Archiv für den Monat: Juli 2023

OWi I: Rotlichtmessung mit privatem Mobiltelefon, oder: Verwertbar, aber bitte genaue Feststellungen

entnommen wikimedia.org
Urheber Ulfbastel

Der ein oder andere Leser, der das Blog regelmäßig liest, wird sicherlich schon OWi-Entscheidungen vermisst haben. Stimmt, die Berichterstattung zu OWi ist im Moment mau. Das liegt aber nicht daran, dass ich an OWi keine Lust habe, sondern daran, dass es im Moment recht wenig OWi-Entscheidungen gibt. Man hat den Eindruck, dass alle gespannt auf das BVerfG warten. 🙂

Heute mache ich dann aber mal wieder einen OWi-Tag mit drei Entscheidungen. Und als erste kommt hier dann der OLG Dresden, Beschl. v. 25.05.2023 – ORbs 21 SsBs 54/23 – zu einem Rotlichverstoß. Es geht um die Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einer Messung, bei der die Stoppuhr eines privaten Mobiltelefons benutzt worden ist. Das OLG hat die Verurteilung des Betroffenen aufgehoben, weil die amtsgerichtlichen Feststellungen nicht ausreichend waren:

„Die Rechtsbeschwerde hat schon auf die Sachrüge (zumindest vorläufigen) Erfolg, weil sich die Urteilsgründe als lückenhaft erweisen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat in ihrer Antragsschrift vom 26. April 2023 Folgendes ausgeführt:

„Auch wenn im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind und sich der Begründungsaufwand auf das rechtsstaatlich unverzichtbare Maß beschränken kann, so kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand versetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 71 Rn 42. 43 m w.N.). Zwar muss das Rechtsbeschwerdegericht die subjektive Überzeugung des Tatrichters von dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts grundsätzlich hinnehmen und ist es ihm verwehrt, seine eigene Überzeugung an die Stelle der tatrichterlichen Überzeugung zu setzen. Allerdings kann und muss vom Rechtsbeschwerdegericht überprüft werden, ob die Überzeugung des Tatrichters in den getroffenen Feststellungen und der ihnen zugrundeliegenden Beweiswürdigung eine ausreichende Grundlage findet. Die Urteilsgründe des Tatgerichts müssen mithin erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (St. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 22.08.2013 – 1 StR 378/13 = NStZ-RR 2013, 387, 388). Daher müssen die Urteilsgründe, wenn nicht lediglich ein sachlich und rechtlich einfach gelagerter Fall von geringer Bedeutung vorliegt, regelmäßig erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann (KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 115; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. Rn. 43, 43a jeweils m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht hinreichend gerecht. Der Beweiswürdigung fehlt hinsichtlich der festgestellten Rotlichtdauer von 1,39 Sekunden eine tragfähige Grundlage.

a) Zwar ist die Messung nicht schon deshalb unverwertbar, weil die verwendete Stoppuhr des privaten Mobiltelefons – offensichtlich – nicht geeicht war (vgl. BayObLG, Beschluss vom 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 m.w.N., Beck-Online). Die Eichpflicht garantiert eine besondere qualitative Sicherheit der Messung. Diesem Zweck wird aber auch dann entsprochen, wenn die qualitätsmäßigen Bedenken an der Messqualität dadurch ausgeräumt werden, dass zum Ausgleich möglicher Messungenauigkeiten und sonstiger Fehlerquellen (z.B. auch Reaktionsverzögerungen beim Bedienen des Messgeräts) bestimmte Sicherheitsabschläge vorgenommen werden. Insofern ist die Rechtslage nicht anders als bei Geschwindigkeitsmessungen mit einem ungeeichten Tachometer, die von der Rechtsprechung jedenfalls dann als beweisverwertbar anerkannt werden, wenn und soweit zum Ausgleich von Messungenauigkeiten und sonstigen Fehlerquellen ein bestimmter Sicherheitsabschlag vorgenommen wird. Der Tatrichter muss aber in einem solchen Fall auch darlegen, welche mögliche geräteeigenen Fehler der Uhr (z. B. verzögerte Reaktionszeiten des Geräts, mögliche Ungenauigkeiten bei der Zeitanzeige) und welche externen Fehlerquellen (z. B. Ungenauigkeit hinsichtlich der Fahrtzeit von der Haltelinie bis zum Bedienen der Stoppuhr) er berücksichtigt hat. Bei der Prüfung interner Fehlerquellen wird auch der Typ des eingesetzten Gerätes eine Rolle spielen. Selbst bei geeichter Stoppuhr hat der Tatrichter von dem gemessenen Wert einen über den Toleranzabzug von 0,3 Sekunden hinausgehenden Sicherheitsabzug vorzunehmen, der dem Ausgleich etwaiger Gangungenauigkeiten dient (vgl. zu alledem BayObLG, a.a.O.).

