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Versicherungsfall Vandalismus und Kaskoversicherung, oder: Verteilung der Beweislast

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Heute dann mal wieder Verkehrszivilrecht, und zwar Versicherungsrecht. Ich stelle zwei Entscheidungen zum Vandalismusschaden in der Kaskoversicherung vor.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 08.08.2024 – 11 U 64/23 -, dem folgenden Sachverhalt zugrunde liegt: Der Kläger verlangt eine Entschädigungsleistung aus der Kaskoversicherung wegen der Beschädigung seines Fahrzeuges in Form eines „Vandalismusschadens“. Unbekannte Täter sollen das abgestellte und ordnungsgemäß verschlossene Fahrzeug von außen rundherum mit entsprechenden Kratzspuren böswillig beschädigt haben. Der Versicherer hatte dagegen den Einwand erhoben, dass diese Kratzspuren, die sich nur auf einzelnen Fahrzeugteilen wiederfinden und an der Oberfläche verbleiben, als Grundlage für eine gewinnbringende fiktive Abrechnung vom Kläger selber herbeigeführt worden wären. Nach einer durchgeführten Beweisaufnahme hat sich herausgestellt, dass die im hinteren Bereich des Fahrzeuges vorhandene Kratzspur im Bereich des hinteren Stoßfängers nur entstanden sein kann, wenn die Heckklappe des Fahrzeuges auch geöffnet gewesen ist.

Vor diesem Hintergrund haben das LG wie auch das OLG die Leistungsklage des Klägers abgewiesen:

„Zur Herstellung der Entscheidungsreife hat der Senat den Sachverhalt, wie bereits im Beweisbeschluss vom 1. November 2023 begründet, weiter aufklären müssen, weil das Landgericht von einer unzutreffenden Verteilung der Beweislast ausgegangen ist. Nach der vom Senat durchgeführten Erweiterung der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger oder sein Sohn oder eine von einem von beiden beauftragte dritte Person den erheblichen Lackschaden an dem Audi A 8 herbeiführte, um sich die streitgegenständliche Versicherungsleistung rechtswidrig zu erschleichen. Wegen dieses betrügerischen Verhaltens besteht nach Maßgabe sowohl der Regelung A.2.3.3 der zwischen den Parteien vereinbarten Versicherungsbedingungen (AKB) als auch nach § 81 VVG kein Anspruch auf die Klageforderung.

1. Soweit es um eine Anspruchsentstehung gemäß A.2.3.3 der AKB der Beklagten geht, also wegen einer mut- oder böswilligen Beschädigung des Fahrzeugs durch „Personen, die nicht berechtigt [waren], das Fahrzeug zu gebrauchen“, muss allerdings keineswegs allein der Versicherungsnehmer alle Anspruchsvoraussetzungen beweisen.

a) Vielmehr ist nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu unterscheiden: Die (bös- oder) mutwillige Zerstörung oder Beschädigung des versicherten Kraftfahrzeugs als Anspruchsvoraussetzung hat grundsätzlich der Versicherungsnehmer zu beweisen. Allerdings wird es dieses Beweises zumeist nicht bedürfen, weil das versicherte Objekt zur Feststellung, ob der Versicherungsfall eingetreten ist, besichtigt werden kann (BGH, Urteil vom 25. Juni 1997 – IV ZR 245/96, juris Rn. 7; vgl. auch Prölss/Martin/Klimke, WG, 31. Aufl., AKB 2015 A.2.2.2.3, Rn. 38 m.w.N.). Demgegenüber hat der Versicherer – und zwar ohne jede Beweiserleichterung – den Beweis zu führen, dass die Schäden nicht auf ein Verhalten Dritter zurückzuführen sind und dass die erhebliche Wahrscheinlichkeit der Vortäuschung von Vandalismus durch betriebsfremde Personen gegeben ist (BGH, a.a.O. Rn. 8).

b) Dem Senat ist bewusst, dass es mehrere obergerichtliche Urteile sowie auch aktuelle Kommentierungen gibt, die jedenfalls im praktischen Ergebnis – wie auch das hier angefochtene Urteil – bedeuten, dass den Versicherungsfall des Vandalismus der Versicherungsnehmer zu beweisen habe. Dieses Ergebnis beruht darauf, dass die betreffenden Gerichte die Böswilligkeit oder Mutwilligkeit der Schadensentstehung immer dann ausschließen, wenn es erhebliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Versicherungsnehmer oder sein Repräsentant die Schäden selbst verursacht hat. Dieser Rückschluss („selbst verursachter Schaden schließt Mutwilligkeit aus“) findet sich etwa in den (auch von der Beklagten in ihrer Klageerwiderung zitierten) Urteilen des Oberlandesgerichts Köln vom 13. Dezember 2011 (9 U 83/11, juris Rn. 14) und vom 13. August 2013 (9 U 96/13, juris Rn. 5), überdies – besonders deutlich („[..1 der Kläger daher allein mit dem äußeren Schadensbild den von ihm zu führenden Vollbeweis für eine mut- oder böswillige Beschädigung durch unberechtigte Personen nicht erbracht hat […]“) – in dem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 8. August 2017 (7 U 24/17, juris Rn. 28) und auch ausdrücklich etwa in der Kommentierung bei Stiefel/Maier/Stadler (Kraftfahrtversicherung, 19. Aufl., AKB 2015 A.2.2.2.3. Rn. 386).

