Im „Kessel-Buntes“ köcheln heute dann zwei zivilrechtliche Entscheidungen, die mit Verkehrsrecht zu tun haben, und zwar einmal KG und einmal AG Brandenburg.
Ich starte mit dem KG. Es handelt sich um das KG, Urt. v. 27.03.2025 – 22 U 29/24. Das KG nimmt Stellung zu den Sorgfaltspflichten beim Wiederanfahren nach Halten in „zweiter Reihe“.
Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beklagte zu 1. stand mit seinem Pkw auf der Busspur neben dem auf dem rechten Parkstreifen stehenden Pkw der Zeugin K. in zweiter Reihe. Der Zeuge G. war Beifahrer des Beklagten zu 1. Der Zeugin K., die in ihrem Pkw saß, wurden aus dem Pkw des Beklagten zu 1. heraus Schlüssel übergeben und ein kurzes Gespräch geführt. Der Beklagte zu 1. fuhr, die Vorderräder des Pkw leicht links eingeschlagen, an, weshalb sein Pkw mit dem des Klägers zusammenstieß, der in diesem Moment von dem linken Fahrstreifen an der dafür vorgesehenen Stelle (Leitlinien Zeichen 340) die (mittlere) Busspur (Zeichen 245 [Bussonderfahrstreifen]) querte, um den Rechtsabbiegerfahrstreifen zu erreichen.
Das LG hat die Klage nur in Höhe von 1/3 als begründet angesehen. Dagegen die Berufung des Klägers, die in vollem Umfang Erfolg hatte.
„Die daran anknüpfende rechtliche Beurteilung des Landgerichts hinsichtlich des Mitverschuldens und der Anteile des Klägers und des Beklagten zu 1. vermag der Senat nicht zu teilen.
1. Der Beklagte zu 1. verschuldete den Unfall vielmehr allein.
a) Zwar ist zutreffend, dass das Anfahren aus zweiter Reihe nicht durch den Wortlaut des § 10 S. 1 StVO („vom Fahrbahnrand anfahren“) erfasst wird. Jedoch besteht bei einem Anfahren vom Fahrbahnrand und dem Anfahren aus zweiter Reihe eine vergleichbare Situation, die keinen wesentlichen Unterschied bedeutet, sondern das Erkennen des Anfahrens für andere Verkehrsteilnehmer eher zusätzlich erschwert, weil nicht aus einer Lücke ausgefahren, sondern aus dem Stand unvermittelt losgefahren wird. Das Landgericht übersieht, dass der Verordnungsgeber für ohnehin verbotene (rechtswidrige) Sachverhalte Regelungen nicht treffen muss, weshalb das unzulässige Parken bzw. das grundsätzlich unzulässige Halten in zweiter Reihe (§ 12 Abs. 4 StVO; vgl. König in: Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 12 StVO Rn. 40, 60; Schubert in: Münchener Kommentar, StVR, Band 1, 1. Aufl. § 12 StVO Rn. 87 ff.; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. 27 Rn. 369; BGH, Beschluss vom 3.10.1978 – 4 StR 263/78 – NJW 1979, 224 f.) naturgemäß nicht in die Spezialregelung des § 10 StVO einbezogen ist, obwohl der Sachverhalt und die Gefährdungslage prinzipbedingt nicht abweichen. Den Bussonderfahrstreifen durfte der Beklagte nicht benutzen. Auf ihm darf auch nicht gehalten werden (vgl. Zeichen 245 Nr. 1 [Benutzungsverbot] und Nr. 3., der selbst Taxis das Halten nur im Haltestellenbereich erlaubt; VwV zu Zeichen 245 Bussonderfahrstreifen IV.: „Die Funktionsfähigkeit der Sonderfahrstreifen hängt weitgehend von ihrer völligen Freihaltung vom Individualverkehr ab.“). Die Grundsätze müssen deshalb für das Anfahren aus zweiter Reihe erst recht gelten, weil andernfalls derjenige, der ohnehin schon gegen das Recht verstößt, gegenüber dem rechtmäßig parkenden oder haltenden Verkehrsteilnehmer besser gestellt wäre. Im Rahmen der allgemeinen Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht (§ 1 Abs. 2 StVO) gelten daher die gleichen Anforderungen und Grundsätze. Es besteht eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die Absicht zum Einfahren in den fließenden Verkehr ist rechtzeitig (mindestens 5 s zuvor) anzuzeigen (selbst bei Geradeausfahrt im Fahrstreifen) und dessen Vorrang zu beachten. Ferner gelten die zu § 10 StVO entwickelten Grundsätze hinsichtlich des Anscheinsbeweises für die Verletzung dieser Pflichten (Senat, [Hinweis-] Beschluss vom 17. November 2022 – 22 U 50/22; vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 10 StVO Rn. 7, 10; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 10 StVO Rn. 12; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. [Stand: 24.02.2025], § 10 StVO Rn. 38).