b) Das Amtsgericht hat hier schon den selbst bei geeichten Stoppuhren erforderlichen Toleranzabzug von 0,3 Sekunden der gemessenen Zeit – als Ausgleich für etwaige Reaktionsverzögerungen bei der Bedienung – nicht vorgenommen. Überdies hat es auch den erforderlichen Abzug eines weiteren Sicherheitsabschlages bei ungeeichten Messgeräten unterlassen. Es fehlen auch Angaben zum Gerätetyp des verwendeten Mobiltelefons. Zudem hätte das Amtsgericht einen weiteren Zeitabschlag aufgrund der gewählten Messmethode erörtern müssen, bei der der messende Polizeibeamte die Lichtzeichenanlage offenbar nicht selbst im Blick hatte, sondern den Messvorgang erst auf ein Signal des beobachtenden Polizeibeamten auslöste. Denn damit liegt eine zweifache Reaktionsverzögerung vor, die zu weiteren Messungenauigkeiten führen dürfte. Es ist auch nicht hinreichend ersichtlich, dass diese Ungenauigkeit bei Beginn der Messung durch eine entsprechend umgesetzte Beendigung des Messvorganges wieder ausgeglichen worden ist. Zum einen fehlt eine hinreichend klare Darstellung zur Beendigung der Messung. Zum anderen können menschliche Reaktionszeiten nicht immer als identisch unterstellt werden, insbesondere wenn sich – wie hier – rechtliche Auswirkungen aus dem Größenbereich von Hundertstel- oder Zehntelsekunden ergeben können.

c) Soweit das Gericht davon ausgegangen ist, dass selbst bei – nicht erfolgtem – Abzug von 0,3 Sekunden eine Rotlichtdauer von über einer Sekunde vorgelegen habe, weil das Auto des Betroffenen von der Haltelinie vor der Lichtzeichenanlage bis zum Kreuzungsbereich noch eine weitere Strecke zurücklegen musste, liegen keine prüfbaren Feststellungen vor. Denn es fehlt an näheren Angaben zur nach Beendigung der Messung zurückgelegten Wegstrecke bis in den unmittelbaren Kreuzungsbereich. Ebenso ist nicht dargelegt welchen etwaigen „Zuschlag“ auf das Messergebnis das Gericht aufgrund dieser Umstände angenommen hat.

Il.

Da nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, ist es insgesamt mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Es ist auch nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht durch eine ergänzende Befragung der in Betracht kommenden Zeugen und gegebenenfalls durch weitere Beweiserhebungen (Sachverständigengutachten) zu zuverlässigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der tatsächlichen Dauer der Rotlichtphase zum maßgebenden Zeitpunkt gelangen kann.“

Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an.“

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Der „Kampf“ geht weiter

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Und im dritten Posting dann, wie könnte es sein, noch zwei Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, dem Dauerbrenner im (neuen) Recht der Pflichtverteidigung.