Damit wird der grundlegende Inhalt des im Vorstehenden zitierten höchstrichterlichen Urteils jedoch geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Das Tatbestandsmerkmal „Schadensverursachung durch eine betriebsfremde Person“, das nach Maßgabe jenes höchstrichterlichen Urteils der Versicherer im Wege des Vollbeweises zu widerlegen hat, wird gleichsam zum Untermerkmal des Tatbestandsmerkmals „bös- oder mutwillig“ umgedeutet und dem Versicherungsnehmer wird – entgegen dem zitierten höchst-richterlichen Urteil – der Beweis dafür abverlangt, dass der Schadenverursacher betriebsfremd war. Der Bundesgerichtshof hat dem Tatbestandsmerkmal der Bös- oder Mutwilligkeit in der zitierten Entscheidung indes gerade keine besondere eigene Be-deutung beigemessen, sondern eher knapp ausgeführt, dass der Fall der mutwilligen Zerstörung (schon) nach dem unstreitigen Sachverhalt feststehe, der dadurch gekennzeichnet war (a.a.O. Rn. 3, 10), dass das Fahrzeug „in der Nähe eines Baggerlochs“ mit „massiven Beulen und Schlagspuren“, die „offensichtlich auf Hammerschlägen beruhten“, aufgefunden wurde; Sitze und Kopfstützen waren zerschnitten. Der Innenraum des Fahrzeugs war mit dem gleichen Sprühlack verschmiert, mit dem ein beleidigender Schriftzug aufgebracht war. Das äußere Bild einer letztlich objektiv sinnlosen vorsätzlichen Beschädigung oder Zerstörung – landläufig „Vandalismus“ genannt -genügte mithin; eines vom Versicherungsnehmer zu erbringenden weiteren Beweises bedurfte es nicht, wiewohl sich auch im dortigen Fall nicht von vornherein sicher aus-schließen ließ, dass der Versicherungsnehmer oder die zwischenzeitlichen Käufer des Fahrzeugs den Schaden verursacht hatten. Den Beweis, dass diese Zerstörung nicht durch „betriebsfremde“ Personen verursacht worden war, erlegte der Bundesgerichtshof dem Versicherer auf (in diesem Sinne auch instruktiv OLG Naumburg, Urteil vom 21. November 2013 – 4 U 237/13, juris 13; OLG Saarbrücken, Urteil vom 11. Dezember 2020 – 5 U 820, juris Rn. 22; Stiefel/Meyer/Stadler, a.a.O Rn. 387).

2. Übertragen auf den vorliegenden Fall folgt daraus, dass zunächst auf der Grundlage des unstreitigen Schadensbildes das Vorliegen eines bös- und mutwilligen Handelns festgestellt werden kann, weil das Schadensbild nur durch eine jedenfalls objektiv sinnlose und vorsätzliche Beschädigung erklärt werden kann (vgl. auch erneut OLG Naumburg, a.a.O. Rn. 11), die insbesondere auch nicht im Zusammenhang mit einem etwaigen Aufbruchsversuch stand (vgl. zu dieser Abgrenzung gegenüber Mutwilligkeit Bruck/Möller/Koch, VVG, 9. Aufl., A.2 Kaskoversicherung, Rn. 333; OLG Frankfurt, Urteil vom 8. Januar 1988 – 1 U 208/86, VersR 1988, 1122). Die Beklagte muss indes den Beweis erbringen, dass die Schäden an dem versicherten Fahrzeug von dem Kläger, seinem Sohn oder einer von ihm beauftragten dritten Person verursacht wurden, mithin nicht von einem Unbekannten, der im Sinne von A.2.3.3 AKB nicht zum Gebrauch des versicherten Fahrzeugs berechtigt war.

3. Im Übrigen kommt neben der vom Landgericht in Betracht gezogenen Anspruchsgrundlage eine weitere in Betracht. Die nach Maßgabe des äußeren Bildes der Beschädigungen anzunehmende Einwirkung mit einem oder mehreren Gegen-ständen auf das versicherte Fahrzeug stellten auch einen Unfall im Sinne von A.2.3.2. Abs. 1 AKB dar, nämlich ein von außen her auf das Fahrzeug plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis (vgl. BGH, a.a.O. Rn. 10). Auch gegen unfallbedingte Zerstörungen und Beschädigungen war das in Rede stehende Fahrzeug versichert. Jedenfalls für dieses versicherte Risiko bestimmt das Gesetz selbst, nämlich § 81 VVG, ausdrücklich, dass den Versicherer die Beweislast für die Richtigkeit seiner Behauptung trifft, dass der Versicherungsnehmer den Schadensfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt habe. Auch in diesem rechtlichen Rahmen muss daher die Beklagte ihre Behauptung beweisen, dass der Sohn des Klägers der Urheber der Schäden gewesen sei.

Es entstünde ein Wertungswiderspruch, wenn die Beweislast bei der Prüfung der Vor-aussetzungen gemäß A.2.3.3 AKB („Vandalismusschäden“) anders als vom Senat beurteilt würde.

4. Das Ergebnis der vom Senat aufgrund dieser rechtlichen Beurteilung erweiterten Beweisaufnahme ist allerdings eindeutig. Der – als solcher unstreitige – Vandalismusschaden kann nur durch eine Person verursacht worden sein, die berechtigten Zugriff auf das Fahrzeug hatte. Die Beklagte hat folglich den ihr obliegenden Beweis erbracht. Denn bei der Erzeugung der um das ganze Fahrzeug umlaufend angebrachten Kratzspur muss die Heckklappe des Fahrzeugs offen gestanden haben. Ein – wenn auch kleiner – Abschnitt der Kratzspur befindet sich nämlich auf der Oberseite des Heckstoßfängers in einem Bereich, der sich mit jedwedem zur Erzeugung der Kratzspur geeigneten Werkzeug nur erreichen lässt, wenn die Hackklappe geöffnet ist.

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Auslagen für Ausdruck des digitalen Datenträgers I?, oder: Die Dokumentenpauschale gibt es nicht

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Und dann auf in den RVG-Tag, heute mit zwei Entscheidungen zu Auslagen.

