beschwerde ein. Mit Erfolg:

„Die sofortige Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg vom 2.8.2024 richtet, gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ihr kann auch ein (vorläufiger) Erfolg in der Sache nicht verwehrt bleiben.

1. Zwar geht der Angriff gegen die Versagung der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fehl, weil gar kein Fall der Säumnis vorliegt (vgl. MK-Valerius, StPO, § 44 Rn. 7 m.w.N.). Denn die am 13.9.2024 (vermeintlich) bewirkte Zustellung des Widerrufsbeschlusses vom 2.8.2024 war unwirksam, weshalb die Rechtsmittelfrist dadurch nicht in Gang gesetzt wurde.

a) Gemäß §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO kann an einen Zustellungsempfänger, der in seiner Wohnung nicht angetroffen wird, die Zustellung durch Einlegung des zuzustellenden Schriftstückes in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten bewirkt werden. Diese ist jedoch nur wirksam, wenn der Zustellungsempfänger unter der Zustellanschrift wohnhaft ist. Eine Wohnung in diesem Sinn sind aber nur Räumlichkeiten, die der Adressat tatsächlich für eine gewisse Dauer in der Weise zum Wohnen nutzt, dass er dort seinen räumlichen Lebensmittelpunkt hat (OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 174). Der Senat hat dazu den vorgelegten Mietvertrag zum Anlass genommen, bei der Vermieterin – einer kommunalen Wohnungsgesellschaft – Nachfrage zu halten, die das Ergebnis erbracht haben, dass dem Verurteilten tatsächlich ab dem 1.1.2024 eine Mietwohnung in Ludwigshafen zum Gebrauch überlassen worden war, für die in der Folge auch Mietzinszahlungen erfolgten. Danach kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Zustellung des Widerrufsbeschlusses am 13.9.2024 noch unter der Zustellanschrift in Dossenheim wohnhaft war.

b) Dass der Verurteilte im Bewährungsbeschluss angewiesen worden war, jeden Wohnungs- und Aufenthaltswechsel unverzüglich mitzuteilen, vermag an der sich hieraus ergebenden Unwirksamkeit der Zustellung nichts zu ändern. Denn der Gesetzgeber hat in §§ 37 Abs. 1 StPO, 179 ZPO nur der Annahmeverweigerung rechtliche Bedeutung zugemessen, dem sonstiges pflichtwidriges Verhalten des Zustellungsempfängers nicht gleichgestellt ist (OLG Koblenz ZfS 2005, 363).

2. Gleichwohl kann derjenige, der wie ein Säumiger behandelt wird, obwohl er gar nicht säumig ist, im Ergebnis nicht schlechter gestellt sein, als ein Säumiger, den an der Säumnis kein Verschulden trifft (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1981, 471; BayObLG NJW 1972, 1097). Nachdem der angefochtenen landgerichtlichen Entscheidung mit der Feststellung der Unwirksamkeit der Zustellung des amtsgerichtlichen Widerrufsbeschlusses der Boden entzogen ist, unterliegt er deshalb der Aufhebung. Da der Senat bezüglich der Widerrufsentscheidung selbst nicht entscheidungsbefugt ist, muss das Landgericht, an das die Sache deshalb zurückzuverweisen ist, darüber erneut auf der geänderten tatsächlichen Grundlage entscheiden. Da sich erst danach beurteilen lässt, ob das Rechtsmittel des Verurteilten endgültig Erfolg hat, ist dabei auch über die Kosten des Rechtsmittel mit zu befinden.“

Zustellung II: HV-Protokoll ohne Datum/Unterschrift, oder: Zustellung vor Fertigstellung des Protokolls

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Im zweiten Beitrag stelle ich dann den den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 07.01.2025 – 3 ORbs 330 SsBs 645/24 – vor. Man erkennt am Aktenzeichen es ist ein Beschluss aus einem Bußgeldverfahren. Die vom OLG entschiedene Problematik kann aber auch im Strafverfahren auftreten. Es geht nämlich um die Wirksamkeit der Urteilszustellung, die ja von der Fertigstellung des Protokolls abhängt. Und da lag hier einiges im Argen.

