Archiv für den Monat: Mai 2023

StPO I: Zustellung an Betroffenen/Angeklagten, oder: Umfang der Unterrichtungspflicht des Verteidigers

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Und heute dann drei StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zustellung bzw. Vollamcht zu tun, aber es passt weder „Zustellung“ noch „Vollmacht“ als  (Unter)Kategorie, daher dann eben „StPO“. Das passt immer.

Den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 01.02.2023 – 201 ObOWi 49/23 – zum Umfang der Unterrichtungspflicht der Verteidigung bei Zustellungen an Betroffene.

Gegen die Betroffene ist ein Bußgeldbescheid erlassen worden. Gegen diesen der Betroffenen am 20.04.2022 zugestellten Bußgeldbescheid legte der Verteidiger form- und fristgerecht Einspruch ein und legte eine von der Betroffenen erteilte schriftliche Strafprozessvollmacht vom 02.05.2022 vor (!). Das AG verurteilte die Betroffene aufgrund der Hauptverhandlung vom 20.10.2022, an der sowohl die Betroffene als auch ihr Verteidiger teilnahmen. Gegen dieses Urteil legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 27.10.2022, beim AG eingegangen über das besondere Anwaltspost-fach (beA) am selben Tag, Rechtsbeschwerde ein. Die Amtsrichterin ordnete unter dem 11.11.2022 die Zustellung des Urteils an die Betroffene und die formlose Übersendung der Entscheidungsabschrift an den Verteidiger mit Zusatz „Die Zustellung erfolgt an Ihren Mandanten“ an. Die Zustellung an die Betroffene ist am 18.11.2022 erfolgt. Die Begründung der Rechtsbeschwerde, mit welcher der Verteidiger die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist am 21.12.2022 formgerecht beim AG eingegangen.

Es wird jetzt um Wiedereinsetzung gestritten und zur Begründung ausgeführt, dass dem Verteidiger das Urteil des Amtsgerichts erst am 21.12.2022 zugestellt worden sei und ihm – unter Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO auch nicht vorab mitgeteilt worden sei, wann das Urteil des AG an die Betroffene zugestellt wurde. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Die Frist zur Begründung der form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde wurde versäumt. Die Frist begann mit der Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils an die Betroffene am 18.11.2022 (§ 345 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) und endete mit Ablauf des 19.12.2022, nachdem der 18.12.2022 ein Sonntag war.

Die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG richterlich angeordnete Zustellung an die Betroffene erweist sich als wirksam. Nach § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG ist im Fall der Zustellung an den Betroffenen auch der Verteidiger zu benachrichtigen, dessen Vollmacht nicht nachgewiesen ist; erst recht gilt dies demnach für den schriftlich bevollmächtigten Verteidiger.

Zwar gilt der Verteidiger gemäß § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG als ermächtigt, Zustellungen für den Betroffenen in Empfang zu nehmen. Die Vorschrift gestattet demnach Zustellungen an den Verteidiger, begründet jedoch keine Rechtspflicht, entsprechend zu verfahren. Daher sind an den Betroffenen persönlich gerichtete Zustellungen gleichwohl wirksam und setzen die Rechtsmittelfristen in Lauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 145a Rn. 6 m.w.N.). Nichts anderes folgt daraus, dass eine solche Verfahrensweise der Regelung in Nr. 154 Abs. 1 RiStBV widerspricht (vgl. BGH, Beschl. v. 18.09.2018 – 3 StR 92/18 bei juris = NStZ-RR 2019, 24 = BeckRS 2018, 28285 und 12.02.2014 – 4 StR 556/13 bei juris = BeckRS 2014, 5620; KG, Beschl. v. 27.11.2020 – [5] 161 Ss 155/20 [47/20] bei juris = StraFo 2021, 69 = OLGSt StPO § 145a Nr 7 = NJW-Spezial 2021, 58 = BeckRS 2020, 36756), die als bloße Verwaltungsvorschrift den Richter nicht bindet. Selbst ein etwaiger Verstoß gegen die in § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO normierte Ordnungsvorschrift, den Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zu unterrichten, begründet nicht die Unwirksamkeit der Zustellung, sondern kann lediglich im Einzelfall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen (vgl. BGH, Beschl. v. 31.01.2006 – 4 StR 403/05 bei juris = wistra 2006, 188 = BGHR StGB § 44 Verschulden 9 = NStZ-RR 2006, 211 = BeckRS 2006, 1918; KG, a.a.O; KK/Willnow StPO 9. Aufl. § 145a Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 14; i.E. so auch BGH, Beschl. v. 13.09.2022 – 5 StR 279/22 bei juris = BeckRS 2022, 27294).