Zunächst kommt hier der OLG Nürnberg, Beschl. v. 25.09.2024 – Ws 649/24 – zur Frage, ob bei dem Ausdruck eines digitalen Datenträgers die Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG anfällt. Das OLG sagt: Nein und begründet das wie folgt:

„3. Die Beschwerde richtet sich nur dagegen, dass dem Erinnerungsführer eine Dokumentenpauschale aus § 46 RVG i.V.m. Nr. 7000 Ziffer 1 lit. a VV RVG in Höhe von 1.298,70 € für 6.774 Seiten selbst gefertigter Kopien zugesprochen wurden. Die Beschwerde hat in der Sache auch Erfolg. Der Pflichtverteidiger hat keinen Anspruch auf Festsetzung der für das Ausdrucken der vollständigen Akte im Umfang von 6.774 Seiten von den ihm dauerhaft überlassenen Datenträgern entstandenen Gebühren und Auslagen in Höhe von 1.298,70 €, da der Ausdruck zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache nicht geboten war.

a) Der Ausdruck einer in digitalisierter Form (hier auf mehreren CD-Rom) gespeicherten Gerichtsakte fällt unter den Gebührentatbestand der Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG (Ahlmann, in Riedel/Sußbauer RVG 10. Aufl. VV 7000 Rn. 5). Danach entsteht eine Dokumentenpauschale für Kopien und Ausdrucke aus Gerichtsakten, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war.

Die Frage, ob die Ausdrucke (entsprechendes gilt für die Kopien aus einer Gerichtsakte) zur sachgerechten Bearbeitung erforderlich waren, beurteilt sich im Einzelfall nach dem objektiven Standpunkt eines vernünftigen sachkundigen Dritten (Hartmann, Kostengesetze 44. Aufl. RVG 7000 VV Rdn. 6; Ahlmann, in Riedel/Sußbauer RVG 10. Aufl. VV 7000 Rn. 8). Dies ist aus der Sicht zu beurteilen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Prozessbevollmächtigter (oder Verteidiger) haben kann, wenn er sich mit der betreffenden Gerichtsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können (vgl. BGH NJW 2005, 2317 f.). Es ist also ein objektivierter Maßstab zu Grunde zu legen; auf die subjektive Sicht des Rechtsanwalts kommt es nicht an (Ahlmann a.a.O. VV 7000 Rn. 8). Gleichwohl steht auch dem gerichtlich bestellten bzw. beigeordneten Rechtsanwalt ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. OLG Celle, NJW 2012, 1671; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 29.03.2012 – 2 Ws 49/12, JurionRS 2012, 14204; OLG Köln, NStZ-RR 2012, 392). Allerdings muss der Anwalt das ihm eingeräumte Ermessen auch ausüben (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.11.2009 – 2 Ws 526/09, JurionRS 2009, 36455; OLG Köln, NStZ-RR 2012, 392).

b) Der Senat folgt nunmehr der Auffassung (vgl. OLG Frankfurt a.?M., Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 1/18, OLG Rostock, Beschluss vom 04.08.2024, 20 Ws 193/14), dass bei Überlassung von auf digitalen Datenträgern gespeicherten Akten deren Ausdruck ohne Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich nicht mit der Dokumentenpauschale vergütet werden kann (unter Aufgabe der im Beschluss vom 30.05.2017, 2 Ws 98/17, BeckRS 2017, 120492 vertretenen gegenteiligen Meinung).

aa) Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung besteht für eine sachgemäße Bearbeitung einer Rechtssache grundsätzlich kein Erfordernis, eine in elektronischer Form vorhandene Akte auszudrucken.

In Zivil- und Familiensachen ist im Freistaat Bayern und vielen anderen Bundesländern die elektronische Gerichtsakte bereits seit längerem eingeführt. In Strafsachen können die Akten gemäß § 32 Abs. 1 S. 1 StPO elektronisch geführt werden; ab 01.01.2026 ist dies verpflichtend. Bei einigen Staatsanwaltschaften und Gerichten im Freistaat Bayern laufen Pilotprojekte und die Regeleinführung der elektronischen Gerichtsakte bei den Bayerischen Gerichten hat begonnen. Hieraus ergibt sich, dass der Umgang mit elektronischen Akten mittlerweile Alltag im gerichtlichen und anwaltlichen Berufsleben geworden ist, so dass es für eine sachgemäße Bearbeitung einer Rechtssache durch einen Rechtsanwalt grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist, eine in elektronischer Form vorhandene Akte auszudrucken. Dass die elektronische Aktenführung für Rechtsanwälte nicht verpflichtend ist, ändert daran nichts.

Ob die Akten, wie im vorliegenden Fall, auf einem elektronischen Speichermedium (etwa CD-ROM) zum dauernden Verbleib oder durch die Möglich zum Download und lokaler Speicherung auf einem Speichermedium des Rechtsanwalts zur Verfügung gestellt werden und ihm damit jederzeit und an jedem Ort ein vollständiger Zugriff auf die Akten möglich ist, ist dabei unerheblich.

bb) Aus den vom Verteidiger zur Begründung des Aktenausdrucks vorgetragenen Umstände ergibt sich nicht, dass im vorliegenden Einzelfall ein vollständiger oder teilweiser Ausdruck der Akten erforderlich war.