Hier dann der mal wieder sehr schön begründete LG Gießen, Beschl. v. 26.06.2023 – 1 Qs 12/23, den ich mal wieder voll einstelle, weil er die Argumente für die Zulässigkeit noch einmal sehr schön zusammenstellt:

„Die zulässige, insbesondere statthafte (§ 142 Abs. 7 StPO), sofortige Beschwerde ist begründet.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die sofortige Beschwerde lag zwar kein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 68 JGG i.V.m. § 140 StPO) mehr vor, weil das Verfahren gegen den Beschuldigten zwischenzeitlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Über einen Antrag auf Beiordnung ist jedoch gemäß § 141 Abs. 1 StPO (i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG) unverzüglich, d.h. so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, also ohne sachlich nicht begründete Verzögerung zu entscheiden (vgl. Meyer-Goßner/Sch-mitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 7; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, JGG, 11. Auflage 2021, § 68a Rn. 3). Gemäß § 142 Abs. 1 StPO legt die Staatsanwaltschaft den Antrag eines Beschuldigten unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor.

Insofern ist innerhalb der Rechtsprechung jedoch umstritten, ob eine Bestellung auch noch rückwirkend etwa nach Ende des Verfahrens erfolgen kann, wenn trotz rechtzeitiger Antragstellung durch justizinterne Vorgänge eine solche unterblieben ist (vgl. u.a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 142 Rn. 30; Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15). Das praktische Interesse der Beschuldigten liegt in diesen Fällen vielfach darin, dass mit der nachträglichen Bestellung, d.h. mit dem rückwirkenden Übergang von der Wahl- zur Pflichtverteidigung, eine Befreiung von den Verteidigerkosten einhergehen kann. Insofern wird — zumindest in Jugendstrafverfahren im Hinblick auf den Grundgedanken des § 2 Abs. 1 JGG und dem folgend der Kostenbefreiung sowie dem Anliegen, erhebliche finanzielle Belastungen wegen ihrer spezialpräventiv abträglichen Implikationen zu vermeiden — vielfach vertreten, eine Bestellung sei auch noch rückwirkend nach Abschluss des vorzunehmen (vgl. Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15; LG Neubrandenburg, BeckRS 2016, 20411; BeckOK StPO/Krawczyk. a.a.O. § 142 Rn. 30; LG Bonn, BeckRS 2010, 6327; AG Kempten, BeckRS 2019, 23506). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 09.12.2019 eine Stärkung des Rechts beschuldigter Personen auf Verteidigung im Strafverfahren zur Folge hat.

Von der obergerichtlichen Rechtsprechung wurde eine rückwirkende Bestellung nach Verfahrensabschluss bislang überwiegend abgelehnt, da eine Beiordnung weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen solle, sondern lediglich dem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, a.a.O. § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30; OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. März 2022 —1 Ws 28/22 (S) juris; BGH, NStZ-RR 2009, 348; OLG Bremen, NStZ 2021, 253).

Die Kammer folgt jedoch der Auffassung, dass es ausnahmsweise möglich und geboten ist, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO bzw. § 68 JGG) vorliegen, der Beiordnungsantrag noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde (vgl. u.a. OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 —1 Ws 260/21 —, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20 juris; LG Düsseldorf, BeckRS 2021, 36883; LG Köln NStZ 2021, 639; LG Wuppertal BeckRS 2021, 32474; LG Bremen, Beschluss vom 17. August 2020 — 3 Qs 221/20 juris; LG Hechingen, BeckRS 2020, 14359; LG Magdeburg, BeckRS 2020, 2477; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26.02.2004 — 4 Qs 10/04 1, juris Ls.; a.A. u.a.: OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. Februar 2023 — 7 Ws 30/23 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Oktober 2012 —111-3 Ws 215/12 —, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 —, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 — 1 Ws 12/21 —, juris; KG Berlin, Beschluss vom 5. November 2020 — 5 Ws 217/19 —, juris). Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine an sich gebotene Pflichtverteidigerbestellung wegen verzögerter Sachbearbeitung vermieden wird und eine effektive Verteidigung wegen der ungeklärten Kostenfrage unterbleibt (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30 m.w.N.).