Das AG hatte am 14. Juni 2024 gegen den – vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen, in der Hauptverhandlung nicht erschienenen und dort auch nicht von einem Verteidiger vertretenen – Betroffenen wegen eines Rotlichtverstoßes eine Geldbuße festgesetzt und ein Fahrverbot verhängt. Gegen das dem Betroffenen am 13.07.2024 und dem Verteidiger des Betroffenen am 12.07.2024 zugestellte Urteil hat dieser mit am 17.07.2024 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Rechtsbeschwerde eingelegt, die er mit Schreiben vom 16.08.2024, eingegangen am selben Tag bei Gericht, begründet hat.

Das AG hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der Entscheidung begründet worden sei. Hiergegen beantragte der Verteidiger mit Faxschreiben vom 16.09.2024 die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts herbeizuführen und führte aus, dass die Rechtsmittelbegründungsfrist am 16.08.2024 noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Das OLG hat den Verwerfungsbeschluss des AG aufgehoben:

„1. Der Verwerfungsbeschluss des Amtsgerichts Konstanz vom 10.09.2024 war aufzuheben. Mangels wirksamer Urteilszustellung wurde vorliegend weder die Rechtsbeschwerdeeinlegungs- noch die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist in Lauf gesetzt, so dass diese auch noch nicht abgelaufen sind.

Gemäß § 79 Abs. 4 OWiG beginnt die Frist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde mit der Zustellung des Urteils, wenn es – wie hier – in Abwesenheit des Betroffenen verkündet und dieser dabei auch nicht nach § 73 Abs. 3 OWiG durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten worden ist. Die Zustellung des Urteils darf jedoch nach § 71 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 273 Abs. 4 StPO nicht erfolgen, bevor nicht das Sitzungsprotokoll fertig gestellt ist. Die Zustellung vor der Fertigstellung ist unwirksam und setzt die von der Urteilszustellung abhängigen Fristen nicht in Lauf (vgl. BGHSt 27, 80; Meyer-Goßner, StPO, 67. Aufl., § 273 Rn. 34; LR-Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 273 Rn. 65; KK-Hadamitzky, OWiG, 5. Aufl., § 79 Rn. 55), mithin auch nicht die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde, da diese an die Urteilszustellung anknüpft.

Vorliegend ist das Hauptverhandlungsprotokoll noch nicht fertig gestellt.

Dabei kann dahinstehen, ob die Urteilsformel an sich noch als hinreichend protokolliert anzusehen ist, da in dem Protokoll des Amtsgerichts über die Hauptverhandlung vom 14. Juni 2024 insofern lediglich ein nicht als Anlage gekennzeichnetes Loseblatt mit der Urteilsformel in das vierseitige und ausschließlich auf der ersten Seite überhaupt ausgefüllte Protokollvordruckformular eingefügt ist; insofern heißt es zwar ausweislich des Vordrucks auf Seite 4, dass „folgendes Urteil“ verkündet worden sei, sodann erfolgten jedoch keinerlei tatsächliche (nicht vorgedruckte) Ausfüllungen oder zumindest Bezugnahmen.

Dabei ist zwar in der von dem Senat geteilten obergerichtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur anerkannt, dass das Protokoll grundsätzlich mit dem Vollzug der erforderlichen Unterschriften der Urkundspersonen, dem Vorsitzenden und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (§ 271 Abs. 1 StPO), oder – wie vorliegend bei Absehen der Hinzuziehung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gemäß § 226 Abs. 2 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG – mit der Unterschrift des Richters bzw. der Richterin fertig gestellt ist, und zwar unabhängig davon, ob es unrichtig oder lückenhaft ist oder sonstige formelle Mängel aufweist (vgl. BGH, NStZ 1984, 89; LR-Stuckenberg, a. a. O., § 273 Rn. 65; KK-Greger, StPO, 9. Aufl., § 271 Rn. 8; Meyer-Goßner, a. a. O., § 271 Rn. 19).

Allerdings fehlt es vorliegend neben dem Datum auch insbesondere an der Unterschrift der Richterin, mithin ist das Protokoll überhaupt nicht unterzeichnet worden. Allein die Unterschrift auf dem nicht als Anlage gekennzeichneten Beiblatt, welches lediglich den Tenor enthält, ist nicht ausreichend um einen Fertigstellungswillen hinsichtlich des gesamten Protokolls anzunehmen.