Maßgeblich für den Fristbeginn war vorliegend insoweit allein die gemäß § 36 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG von der Tatrichterin angeordnete und von der Geschäftsstelle bewirkte Zustellung an die Betroffene am 18.11.2022. Die von der Tatrichterin angeordnete formlose Bekanntgabe des Urteils an den Verteidiger, die am 21.11.2022 erfolgt ist, war keine Zustellung im Rechtssinne, sodass der Eingang des Urteils bei dem Verteidiger entgegen der in seiner Gegenerklärung vom 31.01.2023 geäußerten Rechtsauffassung für den Fristbeginn ohne Bedeutung war. Die erst am 21.12.2022 eingegangene Rechtsbeschwerdebegründung war daher verfristet.

2. Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde, die voraussetzt, dass die Betroffene ohne Verschulden verhindert war, diese Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG), kommt nicht in Betracht. Der Antrag der Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde ist in mehrfacher Hinsicht bereits unzulässig, §§ 44, 45 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.

a) Das Vorbringen im Schriftsatz der Verteidigung vom 31.01.2023 erfüllt die Voraussetzungen eines zulässigen Wiedereinsetzungsantrags schon deshalb nicht, weil ihm nicht zu entnehmen ist, dass die Betroffene ohne Verschulden gehindert war, die versäumte Frist einzuhalten; der Vortrag legt nämlich nicht dar, dass sie ihren Verteidiger überhaupt mit der Einlegung und Begründung des Rechtsmittels beauftragt hatte. Eine Frist versäumt nur diejenige, der sie einhalten wollte, aber nicht eingehalten hat (BGH, Beschl. v. 12.07.2017 – 1 StR 240/17 bei juris = BeckRS 2017, 119054; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.03.2017 – 3 Ss OWi 330/17 bei juris = BeckRS 2017, 106539; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 44 Rn. 5). Allein aus der Einlegung der Rechtsbeschwerde ergibt sich ein entsprechender Auftrag der Betroffenen nicht, da der Verteidiger seinerseits gemäß § 297 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Befugnis hat, selbstständig Rechtsmittel einzulegen.

b) Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen leidet darüber hinaus an weiteren durchgreifenden Mängeln im Tatsachenvortrag und dessen Glaubhaftmachung im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Antrag ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb dieser Frist muss der Antragsteller auch Angaben über den Wiedereinsetzungsgrund machen. Die erforderlichen Angaben sind, ebenso wie ihre Glaubhaftmachung, Voraussetzung der Zulässigkeit des Antrags (vgl. BGH, Beschl. v. 14.01.2015 – 1 StR 573/14 bei juris = NStZ-RR 2015, 145). Ein Wiedereinsetzungsantrag muss daher unter konkreter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet werden, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Antragstellers entnommen werden kann (vgl. LR/Graalmann-Scherer StPO 27. Aufl. § 45 Rn. 13). Vorzutragen ist stets ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

So wird schon nichts zu der Frage vorgetragen, aus welchen Gründen die Betroffene nach Zustellung des Urteils an sie am 18.11.2022 davon abgesehen hat, sich an ihren Verteidiger zu wenden. Soweit die Betroffene im Rahmen ihres Wiedereinsetzungsantrags geltend macht, dass ihrem Verteidiger entgegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO nicht mitgeteilt worden sei, wann das Urteil an sie selbst zugestellt wurde, vermag dieses Vorbringen eine Wiedereinsetzung nicht zu begründen. Denn die von ihr in den Raum gestellte gesetzliche Verpflichtung besteht nicht. Die Verfahrensvorschrift des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO verlangt im Falle der Zustellung an den Betroffenen, dass der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet wird. Das Gericht nimmt insoweit seine prozessuale Fürsorgepflicht wahr und gewährleistet einen ausreichenden Informationsstand der Verteidigung (vgl. BeckOK/Krawczyk StPO [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 145a Rn. 10). Die Regelung soll sicherstellen, dass der Verteidiger die nötigen Maßnahmen insbesondere zur Fristenkontrolle treffen kann, auch wenn ihn der Betroffene ihn nicht von sich aus benachrichtigt (vgl. MüKo/Kämpfer/Travers 2. Aufl. StPO § 145a Rn. 15). Insoweit ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut des § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO, dass der Verteidiger von der Zustellung an den Betroffenen zugleich zu unterrichten ist. Die Benachrichtigung soll also gleichzeitig mit der Zustellung zur Post gegeben werden (vgl. LR/Jahn a.a.O. § 145a Rn. 14). Eine darüberhinausgehende Verpflichtung des Gerichts, insbesondere die Unterrichtung des Verteidigers über den Zeitpunkt der Zustellung an den Betroffenen, welcher sich erst nach Eingang des Zustellungsnachweises bei Gericht feststellen lässt, beinhaltet die Vorschrift nicht. Die Pflicht zur Kontrolle der einzuhaltenden Fristen verbleibt bei dem bevollmächtigten Verteidiger (LR/Jahn a.a.O.), der sich erforderlichenfalls durch Rückfrage bei dem Betroffenen über den Zeitpunkt der Zustellung in Kenntnis setzen muss.