(1) Den Rechtsanwalt, der die elektronische Akte ausdruckt, trifft eine besondere Begründungs- und Darlegungslast, warum dies zusätzlich zu der zur Verfügung gestellten digitalisierten Akte, die eine sachgerechte Bearbeitung bereits ermöglicht, notwendig war, wenn er die zusätzlichen Ausdrucke ersetzt verlangt (OLG Frankfurt a.?M., Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 1/18, OLG Rostock, Beschluss vom 04.08.2024, 20 Ws 193/14). Da die elektronische Aktenbearbeitung mittlerweile zum Alltag gehört und damit ein gezielter Zugriff auf bestimmte Informationen gerade bei umfangreichem Verfahrensstoff erheblich erleichtert wird, ist es dem Verteidiger zuzumuten, sich zunächst mit Hilfe der elektronischen Akte in den Sachverhalt einzuarbeiten und erst auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob und wenn ja in welchem Umfang ein Aktenausdruck aus besonderen Gründen für die weitere Verteidigung zusätzlich in Papierform benötigt werden.

(2) Der Einwand des Verteidigers, nicht über einen Laptop zu verfügen, greift nicht durch. Die fehlende Ausstattung des Verteidigers mit einem Laptop stellt keinen tragfähigen Grund für den Ausdruck der Akte dar (Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Auflage, Nr. 7000 VV Rn. 97 m.w.N.). Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind gemäß § 5 BORA verpflichtet, die für ihre Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen vorzuhalten, wozu mittlerweile auch die technische Ausstattung zur Bearbeitung elektronischer Akten gehört.

(3) Auch dass es ein Rechtsanwalt als praktikabler oder einfacher empfindet, bei der Besprechung mit seinem Mandanten Anmerkungen auf den Papierausdrucken anbringen zu können, stellt aus Sicht eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Verteidigers keinen Grund dar, der den Ausdruck der Akte erforderlich macht. Zum einen ist auch in einem elektronischen Dokument das Anfertigen von Anmerkungen möglich. Zum anderen kann der Verteidiger bei Besprechungen gleichwohl Anmerkungen in Papierform erstellen und sich die dazugehörige Blattzahl der Akte vermerken. Sollte im Einzelfall der Ausdruck einzelner Aktenteile, etwa von Protokollen von Zeugenaussagen, erforderlich sein, rechtfertigt dies jedenfalls nicht den Ausdruck der gesamten Akte mit über 7.000 Seiten. Gründe dafür, dass der Ausdruck einzelner Aktenteile erforderlich war, hat der Verteidiger nicht vorgebracht, so dass auch eine teilweise Kostenerstattung nicht in Betracht kommt.

(4) Der Ausdruck der dem Verteidiger überlassenen elektronischen Akte stellt auch aus Gründen der Waffengleichheit keine zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache grundsätzlich erforderliche Aufwendung dar. Die Arbeit mit einer Papierakte ist der mit einer elektronischen Akte nicht überlegen. Vielmehr können die elektronische Suchfunktion oder das Anbringen von elektronischen Lesezeichen die Aktenarbeit gerade in umfangreichen Verfahren vereinfachen.“

Das ist sicherlich ein Punkt, an dem der Gesetzgeber mal etwas tun müsste. Aber er hat es im KostRÄndG 2021 nicht getan, für das KostRÄndG 2025 ware auch nichts vorgesehen. Und was danach kommt: Wer weiß das im Moment?

OWi III: Besteht ausreichender Masernimpfschutz?, oder: Bußgeldbewehrte Nachweispflicht ok?

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Im dritten Posting dann eine Entscheidung, die nicht eine OWi im Straßenverkehr zum Gegenstand hat. Es geht im OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.09.2024 – 2 ORbs 340 SsBs 461/24 (2) – vielmehr (noch einmal) um die Verfassungsmäßigkeit der bußgeldbewehrten Nachweispflicht über einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern.

Gegen die Betroffene, die sorgeberechtigt für ihren 17-jährigen Sohn ist, welcher eine Schule in L. besucht, wurde mit Bußgeldbescheid eine Geldbuße von 300 EUR verhängt, weil sie zwei vorangegangenen Aufforderungen des Gesundheitsamtes vom 20.06.2023 und vom 20.07.2023 zur Vorlage eines Nachweises über den Schutz ihres Sohnes gegen Masern bzw. einer förmlichen Bescheinigung über die Impfkontraindikation bis zum Ablauf der ihr eingeräumten Frist bis zum 13.08.2023 keine Folge geleistet hatte. Dagegen der Einspruch der Betroffenen, der keinen Erfolg hatte. Das AG hat die Betroffene verurteilt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„3. Der Senat erachtet die Regelungen in § 20 Abs. 8, 9, 12 und 13 IfSG i.V.m. § 73 Abs. 1a Nr. 7 d IfSG nicht für verfassungswidrig, weshalb eine Aussetzung des Verfahrens bis zu einer möglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG nicht geboten war bzw. nicht in Betracht kam (vgl. BayObLG, Beschluss vom 28.03.2024 – 201 ObOWi 141/24 -, BeckRS 2024, 9725 Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 11.09.2023 – 14 L 231/23 -, BeckRS 2023, 25560 Rn. 11 f.; OVG Münster, Beschluss vom 22.07.2022 – 13 B 1466/21 -, BeckRS 2022, 18468 Rn. 33 f.).