Mit dieser Protokollierung hat das Amtsgericht Konstanz gegen die – gemäß § 71 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren geltende (vgl. Göhler-Bauer, OWiG, 19. Aufl., § 71 Rn. 55) – Vorschrift des § 273 Abs. 1 S. 1 StPO verstoßen, wonach das Protokoll die für den gesamten Protokollinhalt notwendige Unterschrift enthalten muss. Der Verstoß gegen die Protokollierungspflicht hat hier zur Folge, dass die Sitzungsniederschrift als noch nicht fertig gestellt anzusehen ist und das Urteil daher noch nicht hätte zugestellt werden dürfen.

2. War danach die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde mangels wirksamer Urteilszustellung und damit, weil an den Ablauf der Einlegungsfrist anknüpfend, auch die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerdeanträge und deren Begründung (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i. V. m. § 345 Abs. 1 StPO) noch nicht in Lauf gesetzt, ist der Senat derzeit nicht befugt, über die Rechtsbeschwerde zu entscheiden, weil der Beschwerdeführer sein Rechtsmittel noch weiter, auch mit (weiteren) Verfahrensrügen begründen könnte. Bei dieser Sachlage waren die Akten an das Amtsgericht zur Fertigstellung des Protokolls über die Hauptverhandlung, zur erneuten Zustellung einer Urteilsausfertigung sowie zur anschließenden erneuten Vorlage nach §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 347 StPO zurückgegeben (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 347 Rn. 5 m. w. N.).“

Wenn es für den Verteidiger noch etwas „nachzubessern“ gibt, das ist noch möglich.

Beweise I: Isolierte Wiedergabe der Zeugenaussagen, oder: Welche Angaben welches Zeugen für welche Tat?

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In die neue Woche geht es dann mit zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 07.11.2024 – 1 Ss 33/24. Das LG hat den Angeklagten wegen wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Beleidigung  verurteilt. Dagegen die Revision, die mit der Sachrüge Erfolg hatte. Das OLG beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

„a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO), dem allein es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen, so dass das Revisionsgericht die Würdigung der wesentlichen beweiserheblichen Umstände grundsätzlich hinnehmen muss (vgl. nur BGH NStZ 1991, 548 m.w.N.; NStZ-RR 2006, 82, 83; Senatsbeschlüsse vom 17. Februar 2022 – Ss 62/21 (1 Ss 1/22) –, 9. November 2022 – Ss 54/22 (37/22) und 4. November 2024 1 Ss 31/24 –). Das Revisionsgericht hat jedoch zu prüfen, ob dem Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht insbesondere dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, widersprüchlich oder unklar ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 20. April 2021 – 1 StR 286/20 -, juris und vom 26. Januar 2021 – 1 StR 376/20 -, juris; Beschluss vom 14. April 2021 – 4 StR 91/21 -, juris, jeweils m.w.N.; Senatsbeschlüsse vom 4. März 2016 – Ss 11/2016 (10/16) -, vom 18. Mai 2016 – Ss 30/2016 (23/16) -, vom 29. November 2022 – Ss 54/22 (37/22) – und vom 4. November 2024 – 1 Ss 31/24 -).