Die Voraussetzungen des Ausnahmefalls sind vorliegend erfüllt. Der Antrag auf Beiordnung wurde auf die Übersendung einer schriftlichen Anhörung an den Beschuldigten bereits am 21.06.2022 gestellt. Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 68 JGG lagen vor. Im Falle der Anwendung von Jugendstrafrecht hätte im Falle einer Verurteilung im Hinblick auf die Einbeziehung der früheren Verurteilung durch das Landgericht die Bildung einer Einheitsjugendstrafe (§ 31 Abs. 2 JGG) gedroht, sodass ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 68 Nr. 5 JGG vorgelegen hätte (vgl. BeckOK JGG/Noak, 29. Ed. 1.5.2023, JGG § 68 Rn. 27 m.w.N.). Insoweit kann es auch bereits dahinstehen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO (i.V.m. § 68 Nr. 1 JGG) begründet war (vgl. Meyer-Goß-ner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn. 23c), weil der Beschuldigte für den Fall einer neuerlichen Verurteilung — soweit es nicht zu einer Einbeziehung gekommen wäre — mit dem Widerruf der Bewährung aus dem Urteil des Landgerichts Gießen (1 KLs 605 Js 3922/21) — Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren auf Bewährung — hätte rechnen müssen. Schließlich ist die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Eine Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung vom 21.06.2021 hätte zeitnah nach dessen Eingang ergehen müssen. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Der Anhörungs-bogen wurde dem Beschuldigten mit Datum vom 10.06.2022 übersandt. Eine Entscheidung über den Antrag ist aufgrund justizinterner Vorgänge bis zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO am 13.12.2022 unterblieben. Das Schreiben des Verteidigers ging zunächst am 21.06.2022 beim Polizeipräsidium Mittelhessen eingegangen. Das Verfahren wurde mit Abverfügung vom 18.08.2022 an die Staatsanwaltschaft Gießen abgegeben und ging dort am 23.08.2022 ein. Erst mit Verfügung vom 28.02.2023 wurde die Sache — nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO und Erinnerung des Verteidigers an seinen Antrag — an das Amtsgericht Gießen mit dem Antrag, den Verteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen abgegeben. Von einer zeitnahen Entscheidung kann daher nicht mehr die Rede sein.“

Und aus den zutreffenden Argumenten des LG Gießen ist die Auffassung des LG Frankfaurt am Main, das im LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.06.2023 – 5/27 Qs 22/23 – eine rückwirkende Bestellung abgelehnt hat, falsch. Wir schenken uns daher Näheres zu dem Beschluss.

Pflichti II: Erteilung einer Vertretungsvollmacht, oder: Kein Aufhebungsgrund

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Im zweiten Pflichti-Posting dann der OLG Nürnberg, Beschl. v. 23.05.2023 – Ws 468/23. Der äußert sich zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbeiordnung, wenn der Angeklagte seinem Pflichtverteidiger gemäß § 329 Abs. 2 S. 1 StPO eine Vertretungsvollmacht erteilt.

Im entschiedenen Fall hatte das AG dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger bestellt. Der Angeklagte wird dann verurteilt. Er legt gegen dei Verurteilung Berufung ein.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vor dem LG legt der Pflichtverteidiger eine Vertretungsvollmacht nach § 329 StPO vor. Das LG hebt daraufhin auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Pflichtverteidigerbestellung auf. Die Berufung des Angeklagten wurde verworfen. Der Angeklagte hat inzwischen Revision eingelegt.

Gegen die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung wird Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nach § 143a Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

Nach § 143a Abs. 1 S. 1 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, führt unabhängig davon, ob bei Personenidentität des Verteidigers überhaupt von einem „anderen Verteidiger“ im Sinne der Vorschrift gesprochen werden kann (so BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 143a Rn. 1 unter Verweis auf SK-StPO/Wohlers Rn. 2 „Die Aufhebung der Bestellung muss auch dann erfolgen, wenn der bisherige Pflichtverteidiger gewählt wird.“), die Vorlage einer Vertretungsvollmacht nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO nicht zur Annahme eines Wahlmandats. Davon, dass auch dem Pflichtverteidiger eine Vollmacht im Sinne des § 329 Abs. 2 S. 1 StPO erteilt sein kann (ohne dass dadurch die Pflichtverteidigerbestellung obsolet wird), gehen neben dem OLG Hamm in der von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidung (Beschluss vom 03.04.2014, 5 RVs 11/14) auch das OLG Köln (Beschluss vom 12.06.2018, 1 RVs 107/18) und der BGH aus (der anders als die beiden vorstehenden Entscheidungen sogar das Fortwirken einer vor der Pflichtverteidigerbestellung erteilten uneingeschränkten Vertretungsbefugnis annimmt, Beschluss vom 24.01.2023, 3 StR 386/21, beck-online Rn. 28). Zu Recht hat die Generalstaatsanwaltschaft ferner darauf hingewiesen, dass es nicht nur an der notwendigen Feststellung fehlt, dass der Pflichtverteidiger als Wahlverteidiger mandatiert und zur Durchführung der Verteidigung dauerhaft und nicht nur punktuell in der Lage ist (vgl. KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 143a Rn. 2), sondern vielmehr erhebliche Zweifel bestehen, dass die vom Landgericht angenommene Wahlverteidigerbestellung gesichert wäre.

2. Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung konnte auch nicht auf der Grundlage des § 143 Abs. 2 S. 1 StPO erfolgen.

Nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. An den für die Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO maßgeblichen Umständen – der Verurteilte stand zur Tatzeit hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von einem Jahr zehn Monaten unter Bewährung, deren Widerruf im Raum steht – hat sich allerdings vorliegend nichts geändert. Ein Fall notwendiger Verteidigung ist nach wie vor gegeben. Eine bloße Änderung der rechtlichen Bewertung des Vorliegens der Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung kann aus Gründen des prozessualen Vertrauensschutzes eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nicht begründen (KG, Beschluss vom 28.02.2017, 5 Ws 50/17; OLG Nürnberg, Beschluss vom 07.03.2023, Ws 173-174/23, sowie Beschluss vom 04.04.2023, Ws 294/23).“

Pflichti I: 2 x aus Halle zu den Beiordnungsgründen, oder: Gesamtstrafenfähigkeit und Akteneinsicht

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Und heute dann Entscheidungen aus der Ecke „Pflichtverteidigung“. Ein paar habe sich seit dem letzten Pflichti-Tag wieder angesammelt.

Hier zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Das LG Halle führt im LG, Beschl. v. 13.06.2023 – 3 Qs 60/23 – noch einmal zur Frage der Beiordnung im Fall der Gesamtstrafenfähigkeit aus:

„Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO sind gegeben, da wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.

Da das Datum sowohl der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat als auch der ihm im Verfahren 560 Js 205230/21 vor dem Amtsgericht Naumburg vorgeworfenen Taten jeweils nach dem Erlass des zuletzt gegen den Angeklagten ergangenen Strafbefehls des Amtsgerichts Naumburg vom 08.02.2021 liegt, sind die Taten aus dem Verfahren 560 Js 205230/21 mit der dem Angeklagten hier vorgeworfenen Tat gesamtstrafenfähig. Auch wenn die Kammer aufgrund der dortigen Anklage vor dem Schöffengericht davon ausgeht, dass dem Angeklagten in Bezug auf das bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG ein — aus Sicht der Staatsanwaltschaft – minder schwerer Fall gemäß § 30a Abs. 3 BtMG vorgeworfen wird und ihm im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg daher nicht die nach § 30a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BtMG vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren droht, so ist doch angesichts der Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe für das dem Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg ebenfalls vorgeworfene Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG — welches zudem auch für das minder schwere bewaffnete Handeltreiben mit Betäubungsmitteln Sperrwirkung entfaltet — für den Fall einer Verurteilung insgesamt die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten. Drohen einem Beschuldigten aber in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Rechtsfolge“, also mindestens ein Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe, im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, soist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig (vgl. KG Berlin, Beschluss vorn 13. 12. 2018 — 3 Ws 290/18 Rn. 2; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. 05. 2013 – 2 Ss 65/13 -, Rn. 6; jeweils zitiert nach juris).“

Und die zweite Entscheidung kommt auch aus Halle, allerdings vom AG Halle. Es handelt sich um den AG Halle (Saale), Beschl. v. 02.06.2023 – 302 Cs 234 Js 6479/23 (64/23) .

„Es ist ersichtlich, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)).