b) Der Beklagte zu 1. musste (und wollte ausweislich des Einschlages der Vorderräder) die Busspur nach links verlassen. Für ihn und nicht den Kläger – wie noch unten ausgeführt wird – galt daher bereits beim Einleiten des bevorstehenden Fahrstreifenwechsels durch Anfahren aus zweiter Reihe zusätzlich die Pflicht zur äußersten Sorgfalt und Beachtung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gemäß § 7 Abs. 5 StVO (Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 10 StVO Rn. 4; LG Frankfurt a. M. LG Frankfurt, Urteil vom 19. Juli 1993 – 2/24 S 131/92 –, juris = DAR 1993, 393).
c) Ein Vorrang des Beklagten zu 1. hätte sich – unterstellt, er hätte die Busspur verbotswidrig weiterhin befahren wollen – auch nicht aus § 9 Abs. 3 S. 2 StVO ableiten lassen. Ihn musste der Kläger nicht durchfahren lassen. Die Regelung bevorrechtigt ausschließlich (im gleichgerichteten Verkehr) benutzungsberechtigte Verkehrsteilnehmer, wie u.a. Linienbusse (KG, Beschluss vom 03.12.2009 – 12 U 32/09 – beck-online; Senat, Urteil vom 14.12.2017 – 22 U 31/16 – beck-online = r+s 2018, 36; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. Rn. 287; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 9 StVO Rn. 38; König in: Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 48. Auflage (2025), § 9 StVO Rn. 39; anders im Begegnungsverkehr: KG, Beschluss vom 3. 12. 2007 – 12 U 191/07 – NZV 2008, 297; Burmann in: Burmann u.a., Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 9 StVO Rn. 28a).
d) Die Verkehrsverstöße des Beklagten zu 1., der den Vorrang des Klägers nicht einmal in Betracht gezogen hatte, waren schwerwiegend und objektiv grob. Mit einem Wechsel anderer Verkehrsteilnehmer von dem linken Fahrstreifen über die Busspur auf die Rechtsabbiegerspur war im Bereich der Querung zu rechnen. Der Beklagte zu 1. hätte also auch insoweit auf rückwärtigen Verkehr achten müssen und erst nach hinreichend langem Linksblinken zum Zeichen der Anfahrabsicht losfahren dürfen, wobei er allerdings den Vorrang der anderen Verkehrsteilnehmer zu beachten und sicherzustellen hatte, dass diese weder behindert noch gefährdet wurden.
2. Den Kläger trifft dagegen kein Verschulden.
a) Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass er die Absicht des Beklagten zu 1., aus dem Stand anzufahren, hätte erkennen müssen oder können, und deshalb Unfall vermeidend hätte reagieren können (§ 1 Abs. 2 StVO). Wegen des haltenden Pkw des Beklagten zu 1., der die Busspur blockierte, musste der Kläger auch nicht mit berechtigtem Verkehr auf dem Bussonderfahrstreifen rechnen.
b) Zum anderen hatte der Kläger, was das Landgericht übersehen hat, dem Beklagten gegenüber keine Sorgfaltspflichten aus § 7 Abs. 5 StVO zu beachten. Dem Kläger stand als Teilnehmer des fließenden Verkehrs der Vorrang vor dem nicht verkehrsbedingt haltenden Beklagten zu 1. zu, denn § 7 Abs. 5 StVO schützt nur den fließenden Verkehr (BGH, Urteil vom 08. März 2022 – VI ZR 1308/20 –, juris Rn. 11 ff.; Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. 27 Rn. 206, 216),
3. Hinter dem grob sorgfaltswidrigen Verhalten des Beklagten zu 1. tritt im Rahmen der Abwägung der Mitverursachungs- und -verschuldensanteile (§ 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG; §§ 9 StVG, 254 BGB) die Haftung des Klägers aus der Betriebsgefahr vollständig zurück, weshalb die Beklagten allein haften.“