Zwar beeinträchtigen die genannten Regelungen in § 20 IfSG sowohl die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1GG) des betroffenen Kindes als auch das Recht der Eltern zur Erziehung, das auch Gesundheitssorge für das Kind umfasst, aus Art. 6 Abs. 2 S.1 GG. Diese Eingriffe sind jedoch – nach Auffassung des Senats auch im Falle schulpflichtiger Kinder – verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

a) Dass die genannten Bestimmungen des IfSG formell verfassungsgemäß sind, hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a. -, NJW 2022, 2904 Rn. 84 ff. bei juris).

b) Nach Auffassung des Senats sind die mit der Nachweispflicht und der bei einem Verstoß vorgesehenen Bußgeldbewehrung verbundenen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit des betroffenen Kindes und in das Erziehungsrecht der Eltern verhältnismäßig, auch wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken erhältlich sind (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 98). Dies gilt auch dann, wenn das betroffene Kind der Schulpflicht unterliegt (im Anschluss an BayObLG, Beschluss vom 28.03.2024, a.a.O.).

aa) Der Gesetzgeber verfolgt mit den Regelungen zur Nachweispflicht über eine erfolgte Masernschutzimpfung den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, einen verbesserten Schutz insbesondere solcher vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung zu erreichen, die regelmäßig in Gemeinschaftseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen, ohne sich selbst aus medizinischen Gründen durch eine Impfung schützen zu können. Zugleich soll die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindert werden, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Gesamtbevölkerung erfordert (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 103 ff.).

bb) Die für Schüler bzw. deren Eltern geltende Pflicht, eine ausreichende Immunisierung gegen Masern nachzuweisen, ist auch geeignet, die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele zu erreichen, denn verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022, a.a.O., Rn. 112 – 115; BVerfG, NJW 2022, 1999, Rn. 166).

cc) Die Pflicht, bei Betreuung in einer Schule oder in einer sonstigen Gemeinschaftseinrichtung eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen ist sowohl zum Schutz der einzelnen dort Betreuten als auch zum Schutz der Bevölkerung insgesamt vor einer Maserninfektion im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Insoweit steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu, der nur einer begrenzten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022, a.a.O., Rn. 116 ff.; BVerfG NJW 2022, 1999 Rn. 187).

dd) Die bußgeldbewehrte Nachweispflicht über einen ausreichenden Masernimpfschutz ist nach Auffassung des Senats nicht nur im Falle von Kindern vor Schuleintritt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022, a.a.O.) angemessen und verhältnismäßig im engeren Sinn, sondern auch bei schulpflichtigen Kindern (so auch BayObLG, a.a.O.; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.08.2024 – 13 B 1280/23 -, juris, Rn. 21 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 15.09.2023 – VG 14 L 210/23).

(1) Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.07.2022 (a.a.O.) lässt sich nicht entnehmen, dass es die Regelung für Schulkinder wegen fehlender Entscheidungsfreiheit für verfassungswidrig hält, denn die Regelungen für Schulkinder waren nicht Gegenstand des Verfahrens. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung darauf hingewiesen, dass der Eingriff in das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und in das Elternrecht aus Art. 6 GG im Falle von Kindern vor Schuleintritt dadurch abgemildert werde, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufhöben, weil sie die Möglichkeit hätten, auf die Betreuung ihrer Kinder in einer Gemeinschaftseinrichtung zu verzichten, um der Nachweispflicht zu entgehen. Diese Freiheit haben Eltern schulpflichtiger Kinder grundsätzlich nicht (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.08.2024, a.a.O., Rn. 21 ff.). Auf der anderen Seite gilt aber nach der gesetzlichen Regelung gegenüber schulpflichtigen Kindern bei Nichtvorlage eines Impfnachweises weder ein gesetzliches Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 S, 6 und 9 IfSG) noch kann das Gesundheitsamt ein Betretensverbot aussprechen (§ 20 Abs. 12 S. 5 IfSG). Eine Durchsetzung der Impfpflicht mit Zwangsmitteln kommt ebenso wenig in Betracht (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 27).

(2) Der Gesetzgeber verfolgt mit den Regelungen in § 20 Abs. 8 ff. den legitimen Zweck, eine Infektion der in Gemeinschaftseinrichtungen untergebrachten Kinder, die dort regelmäßig ohne nennenswerten Abstand aufeinandertreffen, und der dort tätigen Personen mit dem Masernvirus so weit wie möglich zu vermeiden. Im Falle von Kindern, die in Schulen betreut werden, trifft den Staat eine besondere Schutzpflicht auch und gerade gegenüber den – ebenfalls schulpflichtigen – Kindern und deren Angehörigen, bei denen aus gesundheitlichen Gründen eine Impfung kontraindiziert ist und bei denen sich deshalb ein Schutz vor den Folgen einer Infektion nur über eine sogenannte „Herdenimmunität“ erreichen lässt. Es besteht daher ein hohes öffentliches Interesse an einem den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission entsprechenden Impfschutz der Bevölkerung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022, a.a.O.), der, sofern keine medizinische Kontraindikation vorliegt, auch grundsätzlich dem Kindeswohl entspricht (BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022, a.a.O. Rn. 136 ff.). Denn die Masernimpfung bietet einen hocheffektiven, lebenslang wirksamen Schutz und die eingesetzten Kombinationsimpfstoffe (gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken) sind langjährig erprobt und verlaufen zumeist komplikationslos (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 138).

(3) Die zwangsweise Durchsetzung der Nachweispflicht der Sorgeberechtigten greift damit zwar in nicht unerheblicher Weise in das Elternrecht ein. Die Nachweispflicht stellt aber zur Durchsetzung der dargestellten legitimen Ziele des Staates vor dem Hintergrund des gleichzeitigen bewussten Verzichts des Gesetzgebers auf eine mit Zwangsmaßnahmen durchsetzbare Impfpflicht und – bei schulpflichtigen Kindern – auf ein Betreuungs- bzw. Betretensverbot im Falle der Nichtvorlage des Nachweises die einzige Möglichkeit dar, auf eine positive Impfentscheidung der Personensorgeberechtigten hinzuwirken. Ohne eine solche Nachweispflicht, die im Einzelfall durchaus mit erheblichen finanziellen Nachteilen für die Sorgeberechtigten im Falle der Nichterfüllung der Nachweispflicht und damit mit einer faktischen Zwangswirkung einhergeht, liefe die Masernimpfpflicht an Schulen weitgehend ins Leere. Aus diesem Grund erweist sich die Regelung, die dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit aller in Gemeinschaftseinrichtungen betreuten Kinder dienen soll, gerade im Hinblick auf das hohe Infektionsrisiko innerhalb einer Schule, wo regelmäßig eine Vielzahl von Kindern ohne größere Abstände aufeinandertreffen, als verhältnismäßig im engeren Sinne und damit als verfassungsgemäß.