Dies ergibt sich daraus, dass die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertritt, Name und weitere Daten der Anzeigenerstatterin müssten vor dem Beschuldigten geheim gehalten werden. Diese Überlegungen sind durchaus nachvollziehbar. Allerdings entsteht hierdurch für den Beschuldigten ein Informationsdefizit, welches dadurch ausgeglichen werden muss, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, welcher vollumfängliche Akteneinsicht erhält. Die Bitte der Staatsanwaltschaft BI. 46 Band II, dem Verteidiger keine Einsicht in das Sonderheft zu gewähren, ist unzulässig. Der Verteidiger muss, um seine Aufgaben erfüllen zu können, Einsicht in sämtliche dem Gericht zur Entscheidungsfindung vorliegenden Unterlagen haben. Insoweit ist eine Beschränkung seines gesetzlichen Rechts auf Akteneinsicht nicht statthaft. Aufgrund seiner berufsrechtlichen Stellung ist der Verteidiger allerdings vorliegend nicht befugt, dem Beschuldigten die von der Staatsanwaltschaft für geheimhaltungsbedürftig angesehenen Daten der Anzeigenerstatterin mitzuteilen, worauf er im Rahmen der Aktenübersendung ausdrücklich hingewiesen wurde.

Eine Anhörung der Staatsanwaltschaft zu der erfolgten Beiordnung ist nicht geboten. Der Staatsanwaltschaft lag der Beiordnungsantrag des Verteidigers bereits am 19.04.2023 vor. Wenn die Staatsanwaltschaft hierzu nicht inhaltlich Stellung nimmt, sondern lediglich die Akte mit einem Strafbefehlsantrag an das Gericht weiterleitet, hat sie hierdurch in genügendem Maße zu erkennen gegeben, dass sie zum Beiordnungsantrag nicht Stellung nehmen möchte.“

StGB III: Richter-Rechtsbeugung durch Unterlassen, oder: Verfälschungen und Arbeitsverweigerung

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Und dann zum Tagesschluss noch der BGH, Beschl. v. 29.11.2022 – 4 StR 149/22, über den ja schon an anderen Stellen berichtet worden ist. Es ist die Geschichte vom LG Hagen, das dort eine Richterin am AG wegen Rechtsbeugung durch Unterlassen verurteilt hatte, und zwar zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten.

Folgender Sachverhalt – in Kurzform, im Übrigen verweise ich auf den verlinkten Volltext: Die Angeklagte war Richterin auf Lebenszeit am AG. Unter Verfälschung des Hauptverhandlungsprotokolls hat sie u.a. eine erstinstanzliche Strafsache fortgesetzt, obwohl sie den Angeklagten in dessen Abwesenheit bereits verurteilt hatte. Dies tat sie, um zu verschleiern, das schriftliche Urteil entgegen § 275 Abs. 1 StPO nicht rechtzeitig zu den Akten gebracht zu haben. In anderen Strafsachen täuschte sie die fristgerechte Urteilsabsetzung mithilfe von Verfügungen und Vermerken vor oder brachte die Urteile überhaupt nicht zu den Akten. Zudem verweigerte sie die Bearbeitung von Verfahren in Familiensachen und deponierte die Akten in ihrem Keller.

Die Revision war nur zum Strafausspruch erfolgreich. Wegen der Ausführungen des BGH zum Schuldspruch verweise ich auf den Volltext.Hier nur Leitsätze:

  1. Ein Rechtsbeugung kann durch Unterlassen begangen werden, wenn dies angesichts der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls nicht nur eine fehlerhafte Sachbehandlung darstellt, sondern wenn bewusst gegen eine Vor­schrift verstoßen wird, die ein bestimmtes Handeln unabweislich zur Pflicht macht, wenn der Richter untätig bleibt, obwohl besondere Umstände sofortiges Handeln zwin­gend gebieten oder wenn die zögerliche Bearbeitung auf sachfremden Erwägun­gen zum Vorteil oder Nachteil einer Partei beruht.
  2. Das kann der Fall sein, wenn mehrfach und dauerhaft Urteile entgegen § 275 Abs. 1 StPO nicht abgesetzt werden oder bei der Bearbeitung von Akten eine Totalverweigerung besteht.