Der Wiedereinsetzungsantrag der Betroffenen ist nach alledem als unzulässig zu verwerfen.“

Gilt natürlich auch bei Zustellungen an den Beschuldigten.

Akteneinsicht III: Zweimal OLG zur (Akten) Einsicht, oder: Einsichtsort und gesamte Messreihe

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Und im dritten Posting dann mal wieder zwei OLG-Entscheidungen zur (Akten) Einsicht im Bußgeldverfahren – Stichwort: Messreihe, Token und so. Das sind:

Das Zugangsrecht des Verteidigers auf Messunterlagen erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen grundsätzlich nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen.

1. Der Betroffene hat keinen Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe.

2. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann aber grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang des Betroffenen zu nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen. Die begehrten Informationen müssen aber zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sein, damit sie dem Betroffenen zur Verfügung gestellt werden können.

In dem Zusammenhang: Man fragt sich, wo die Entscheidung des BVerfG in 2 BvR 1167/20 bleibt. Angekündigt ist sie ja schon länger- Jetzt hört man, dass es im Juni etwas werden soll. Hoffentlich im Juni 2023 🙂 .

Akteneinsicht II: Einsicht in die Handakten der GStA?, oder: Die Akten sind tabu

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.04.2023 – 2 VAs 4/23. Er behandelt eine Thematik, die immer mal wieder eine Rolle spielt. Nämlich die Frage der Akteneinsicht in die Handakten der GStA (oder der Senatshefte der Revisionsgerichte).

Die – so das OLG Karlsruhe – gibt es nicht:

„1. Soweit der Antragsteller die Verpflichtung der Generalstaatsanwaltschaft begehrt, seinem Verteidiger Einsicht in die Akten der Generalstaatsanwaltschaft – 35 AR 437/23 – zu gewähren, erweist sich der Antrag jedenfalls als unbegründet.

a) Der Senat lässt offen, ob für ein solches Begehren der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet ist. Ob der Antrag deshalb unzulässig ist, weil er nicht innerhalb der Monatsfrist des § 26 Abs. 1 EGGVG, die spätestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft am 31.01.2023 zu laufen begann, beim Oberlandesgericht einging, erscheint deshalb fraglich, weil der Antragsteller seitens der Generalstaatsanwaltschaft nicht auf etwaige Rechtsmittelmöglichkeiten hingewiesen worden war (§ 26 Abs. 2 S. 2 EGGVG).

b) Der Antrag ist aber jedenfalls unbegründet. Denn bei den Handakten der Generalstaatsanwaltschaft oder der Staatsanwaltschaft handelt es sich – ebenso wie bei Senatsheften der Revisionsgerichte – um rein innerdienstliche Akten, die vom Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 StPO nicht umfasst sind (vgl. Kämpfer/Travers in MüKo StPO, 2. Aufl. 2023, § 147 Rn. 17; Willnow in KK StPO, 9. Aufl. 2023, § 147 Rn. 8; Wessing in BeckOK StPO, 46. Ed., Stand 01.01.2023, § 147 Rn. 20 – jeweils m.w.N.; BGH NStZ 2001, 551 betr. Senatshefte des BGH; s.a. VG Würzburg, Urteil vom 17.09.2021 – W 10 K 20.1059 -, BeckRS 2021, 40158 betr. Handakten der Bußgeld- und Strafsachenstelle oder der Steuerfahndungsstelle). Ein Anspruch auf Einsicht in derartige innerdienstliche Akten würde zu einer Umgehung von § 147 StPO führen. Diese Norm regelt das Akteneinsichtsrecht im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens und vermittelt ein Einsichtsrecht nur in solche Akten, die dem Gericht vorliegen oder im Falle einer Anklageerhebung vorzulegen wären. Die Handakten der Staatsanwaltschaft, auch der Generalstaatsanwaltschaft, die ohnehin nur im Rahmen der Dienstaufsicht mit den Entscheidungen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren befasst ist, sind ebenso wie sonstige rein innerdienstliche Unterlagen, wie polizeiliche Arbeitsvermerke, Senatshefte, Hilfsdateien, Notizen oder rein formeller Schriftverkehr mit fremden Behörden, von der Vorlagepflicht nicht betroffen (vgl. VG Würzburg, a.a.O.).