4. Die Verfassungsmäßigkeit der genannten Bestimmungen des IfSG zur Nachweispflicht der Sorgeberechtigten über einen bestehenden Masernimpfschutz ihres Kindes oder über eine bestehende medizinische Kontraindikation entbindet die Bußgeldbehörde freilich nicht von der Verpflichtung, im Einzelfall zu prüfen, ob dem Betroffenen die Vorlage des angeforderten Nachweises aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen unmöglich ist oder ob sich ggf. die Verhängung eines Bußgeldes im Einzelfall als unverhältnismäßig erweisen könnte.

a) Dass der Betroffenen die Vorlage eines Impfnachweises oder eines Nachweises über eine bestehende Kontraindikation objektiv unmöglich gewesen wäre, zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf.

aa) Wenn im Einzelfall – wie im Falle der Betroffenen – kein vorlegbarer Impfnachweis i.S.d. § 20 Abs. 9 S. 1 Nr. 1 und 2 IfSG existiert, führt dies nicht dazu, dass die Vorlageverpflichtung „schlechterdings unerträglich, also mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen unvereinbar“ (BVerwG, Beschluss vom 21.01.2016 – 4 BN 36.15 – juris Rn. 10 m.w.N.) und damit nichtig oder mit einem Bußgeld nicht zu sanktionieren wäre. Denn ihr Zweck besteht gerade darin, eine Anstoßwirkung auch in solchen Fällen zu erzielen, in denen ein Nachweis i.S.d. § 20 Abs. 9 S. 1 IfSG von den Verpflichteten zwar bisher nicht beschafft wurde, dies aber noch nachgeholt werden könnte (vgl. VGH München, Beschluss vom 15.01.2024 – 20 Cs 23.1910, 20 CE 23.1935 -, BeckRS 2024, 644 Rn. 15; vgl. auch OLG Karlsruhe, Senat, Beschluss vom 26.09.2023 – 2 ORbs 35 Ss 235/23 -, BeckRS 2023, 25901 zur einrichtungsbezogenen Corona-Impfnachweispflicht).

bb) Soweit die Betroffene einwendet, sie sei auch deshalb an der Vorlage eines Impfnachweises gehindert gewesen, weil ihr 17-jähriger Sohn, dem gemäß § 630d BGB ein Mitspracherecht zustehe, einer Impfung nicht zugestimmt habe, begründet dies jedenfalls im vorliegenden Fall keine Unmöglichkeit der geforderten Handlung. Aus den Urteilsgründen ergibt sich zwar, dass der Sohn der Betroffenen – nach ihren vom Amtsgericht für glaubhaft erachteten Angaben – eine Impfung nicht gewollt habe. Zugleich ist aber auf der Grundlage des Geständnisses der Betroffenen festgestellt, dass sie von vornherein keinen Versuch unternommen hat, ihrer elterlichen Pflicht nachkommend, auf ihren Sohn entsprechend erzieherisch einzuwirken. Vielmehr hat sich die Betroffene nach den Feststellungen des Amtsgerichts, weil sie selbst die Impfung aus grundsätzlichen Erwägungen wegen möglicher schwerer Impfschäden ablehnte, von Anfang an allein um eine ärztliche Impfunfähigkeitsbescheinigung bemüht, ohne aber ihren Sohn zu diesem Zwecke tatsächlich ärztlich auf eine der Impfung entgegenstehende Grunderkrankung oder eine Impfunverträglichkeit untersuchen oder sich und ihren Sohn ärztlich beraten zu lassen.

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StPO II: Neues Beweismittel für die Wiederaufnahme?, oder: Zeuge kann nur per Video vernommen werden

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2024 – 1 Ws 274/23 – geht es noch einmal um die Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO). Dazu hatte ich ja neulich schon ein paar Entscheidungen vorgestellt.

In dem OLG-Beschluss hat das OLG zur Eignung eines neuen Beweismittels im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO Stellung genommen. Gestritten wird um die Eignung eines als Zeuge benannten früheren Mitangeklagten als neues Beweismittel, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar, sondern lediglich per Videokonferenz vernommen werden kann. Das OLG hat die Eignung im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO verneint, wenn die frühere, nunmehr teilweise widerrufene Einlassung durch gewichtige Indizien gestützt werden. Dazu das OLG:

„3. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages setzt auch voraus, dass das Beweismittel geeignet ist, die Freisprechung oder die geringere Bestrafung des Beschwerdeführers herbeizuführen. Zu diesem Zweck hat sich die Prüfung nicht allein auf die Schlüssigkeit des Antragsvorbringens zu beschränken. Es ist vielmehr auch eine gewisse Wertung der Beweiskraft der angebotenen Beweismittel vorzunehmen (vgl. BGH, NJW 1977, 59 = JR 1977, 217; OLG Braunschweig, NStE Nr. 5 zu § 359 StPO = NStZ 1987, 377 (378); OLG Nürnberg, MDR 1964, 171; OLG Köln, NJW 1963, 967; KG, JR 1975, 166; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 368 Rn. 5). Denn um festzustellen, ob neue Beweismittel geeignet sind, eines der in § 359 Nr. 5 StPO genannten Ziele zu erreichen, ist zu prüfen, ob die Schuldfrage vom Standpunkt des erkennenden Gerichts anders entschieden worden wäre, wenn die neuen Beweismittel dem Gericht bekannt gewesen wären (vgl. Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Dabei sind sie zu dem gesamten Inhalt der Akten und den früheren Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 1987, 377; KG, JR 1975, 166; Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Ist das Beweismittel ein Zeuge, so ist zu unterstellen, dass er so aussagen werde, wie es der Beschwerdeführer behauptet, nicht aber auch, dass die Tatsachen zutreffen, die der Zeuge bekunden soll (vgl. OLG Karlsruhe, OLGSt § 368 OLGSt S. 2; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann StPO § 368 Rn. 9; Paulus, in: KMR, StPO, § 368 Rdnr. 10). Gleiches ist anzunehmen, wenn das Geständnis eines Mitverurteilten nachträglich (teilweise) widerrufen wird. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO zielt auf eine Erschütterung des den Urteilsfeststellungen zugrundeliegenden Beweisgebäudes in seiner Gesamtheit, weshalb eine Gesamtbetrachtung der Beweislage daher unabdingbar ist; der Normwortlaut legt die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise nahe („in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen“) (MüKoStPO/Engländer/Zimmermann StPO § 368 Rn. 31).