Zur Aufhebung des Strafausspruchs führt der BGh aus:

„III. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung insgesamt nicht stand.

1. a) Die Verneinung einer verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten (§ 21 StGB) lässt allerdings auch unter Berücksichtigung ihres weiteren Vorbringens in der Gegenerklärung vom 30. August 2022 keinen auf Sachrüge beachtlichen Rechtsfehler zu ihrem Nachteil erkennen.

b) In den Fällen 6 bis 8, 11, 13 und 14 genügt die Strafrahmenwahl den rechtlichen Anforderungen gleichwohl nicht. Das Landgericht hat den Strafrahmen insoweit jeweils § 339 StGB als dem verletzten Strafgesetz entnommen, das die schwerste Strafe androht (§ 52 Abs. 2 StGB). Bei diesen Unterlassungstaten hat es jedoch – auf der Grundlage seiner rechtlichen Würdigung folgerichtig – eine Milderung nach § 13 Abs. 1 und 2, § 49 Abs. 1 StGB nicht geprüft. Dies beschwert die Angeklagte hinsichtlich der Mindeststrafe des anzuwendenden Strafrahmens.

c) Darüber hinaus ist die Wahl des Strafrahmens im Fall 1 rechtsfehlerhaft, in dem das Landgericht den Regelstrafrahmen des § 267 Abs. 3 Satz 1 StGB herangezogen hat. Es hat bei der Prüfung eines „unbenannten minder schweren Falls“ – richtig: bei der Frage, ob von der Regelwirkung abzusehen ist – als straferschwerend gewertet, dass die Angeklagte dem „Ansehen und Vertrauen in die Justiz“ geschadet habe. Insofern durfte das Landgericht zwar eine tateinheitliche Verwirklichung von § 339 StGB berücksichtigen. Die Strafkammer hat aber einen tatsächlich eingetretenen Ansehensverlust der Justiz weder konkret festgestellt noch belegt. Zudem hat das Landgericht nicht bedacht, dass eingetretene Tatfolgen nur dann mit ihrem vollen Gewicht bei der Einzelstrafbemessung berücksichtigt werden können, wenn sie unmittelbare Folge allein einzelner Taten sind (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2022 – 4 StR 449/21 Rn. 4; Beschluss vom 18. Februar 2021 – 2 StR 7/21 Rn. 4).

2. Bei der konkreten Bemessung der Einzelstrafen liegt der zuletzt aufgezeigte Rechtsfehler ebenfalls vor. Die Erwägung, die Angeklagte habe dem Ansehen der Justiz geschadet, hat das Landgericht über die Einzelstrafe im Fall 1 hinaus strafschärfend auch den Einzelstrafen in den Fällen 2 bis 14 zugrunde gelegt. Da es insoweit jeweils den Strafrahmen des § 339 StGB angewendet hat, tritt hier als weiterer Rechtsfehler ein Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB hinzu.

Über dessen Wortlaut hinaus, der nur die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands nennt, darf auch das Schutzziel der Strafdrohung nicht erschwerend bei der Strafbemessung berücksichtigt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2022 – 6 StR 274/22; Beschluss vom 9. Januar 1987 – 2 StR 641/86 Rn. 7; Schneider in LK-StGB, 13. Aufl., § 46 Rn. 256; Maier in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 46 Rn. 538; jeweils mwN). Der Schutzweck des § 339 StGB geht u. a. dahin, mit der innerstaatlichen Rechtspflege auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit und Rechtstreue der rechtsprechenden Organe zu schützen (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 339 Rn. 2; Sinner in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 339 Rn. 2; Kudlich in SSW-StGB, 5. Aufl., § 339 Rn. 5). Die strafschärfende Berücksichtigung eines Ansehens- und Vertrauensverlustes der Justiz, jedenfalls solange er nicht außergewöhnlich schwer ist, scheidet daher aus, wenn die Strafe aus dem Strafrahmen des § 339 StGB zuzumessen ist. Dies hat das Landgericht übersehen.