Soweit der Antragsteller in seiner Stellungnahme vom 18.04.2023 über seinen ursprünglichen Antrag hinaus eine Vervollständigung der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft F. durch die Generalstaatsanwaltschaft aus ihrer Handakte begehrt, ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG bereits nicht eröffnet.

Über die Gewährung von Akteneinsicht entscheidet gemäß § 147 Abs. 5 StPO im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft. Die Gewährung vollständiger Akteneinsicht beinhaltet auch die mögliche Verpflichtung zur Herbeischaffung existenter, eventuell noch nicht bei den Akten befindlicher Unterlagen, soweit sie für die Beurteilung der Schuld – oder Rechtsfolgenfrage von Relevanz sein können (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 10.06.1980 – 1 VAs 60/79 -, BeckRS 1980, 3949; Kämpfers/Travers in MüKo StPO, a.a.O. § 147 Rn. 12 u. 13; vgl. auch BGH NStZ 2022, 561). Ob sich derartige Unterlagen, die für die Beurteilung der Schuld- oder Rechtsfolgenfrage in den genannten Ermittlungsverfahren in den Handakten der Generalstaatsanwaltschaft befinden, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Ein entsprechender Antrag auf Aktenerweiterung ist zunächst bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, vorliegend der Staatsanwaltschaft F., zu stellen. Rechtsschutz gegen deren Entscheidung ist danach – ggf. in analoger Anwendung – nur über § 147 Abs. 5 StPO zu erlangen. Für einen (zusätzlichen) Rechtsschutz nach §§ 23 ff. EGGVG ist darüber hinaus – wegen des Grundsatzes des Subsidiarität – kein Raum.“

Ähnlich OLG Hamm, Beschl. v. 05.08.2004 – 2 Ws 200/04 für Mitschriften der Berufsrichter aus der Hauptverhandlung.

Akteneinsicht I: Ermittlungsakten im Zivilverfahren, oder: Wann und wie sind sie beizuziehen?

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Und heute dann ein Tag mit Entscheidungen zu Akten und/oder Akteneinsicht.

Zunächst eine zivilrechtliche Entscheidung, nämlich das BGH, Urt. v. 16.03.2023 – III ZR 104/21. Folgender Sachverhalt: Der Kläger hatte einen Motorradunfall erlitten und lag im Krankenhaus. Er bat seine Freundin, die Beklagate, ihm Geld von seinem Konto abzuheben. Dazu gab er ihr seine Bankkarte und teilte ihr seine PIN mit. Die Beklagte hat dann 1.500 EUR abgehoben und diese dem Kläger übergeben. In den folgenden fünf Monaten erfolgten 49 weitere Abhebungen vom Konto des Klägers in Höhe von insgesamt rund 43.500 EUR.

Der Kläger erstattete Strafanzeige gegen die Beklagte. Im Ermittlungsverfahren holte die Staatsanwaltschaft Bankauskünfte ein und legte einen Sonderband „Bankauskunft“ an. Der Kläger hat Einsicht in diesen Band abgelehnt. Das Strafverfahren gegen die Beklagte ist nach 3 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

Der Kläger verlangt von der Beklagten die Erstattung von insgesamt 46.500 EUR und die Feststellung, dass die Forderung auf vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung im Sinne des § 302 Nr. 1 InsO beruht. Der Kläger behauptet, die Beklagte habe an Geldautomaten von seinem Postbankkonto mit seiner Bankkarte und seiner PIN Beträge in der genannten Gesamthöhe unberechtigt abgehoben und behalten. Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat dem Kläger 12.000 EUR zugesprochen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Der Sondeband „Bankauskunft2 ist nicht (mehr) beigezogen worden.