Das Landgericht Kaiserslautern hat sich in dem Beschluss vom 30.10.2023 ausführlich mit der Vereinbarkeit des geänderten Aussageverhaltens des Mitverurteilten C. mit der im Übrigen aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz und dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmenden Beweislage auseinandergesetzt. Das Landgericht führt dazu wie folgt aus:

„Die insoweit getroffenen Feststellungen (im Einzelnen s. S. 50 ff. d. Urteils) begründen sich dabei nicht ausschließlich auf der geständigen Einlassung des damaligen Mitangeklagten C. Es ist der Verteidigung zwar zuzustimmen, dass die Feststellungen des Landgerichts Koblenz, soweit es die Abrede zwischen dem Antragsteller und seinem ehemaligen Mitangeklagten C. betrifft, unter anderem auf dessen geständiger Einlassung beruhen. Diese Einlassung wird jedoch durch zahlreiche Indizien gestützt, die mit der geänderten Aussage des ehemaligen Mitangeklagten C. gerade nicht in Einklang zu bringen wären. Diese Indizien bestätigen nicht nur die Feststellungen zu einer Scheinrechnungsabrede bereits ab Mai 2014 und den Umstand, dass den Rechnungen keine Leistungen zugrunde lagen, sondern auch den Umstand, dass der Antragsteller an seine Arbeitnehmer (Teil-)Schwarzlöhne auszahlte und in der Folge keine Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeträge zur Sozialversicherung leistete und sowohl die Lohn- als auch Umsatzsteuern hinterzog. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass allein das geänderte Aussageverhalten des ehemaligen Mitangeklagten C. zu Feststellungen des erkennenden Gerichts geführt hätte, die den beabsichtigten Teilfreispruch zur Folge hätten.

Dies ergibt sich aus Folgendem:….“

Die weiteren Einzelheiten zum konkreten Fall dann bitte selbst lesen.

StPO III: Bindungswirkung an Geständnis I. Instanz, oder: Zumindest Fair-Trial beim Landgericht

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Und zum Tagesschluss etwas vom OLG Naumburg. Das hat im OLG Naumburg, Beschl. v. 24.09.2024 – 1 ORs 112/24 – zur „Bindungswirkung“ an ein erstinstanzliches Geständnis in den Verständigungsfällen Stellung genommen.

„Das AG hatte den Angeklagten, gestützt auf dessen geständige Einlassung, u.a. wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Gegen dieses Urteil haben sich der Angeklagte mit zunächst unbeschränkter Berufung sowie die Staatsanwaltschaft mit einer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung gewendet. Im Berufungshauptverhandlungstermin beim LG beschränkte der Angeklagte seine Berufung ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch. Daraufhin änderte das LG unter Annahme einer beiderseitigen wirksamen Beschränkung der Berufung den Rechtsfolgenausspruch des AG-Urteils ab und verurteilte den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten. Diese hatte mit der Sachrüge Erfolg:

„Die Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils.

Die Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch war nicht wirksam, so dass das Landgericht nicht über alle Teile des amtsgerichtlichen Urteils entschieden hat, die seiner Prüfungskompetenz unterlagen.

Die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung hatte der Senat von Amts wegen im Freibeweis zu prüfen (vgl. KG Berlin, Urteil vom 17. August 2022 – (3) 161 Ss 129/22 (44/22) – , Rn. 14; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 16. Juni 2021 – 206 StRR 226/21 – , Rn. 4, 8; OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2020 – 3 Ss 48/20 – , Rn. 23; jeweils zitiert nach juris; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Auflage, § 318 Rn. 11 m. w. N).

Aufgrund der substanziierten Angaben des Angeklagten in seiner Revisionsbegründungsschrift, denen die Staatsanwaltschaft nicht entgegengetreten ist, der mit der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft mitgeteilten Erklärung des erstinstanzlichen Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, die mit den Angaben des Angeklagten (jedenfalls soweit es die Absprache der Verhängung einer Gesamtstrafe unter Einbeziehung von Vorstrafen betrifft) in Einklang steht, sowie der im Protokoll festgehaltenen Vorgänge in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung geht der Senat davon aus, dass vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten eine – wenn auch informelle und damit unzulässige – Verständigung jedenfalls dahingehend getroffen worden ist, dass für den Fall eines Geständnisses des Angeklagten unter Einbeziehung der Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Köthen vom 3. Mai 2023 und vorn 19. Oktober 2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr und neun Monaten verhängt wird.

Die Staatsanwaltschaft war durch die vorangegangene Verständigung nicht an der Einlegung der Berufung gehindert (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – 111-1 RVs 79/17 -, Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, vor § 312 Rn. 1e).

