Die zweite Zivilentscheidung kommt vom OLG Schleswig, und zwar handelt es sich um den OLG Schleswig, Beschl. v. 14.04.2025 – 7 U 10/25 – zur Frage der Haftung nach einem Zusammenstoß zwischen einem Motorroller und einem Pkw.
Verlangt werden von der Klägerin Schadenersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 19.01.2019 in N. auf Höhe der Kreuzung B76/ H-straße bzw. Zufahrt zum V-park ereignete. Vor der Unfallstelle befindet sich eine Fußgängerbedarfsampel, die (in Fahrtrichtung gesehen) ca. 20 – 25 m entfernt liegt. Die Klägerin befuhr am Unfalltag gegen 17:25 Uhr mit ihrem Vespa-Roller aus T. kommend die hier vorfahrtsberechtigte B 76 in Richtung D. Der Beklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt mit seinem Fahrzeug auf der wartepflichtigen H-straße. Als die Klägerin auf ihrem Roller die Fußgängerbedarfsampel – ausweislich des eingeholten Sachverständigengutachtens – „gerade noch bei Gelblicht“ passiert und anschließend den nachfolgenden Kreuzungsbereich erreicht hatte, bog der Beklagte aus der H-straße kommend nach links auf die B 76 heraus. Die Klägerin prallte mit ihrem Roller seitlich in das Beklagtenfahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls erlitt sie schwere Verletzungen.
Das LG hat verurteilt und ist von einer Haftungsquote des Beklagten von 100 % ausgegangen. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die keinen Erfolg hatte.
„Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.
1. Zu Recht ist das Landgericht gem. §§ 7, 17 Abs. 2 StVG, 8 StVO, 115 I Nr. 1 VVG im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagten hier dem Grunde nach zu 100 % für den Schaden einzustehen haben.
Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung ist gemäß § 17 I, II StVG auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5).
Nach diesen Maßstäben ist im Rahmen der Abwägung zu Lasten der Beklagten zunächst ein Vorfahrtsverstoß gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Unstreitig war die Klägerin auf der B 76 vorfahrtsberechtigt. Dass die Missachtung des Vorfahrtsrechts durch den Beklagten zu 1. unfallursächlich war, steht bereits nach Anscheinsgrundsätzen fest. Ein Beweis des ersten Anscheins ist immer dann anzunehmen, wenn sich in einem Unfallgeschehen ein hinreichend typisierter Geschehensablauf realisiert hat, der einen Rückschluss auf ein unfallursächliches Fehlverhalten einer Partei regelmäßig zulässt (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 04.11.2020 – 1 U 78/19). Beim Abbiegevorgang des nicht Vorfahrtsberechtigten gilt die Vorfahrtsberechtigung des anderen Teiles solange, bis der Einfahrende sich vollständig auf der vorfahrtsberechtigten Straße eingeordnet hat. Aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt, folgt in der Regel die Alleinhaftung des Vorfahrtverletzers (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 9.6.2021, 4 U 396/21, Rn. 7, juris). Neben dem Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO war hier auch die höhere Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten (im Vergleich zu dem Motorroller der Klägerin) zu berücksichtigen. Der Beklagte zu 1) hat zweifellos die ihn treffende Wartepflicht gegenüber der vorfahrtsberechtigten Klägerin verletzt und hierdurch den Unfall verursacht.
Die Beklagten haben keinerlei Umstände zu beweisen vermocht, die geeignet sein könnten, diesen Anschein zu erschüttern. Es fehlt bereits an einem entsprechenden Zurechnungszusammenhang zwischen einem – unterstellten – „Gelblichtverstoß“ an der Fußgängerbedarfsampel und dem Unfall an der nachfolgenden Kreuzung. Diese Ampel dient dem Schutz des querenden Fußgängerverkehres im Ampelbereich und nicht dem Schutz des weit hinter der Ampel befindlichen Kreuzungsverkehrs B76/ H-straße. Außerdem sind Verkehrszeichen, die ein Gebot oder Verbot wie das Gelblicht enthalten, Allgemeinverfügungen, die regeln, dass der Adressat dieser Allgemeinverfügung entsprechend § 37 Nr. 1 StVO zwar grundsätzlich bei Gelb vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen warten sollen. Das bringt jedoch oft die Schwierigkeit mit sich, dass der Verkehrsteilnehmer bei für ihn geltendem Gelblicht nicht mehr ohne die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bis zur Haltelinie anhalten kann. Eine Vollbremsung – insbesondere eines einspurigen Motorrollers – könnte zur Gefährdung nachfolgenden Verkehrs führen, so dass zumindest in der ersten Gelbphase die Abwägung dafürspricht, dass er nicht zu einer Vollbremsung verpflichtet ist. Kann dem Verkehrsteilnehmer bei Beachtung dieser Grundsätze nicht gelingen, vor der Haltelinie bei Gelb anzuhalten, darf er über die Haltelinie hinweg in den Kreuzungsbereich einfahren (Diehl Anm. zu OLG Hamm, Urteil v. 30.5.2016, I-6 U 13/16, ZfSch 2016, 676-679). An der Unfallstelle waren unstreitig 70 km/h erlaubt. Es ist nicht klar, wie schnell die Klägerin vor der Ampel gefahren ist (Annäherungsgeschwindigkeit) und wie lange (Sekunden) sie schon Gelblicht gesehen haben müsste, bevor sie die Fußgängerampel gequert hat. Es fehlt insoweit an entsprechenden Anknüpfungstatsachen. Bei unterstellten 70 km/h hätte die Klägerin 19,4 m/s zurückgelegt, ihr Anhalteweg hätte rund 45 m betragen. Ein Gelb- oder gar Rotlichtverstoß an der Fußgängerampel durch die Klägerin ist nicht bewiesen und kann deshalb auch nicht in die Abwägung nach § 17 StVG eingestellt werden.“
Und zur Höhe des Schmerzensgeldes:
„Die Höhe des Schmerzensgeldes (insgesamt 20.000 €) ist angesichts der schweren und zum Teil dauerhaften Verletzungen der noch verhältnismäßig jungen Klägerin nicht zu beanstanden. Sie hat einen beidseitigen Kieferbruch, eine Halswirbelfraktur, eine Fraktur des Schlüsselbeins links, einen mehrfachen Bruch des Oberschenkelknochens, einen Trümmerbruch des großen Zehs links sowie Schürfwunden am Knie erlitten. Die Klägerin musste sich mehreren Operationen und Folgeoperationen unterziehen. Es bleiben sichtbare Narben im Dekolleté Bereich (15 cm) und am Oberschenkel (5 cm) sowie am Knie. Der große Zeh am linken Fuß musste versteift werden. Die festgestellte Mundöffnungseinschränkung von 5 mm hat das Landgericht – mangels hinreichend bewiesener Unfallursächlichkeit – bei der Schmerzensgeldbemessung nicht berücksichtigt.“