Das rügt der BGH, der aufgehoben und zurückverwiesen hat:

„Diese Ausführungen halten revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Dass das Berufungsgericht den „Sonderband Bankauskunft“ bei der Staatsanwaltschaft Regensburg nicht beigezogen und verwertet hat, verletzt in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG als grundrechtsgleiches Recht soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (stRspr, zB Senat, Beschluss vom 7. Juni 2018 – III ZR 210/17, WM 2018, 1252 Rn. 4; BGH, Beschlüsse vom 2. November 2021 – IX ZR 39/20, NJW-RR 2022, 69 Rn. 5 und vom 11. Januar 2022 – VIII ZR 33/20, WM 2022, 347 Rn. 13 f; jew. mwN). Das ist hier der Fall.

b) Das Berufungsgericht hat es mit Recht als erheblich angesehen, ob und in welchem Umfang beziehungsweise wie oft die Beklagte unberechtigte Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers an Geldautomaten vornahm, wofür der Kläger die Darlegungs- und Beweislast zu tragen hat. Es hat jedoch den den formalen Anforderungen der §§ 430, 432 ZPO genügenden Beweisantrag des Klägers vom 26. Juni 2020 (GA 231), den „Sonderband Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft beizuziehen, in dem sich Auszüge der Konten der Beklagten und ihres Sohnes für den Zeitraum von November 2014 bis Mai 2015 befinden, mit einer Begründung abgelehnt, die im Prozessrecht keine Stütze mehr findet.

aa) Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 12. November 2021 – 1 BvR 576/19, juris Rn. 9). Die Beiziehung der Akten ist zulässig, wenn und soweit sich eine Partei unter Angabe der erheblichen Aktenteile auf diese Akten bezogen hat (vgl. BVerfG, NJW 2014, 1581 Rn. 22; BGH, Urteil vom 12. November 2003 – XII ZR 109/01, NJW 2004, 1324, 1325). § 474 Abs. 1 StPO legt die Gewährung von Akteneinsicht an Gerichte als Regelfall fest; nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. Regierungsentwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1999, BT-Drucks. 14/1484, S. 26) ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren (vgl. OLG Hamm, BB 2014, 526, 527 und 529). Grundrechte der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, stehen der Aktenbeiziehung und der Einsichtnahme in die beigezogene Akte durch die Gerichte in aller Regel nicht entgegen. Diesen Grundrechten kann vielmehr dadurch Rechnung getragen werden, dass im konkreten Fall das Gericht nach Erhalt der angeforderten Ermittlungs- oder Strafakte unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der anderen Partei und gegebenenfalls Dritter abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können (vgl. BVerfG aaO Rn. 24 ff und 29); der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken (vgl. BVerfG, NJW 2007, 1052).

bb) Ausgeschlossen ist ein Beweisantritt nach § 432 Abs. 1 ZPO nach Absatz 2 der Vorschrift, wenn der Beweisführer die Urkunde nach den gesetzlichen Vorschriften ohne Mitwirkung des Gerichts zu beschaffen imstande ist. Dieser Ausschlusstatbestand ist jedoch nicht erfüllt. Der Kläger hatte einen Antrag auf Einsichtnahme in den Sonderband „Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Regensburg gestellt, der von dieser zurückgewiesen wurde. Hiergegen stellte der Kläger Antrag auf gerichtliche Entscheidung zum Amtsgericht Regensburg, den dieses mit der (Haupt-)Begründung zurückwies, die Einsicht in den Sonderband sei zur Durchsetzung der Interessen des Klägers nicht erforderlich.

Dahinstehen kann, ob sich auch aus Absatz 3 der Vorschrift ein Ausschlusstatbestand ergeben kann (dafür zB Feskorn in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 432 Rn. 2; Huber in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl., § 432 Rn. 4; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl., § 432 Rn. 1; Krafka in BeckOK-ZPO [1. Dezember 2022], § 432 Rn. 3; Förster in Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl., § 432 Rn. 2; dagegen zB Ahrens in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 432 Rn. 2; Preuß in Prütting/Gehrlein, ZPO, 14. Aufl., § 432 Rn. 2). Denn dass ein materiell-rechtlicher Vorlegungsanspruch „gegen die Behörde“ besteht, wie es nach § 432 Abs. 3 ZPO erforderlich ist (Förster aaO; Ahrens aaO), ist nicht auszumachen, und zudem hat der Kläger eine Verpflichtung zur Vorlegung nicht auf § 422 ZPO gestützt.

cc) Somit bestehen grundsätzlich keine Hindernisse für eine Aktenbeiziehung nach § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO; der vorstehend unter Buchstaben aa beschriebene Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist eröffnet. Dass die Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO im Verhältnis zur Beklagten nicht vorliegen, ist ohne Belang.