b) Auch in Ansehung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs hält die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten wegen Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen (Tat Ziff. III.1. der Urteilsgründe) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand, da den Urteilsgründen nicht zu entnehmen ist, worauf die Feststellung beruht, der Angeklagte habe sowohl dem Zeugen K.G. als auch den Zeugen M.G. und A.G. durch ein Herumfuchteln mit einem erhoben in der Hand getragenen Schirm in Aussicht gestellt, dass er sie damit schlagen werde (UA S. 4). Das Gericht beschränkt sich auf die isolierte Wiedergabe der Aussagen der vernommenen Zeugen, ohne darzulegen, welche Tatbestandsmerkmale des objektiven und subjektiven Tatbestands es jeweils aufgrund welcher Angaben welches Zeugen für verwirklicht hält. Wie es zur Annahme einer Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen gelangt, die voraussetzen würde, dass sämtliche Drohungsadressaten die Drohung wahrgenommen und deren Sinn verstanden haben (vgl. Eisele in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl., § 241 Rn. 15; Sinn in: MüKo-StGB, 4. Aufl., § 241 Rn. 21), bleibt offen, nachdem keiner der unmittelbaren Tatzeugen Entsprechendes in der Hauptverhandlung bekundet hat. Insbesondere konnten sich weder der Zeuge M.G. (UA S. 13) noch der Zeuge A.G. (UA S. 13 f.) an eine solche Bedrohung erinnern. Der Zeuge K.G. (UA S. 14) hat außer von einem Einsatz des Schirms gegen die Polizei nur von einer Bedrohung zu seinem eigenen Nachteil berichtet. Allein die Angaben der als Vernehmungsbeamtin vernommenen und beim eigentlichen Tatgeschehen nicht anwesenden Zeugin Z. (UA S. 17 f.) belegen die Annahme einer Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen bereits deshalb nicht, weil die Aussagen der Zeugen M.G.K, K.G. und A.G. ihr gegenüber uneinheitlich waren, der Angeklagte nämlich nach Angaben des Zeugen M.G. mit dem Schirm bedrohlich auf alle drei Brüder losgegangen sein soll, während die beiden anderen Zeugen jeweils Bezeichnung seiner Person als „Scheißausländer“ nicht zu bestätigen (UA S. 16). Vielmehr hat er bekundet, der Angeklagten habe ihn als „Scheißkanake“ oder „Dreckskanake“, „vielleicht“ aber auch als „Scheißausländer“ oder „Drecksausländer“ beschimpft oder „alles davon“ gesagt. Es habe inzwischen so viele Vorfälle mit rassistischen Beleidigungen seitens des Angeklagten gegeben, dass es ihm schwerfalle, einzelne Wortlaute einzelnen Daten zuzuordnen.

c) Die rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten wegen Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen führt hinsichtlich der Tat Ziff. III.1. der Urteilsgründe zur Aufhebung des Schuldspruchs insgesamt, da die – für sich genommen im Schuldspruch rechtsfehlerfreie – tateinheitliche Verurteilung wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen aufgrund der vorliegenden Tateinheit isoliert keinen Bestand haben kann (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2005 – 2 StR 468/04 –, juris; Senatsbeschluss vom 4. November 2024 – 1 Ss 31/24 –; Franke in: Löwe- Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 8). Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht auch die der für die Tat verhängten Einzelstrafe sowie des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.

d) Der Aufhebung unterliegt auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Beleidigung zum Nachteil des Zeugen M G (Ziff. III.2. der Urteilsgründe). Auch insoweit leidet das angefochtene Urteil an einem durchgreifenden Rechtsfehler. Die allein festgestellte Beleidigung des Zeugen als „Scheißausländer“ (UA S. 5) wird durch die Beweiswürdigung nicht belegt. Von der Möglichkeit einer alternativen Tatsachenfeststellung hat das Tatgericht keinen Gebrauch gemacht, und dem Revisionsgericht ist ein Eingriff in die Tatsachenfeststellungen ebenso verwehrt wie eine eigene Beweiswürdigung.

(2) Dass jede der weiteren von dem Zeugen erwogenen Bezeichnungen seiner Person den Tatbestand des § 185 StGB erfüllen würde, ist unerheblich, da das Tatgericht von der Möglichkeit einer alternativen Tatsachenfeststellung (vgl. hierzu Sander in: Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 261 Rn. 225; Wenske in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 267 Rn. 121 f.) keinen Gebrauch gemacht, sondern allein die – nicht belegte – Bezeichnung des Zeugen als „Scheißausländer“ festgestellt und diese der Verurteilung des Angeklagten zu Grunde gelegt hat.“

OWi III: Zweifel an einer genügenden Entschuldigung, oder: Zweifel rechtfertigen kein Verwerfungsurteil

Smiley

Und dann noch am OWi-Tag den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 15.01.2025 – 1 ORbs 210 SsBs 740/24. Der äußert sich – auch schon wieder Abwesenheit – zur Zulässigkeit eines Verwerfungsurteils.