Jedoch hat die Staatsanwaltschaft ausweislich der Berufungsbegründung mit ihrer Berufung das Ziel verfolgt, die verhängten Einzelstrafen zu erhöhen und von der Gesamtstrafenbildung mit den erwähnten Strafen aus den vorangegangenen Urteilen abzusehen. Dieses verfolgte Ziel bedeutete für den Angeklagten in jedem Fall eine Überschreitung des Verständigungsstrafrahmens. Denn mit dem Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 3. Mai 2023 war unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 19. Oktober 2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verhängt worden. Selbst bei Beibehaltung der erstinstanzlich verhängten beiden Einzelstrafen von vier und fünf Monaten hätte aus diesen zwingend eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden müssen, mit der sich ohne die Bildung einer Gesamtstrafe mit den Strafen aus den genannten Vorverurteilungen die Gesamthöhe der Strafen gegenüber der nach dem Inhalt der Verständigung höchstmöglichen, aus allen Strafen gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erhöht.

Das erstinstanzlich aufgrund einer getroffenen Verständigung erfolgte Geständnis des Angeklagten darf in der Berufungsinstanz aber jedenfalls dann nicht verwertet werden, wenn – wie hier – das Berufungsgericht den Angeklagten zu einer Strafe über der erstinstanzlich vereinbarten Strafobergrenze verurteilten will. Denn der Schutz des Angeklagten, welcher in dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) manifestiert ist, verlangt, dass ein verständigungsbasiertes Geständnis bei einer fehlgeschlagenen Verständigung unverwertbar ist, weil er dieses im Vertrauen auf die Einhaltung der vereinbarten Strafobergrenze abgelegt hat (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20 BGHSt 66, 37-48, Rn. 20; OLG Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – 111-1 RVs 79/17 Rn. 19; OLG Naumburg, Urteil vom 16. März 2017 2 Rv 3/17 -, Rn. 7; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – 111-4 RVs 60/10 -, Rn. 12; jeweils zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O.).

Das Verbot, das Geständnis zu verwerten, führt hier dazu, dass Schuldspruch und Rechtsfolgenausspruch rechtlich und tatsächlich nicht mehr selbstständig beurteilt werden können (vgl. OLG Hamm a. a. O. Rn. 20; OLG Naumburg a. a. O. Rn. 8; KG Berlin, Beschluss vom 7. Oktober 2020 – (4) 161 Ss 121/20 (166/20) – , Rn. 9; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O.). Dem fair-trial-Grundsatz widerspräche es, wenn Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagter sich – sei es unter den Voraussetzungen des § 257c StPO oder im Rahmen einer unzulässigen informellen Absprache – auf einen bestimmten Strafrahmen verständigt hätten, der Angeklagte mit Rücksicht darauf ein Geständnis abgibt, das Gericht absprachegemäß verurteilt, die Staatsanwaltschaft sodann aber gegen das Urteil Rechtsmittel mit dem Ziel einer höheren Bestrafung einlegt, welche dann – letztlich auf der Grundlage des erstinstanzlichen Geständnisses – erfolgt (OLG Düsseldorf a. a. O.).

Wegen der fehlenden Trennbarkeit von Schuld- und Rechtsfolgenausspruch war daher die Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam.

Das Landgericht hätte daher nicht von der Wirksamkeit der Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft ausgehen dürfen und das erstinstanzliche Urteil umfassend im Schuldspruch mit eigenen Feststellungen überprüfen müssen.

Daran ändert in der vorliegenden Konstellation auch nichts, dass es in der Berufungshauptverhandlung ebenfalls zu einer – diesmal formal ordnungsgemäßen -Verständigung der Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO gekommen ist. Diese Verständigung hatte zum Inhalt, dass bei Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen neun Monaten und einem Jahr, ausgesetzt zur Bewährung, verhängt wird, woraufhin der Angeklagte seine Berufung entsprechend beschränkt hat. Zu einem Geständnis, das zur Grundlage der Überprüfung des Schuldspruches hätte gemacht werden können, kam es aufgrund der Verständigung bereits nicht. Ferner hätte ein solches Geständnis aufgrund der vom Landgericht angenommen wirksamen Beschränkung der Berufungen auf den Rechtsfolgenausspruch auch keine Bedeutung für die Entscheidungsfindung betreffend den Schuldspruch mehr entfalten können (vgl. OLG Düsseldorf a. a. O. Rn. 15). Nur wenn das Berufungsgericht den Schuldspruch auch tatsächlich überprüft, kann eine aufgrund der neu zu treffenden Verständigung abgegebene geständige Einlassung des Angeklagten Grundlage für eine Verurteilung sein (s. a. OLG Hamm a. a. O. Rn. 22).“

Im Ergebnis richtig. Bei der Begründung ist mir nicht so ganz klar, ob das OLG auf § 257c Abs. 4 und 5 StPO abstellt, zumindest „konkludent“ 🙂 . Das wäre m.E. aber nicht richtig. Denn die vom OLG entschiedene Frage ist (zunächst) keine Problematik des § 257c Abs. 4 und 5 StPO, der die Bindungswirkung bei einer formellen Absprache regelt. Denn eine formelle Absprache nach § 257c hat hier beim AG nicht vorgelegen. Im Übrigen wäre das LG aber auch an eine solche Absprache nicht gebunden gewesen, da die Bindungswirkung nur bei dem Gericht besteht, bei dem die Absprache zustande gekommen ist. Und das war das AG. Das OLG argumentiert hier daher ja auch mit dem fair-trial-Grundsatz, was letztlich nicht zu beanstanden ist, obwohl sich das OLG nicht mit der Frage der Bindungswirkung der informellen Absprache befasst.

Und zur Bindungswirkung kann man nachlesen <<Werbemodus an“ bei vgl. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl., 2025, Rn 305 ff. m.w.N.).; das Werk kann man hier bestellen. <<Werbemodus aus>>.