Die demgegenüber vom Berufungsgericht – und soweit ersichtlich von niemandem sonst – vertretene Auffassung, die Vorschriften der §§ 422 f ZPO würden umgangen, wenn die Staatsanwaltschaft unabhängig von den Voraussetzungen dieser Bestimmungen zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen durch das Zivilgericht aufgefordert werden könnte, weswegen die beantragte Anforderung des „Sonderbandes Bankauskunft“ abzulehnen sei, findet im Prozessrecht keine Stütze. Die Beschränkung der Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten Partei auf die Fälle der §§ 422 f ZPO ist Folge der Beweisführungslast ihres Gegners. Wäre die diese Last nicht tragende Partei gezwungen, ohne die besonderen Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO in ihrem Besitz befindliche Urkunden vorzulegen, würde die Beweisführungslast zu ihrem Nachteil verkehrt, denn es besteht der Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem beweis(führungs)belasteten Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juni 1990 – II ZR 159/89, VersR 1990, 1254, 1255 und vom 17. Oktober 1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128, 129; siehe auch Schreiber in MüKo-ZPO, 6. Aufl., § 422 Rn. 1). Diese Erwägung trifft jedoch nicht zu im Verhältnis zu Dritten, die sich im Besitz einer Urkunde befinden. Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gemäß § 429 Satz 1 Halbsatz 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist deshalb allein, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.

c) Die (einschränkungslose) Ablehnung des Beweisantrags (GA 231) erweist sich auch nicht als richtig, weil ihm mangels durchgreifenden rechtlichen Interesses des Klägers keine Folge zu leisten wäre.

Da der Kläger vor Gericht zivilrechtliche Ansprüche gegen die Beklagte geltend macht, hat er grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der Erlangung der mit der Aktenbeiziehung hierfür verfolgten Informationen (vgl. LG Kassel, NZV 2003, 437). Dem Grundrecht der Beklagten und ihres Sohnes auf informationelle Selbstbestimmung kann im konkreten Fall etwa dadurch Rechnung getragen werden, dass die Einsichtnahme des Klägers in den Sonderband der Ermittlungsakte nach Maßgabe der obigen Ausführungen zu Buchstaben b aa auf (etwaige) zwischen dem 15. November 2014 und dem 31. Mai 2015 vorgenommene Einzahlungen auf die im Beweisantrag (GA 231) genannten Konten beschränkt und die Ermittlungsakte nur in diesem Umfang im vorliegenden Zivilverfahren verwertet wird.

Das rechtliche Interesse des Klägers kann nicht damit in Abrede gestellt werden, dass bloße Ausforschung betrieben würde beziehungsweise eine von vornherein aussichtslose Klage vorläge (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2015 – KVR 55/14, NJW 2015, 3648 Rn. 32). Denn das Berufungsgericht hat es bereits nach dem seinerzeitigen Sach- und Streitstand schon „für nicht unwahrscheinlich“ gehalten, „dass die Beklagte in der Zeit vom 15.11.2014 bis 19.04.2015 mehr Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers vorgenommen hat, als sie im Zivilverfahren zugibt“.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Akte ist unauffindbar, was kann/muss ich tun?

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Und dann die Lösung zum „Rätsel“ zur Freitagsfrage: Ich habe da mal eine Frage: Akte ist unauffindbar, was kann/muss ich tun?

Ich hatte dem Kollegen wie folgt geantwort:

„Moin,

m.E. sollten Sie  sich an den Behördenleiter wenden, auf den Sachverhalt hinweisen und gezielt fragen, ob und was hinsichtlich der Rekonstruktion der Alte bereits unternommen worden ist.

Außerdem sollten sie sofort nach § 198 GVG vorgehen.

Im Ergebnis ist das natürlich nicht Ihr Nachteil, wenn die Akte nicht mehr auffindbar ist. Ihre Vergütung müssen Sie bekommen. „