Das AG hatte den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das Urteil wurde damit begründet, dass der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sei und auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. In einem von dem Betroffenen vorgelegten Attest von Dr. pp. vom 04.09.2024 sei lediglich festgehalten, dass der Betroffene aufgrund einer akuten Infektionserkrankung bis einschließlich 10.09.2024 nicht transport- und verhandlungsfähig sei. Es sei weder aufgeführt, um welche Erkrankung es sich handle, noch welche Symptomatik sich aktuell zeige und welche daraus resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bestünden, die eine Teilnahme an der Hauptverhandlung unmöglich machen oder unzumutbar erscheinen ließen, Eine fernmündliche Rücksprache des Gerichts mit dem ausstellenden Arzt Dr. pp. habe zu keiner Konkretisierung geführt Der Arzt habe lediglich ausgeführt, es handle sich um eine akute Infektionskrankheit mit der man nicht arbeiten gehen könne. Vor diesem Hintergrund sei das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass der Betroffene nicht ausreichend entschuldigt sei. Eine Infektionskrankheit – auch wenn sie möglicherweise zu einer Arbeitsunfähigkeit führe – führe perse nicht zu einer Verhandlungsunfähigkeit. Dass es sich um eine schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Erkrankung handle, halte das Gericht bereits vor dem Hintergrund, dass das Attest eine Verhandlungsunfähig-kelt von weniger als einer Woche konstatiere, für nicht wahrscheinlich.

Dagegen die erfolgreiche Rechtsbeschwerde des Betroffenen:

„Die Verfahrensrüge greift auch durch. Für die Frage, ob der Betroffene für sein Ausbleiben genügend entschuldigt ist, kommen die zu § 74 Abs. 2 OWiG entwickelten Grundsätze zur Anwendung. Danach ist der Betroffene nicht erst dann entschuldigt, wenn er verhandlungsunfähig ist, sondern schon, wenn ihm wegen einer Erkrankung die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zugemutet werden kann. In aller Regel wird dabei die Vorlage eines zeitnahen ärztlichen Attestes ausreichen. Erscheint dem Gericht das Attest nicht aussagekräftig genug oder hat es Zweifel an der Richtigkeit der bescheinigten Erkrankung, so hat es sich im Freibeweisverfahren, gegebenenfalls durch telefonische Nachfrage beim behandelnden Arzt, die erforderliche Aufklärung zu verschaffen. Denn es kommt im Ergebnis darauf an, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, nicht, ob er sich In ausreichendem Maße entschuldigt hat (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 07.09.1994 – 3 Ss 44/94, NJW 1995, 2571). Bestehen Zweifel, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist und können diese auch im Freibeweisverfahren nicht geklärt werden, darf ein Verwerfungsurteil nicht ergehen (KG Beschluss vom 12.10.2017 – 3 Ws (B) 257/17, BeckRS 2017, 140690).

Diese Grundsätze hat das Amtsgericht nicht hinreichend beachtet Aus dem Urteil ergibt sich, dass sich das Attest auf die Diagnose einer ‚Akuten Infektionserkrankung‘, aufgrund welcher der Betroffene nicht transport – und verhandlungsfähig sei, beschränkte. Zu Recht führten diese unpräzisen Angaben dazu, dass bei dem zuständigen Richter Zweifel an einer genügenden Entschuldigung des Betroffenen aufkamen und er daher fernmündlich mit dem ausstellenden Arzt Rücksprache hielt Den Urteilsgründen ist jedoch auch zu entnehmen, dass diese Rücksprache zu keiner weiteren Konkretisierung führte. Bei dieser Sachlage, bei der die bestehenden Zweifel durch die Rücksprache mit dem Arzt offensichtlich nicht ausgeräumt werden konnten, sondern nach der Rücksprache derselbe Kenntnisstand wie zuvor, der eine weitere Aufklärung erforderlich machte,-bestand, durfte ein Verwerfungsurteil nach den oben ausgeführten Maßstäben nicht ergehen. Nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen verbleibende Zweifel dürfen nicht zu Lasten des Betroffenen gehen (vgl. BeckOK OWiG/Hettenbach, 44. Ed. 01.10.2024, OWiG § 74 Rn. 33 m.w.N.).“