Archiv für den Monat: Mai 2023

Verkehrsrecht III: Teures Zufahren auf zwei Politessen, oder: Widerstand gegen eine Anhalteanordnung

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Und als dritte Entscheidung dann der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 02.03.2023 – 1 ORbs 35 Ss 57/23. Es handelt sich allerdings nicht um eine „unmittelbare“ verkehrsstrafrechtliche Entscheidung, aber das Geschehen, das dem Beschluss zugrunde liegt, hat seinen Ausgang im Verkehrsrecht. Es geht nämlich um Widerstand (§§ 113, 114 StGB) gegen eine (verkehrsrechtliche) Anhalteanordnung von zwei Politessen.

Das AG hat den Angeklagten wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte gem. § 114 Abs. 1 StGB verurteilt. Die Zeuginnen P. und K., Angehörige des städtischen Gemeindevollzugsdienstes, hatten festgestellt, dass ein Pkw widerrechtlich in einer Brandschutzzone abgestellt war. Daraufhin „tippten“ sie eine Verwarnung, führten eine Halteranfrage durch und ordneten an, dass das Fahrzeug abzuschleppen sei. In der Folge erschien das Ehepaar C. vor Ort. Frau C. öffnete die Fahrzeugtür, nahm auf dem Fahrersitz Platz und wollte wegfahren, was die Zeuginnen P. und K. unterbanden. „Aus dem Nichts“ erschien nun der Angeklagte, zog Frau C. aus dem Fahrzeug und fuhr mit aufheulendem Motor los, obwohl die Zeuginnen ihn lautstark („Stopp, Halt!“) und mit Handzeichen zum Stehenbleiben aufforderten.

Mit ihrer Anordnung wollten die Zeuginnen die Personalien aller Beteiligten erheben, die Verantwortlichkeit für das Abstellen des Pkw in der Brandschutzzone klären und vor Ort mit diesen und dem Abschleppunternehmer die Kostentragung regeln. Der Angeklagte fuhr die Anhalteanordnung wahrnehmend, aber ignorierend, auf die sich in einer Entfernung von ungefähr drei bis vier Meter vor dem Fahrzeug befindliche Zeugin P. zügig zu, um diese „am Vollzug der Maßnahme“ zu hindern. Die Zeugin P. musste zur Seite springen, um nicht von dem sich von der Örtlichkeit entfernenden Fahrzeug erfasst zu werden.

Das OLG hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen:

„2. Der Angeklagte hat somit der Anordnung der Zeuginnen, das Fahrzeug anzuhalten und an der Örtlichkeit zu verbleiben, mit Gewalt Widerstand geleistet.

a) Bei den Zeuginnen handelt es sich um Amtsträgerinnen gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 b) StGB, die nach § 125 BWPolizeiG i.V.m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 a) DVOPolG und § 25 BWLVwVG berechtigt waren, im Wege der Ersatzvornahme das Abschleppen des in einer Brandschutzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs anzuordnen und die unmittelbare Ausführung dieser Maßnahme zu veranlassen.

b) Bei der gegenüber dem Angeklagten getroffenen Verhaltensanordnung durch den Ruf „Stopp, Halt!“ handelt es sich um einen wirksamen, nicht offensichtlich rechtswidrigen mündlichen Verwaltungsakt, dem der Angeklagte Folge zu leisten hatte. Der Einwand der Revision, der Angeklagte habe durch das Wegfahren des Pkw die Störung beseitigt, weshalb es weder angemessen noch erforderlich gewesen sei, diesen hieran zu hindern, verfängt nicht. Der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung im Rahmen von § 113 Abs. 3 StGB ist nach der Rechtsprechung der sog. strafrechtliche Rechtsmäßigkeitsbegriff zu Grunde zu legen (zuletzt BGHSt 60, 258 = NJW 2015, 3109 m.w.N.; bestätigt von BVerfG NVwZ 2007, 1180). Es kommt nur darauf an, dass die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Hoheitsträgers gegeben sind, er also örtlich und sachlich zuständig ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der ihm gegebenenfalls eingeräumtes Ermessen pflichtgemäß ausübt. Die Grenzen der Pflicht zur Duldung einer nach den maßgeblichen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme sind dort erreicht, wo diese mit dem Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) schlechthin unvereinbar sind (BVerfG NJW 1991, 3023; BGHSt 4, 161 [164] = NJW 1953, 1032).

c) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe haben die Zeuginnen P. und K. ihre an den Angeklagten gerichtete Anordnung unter pflichtgemäßer Würdigung der tatsächlichen Eingriffsvoraussetzungen getroffen: Die zur Klärung der Verantwortlichkeiten für den Ordnungsverstoß und für die Pflicht zur Kostentragung für die Ersatzvornahme (Anfahrt des Abschleppdienstes, vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.06.2002 – 1 S 1531/01) notwendigen Ermittlungen waren Bestandteil der im Rahmen des Aufgabenbereichs der Zeuginnen zu treffenden Ordnungsmaßnahmen. Zum einen stand für diese die „Rolle“ des Angeklagten (Fahrer, Halter oder Unbeteiligter) noch nicht fest. Im Übrigen widerspricht es auch nicht pflichtgemäßer Ermessensausübung, vor Ort die Kostentragung für die (sich erledigende) Abschleppmaßnahme zu klären, etwa durch Herbeiführung einer Einigung des Kostenpflichtigen mit dem Abschleppunternehmer, wodurch sich ein Heranziehungsbescheid der Behörde erledigt.

d) Indem der Angeklagte auf die in einer Entfernung von 3-4 Metern vor ihm stehende Zeugin P. zügig zufuhr, so dass diese zur Seite springen musste, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, hat er zur Verhinderung oder Erschwerung der Diensthandlung gegen diese materielle Zwangsmittel angewandt (vgl. BGH Beschluss vom 9.11.2022 – 4 StR 272/22, BeckRS 2022, 35746 m.w.N; Rosenau in LK-StGB, 13. Aufl. Rn. 23 m.w.N.), zugleich – tateinheitlich – mit feindseligem Willen unmittelbar auf deren Körper in einer Weise eingewirkt und sie somit bei ihrer Diensthandlung i. S. v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich angegriffen (BGH Beschluss vom 13.05.2020 – 4 StR 607/19, BeckRS 2020,13163, Beschluss vom 11.06.2020 – 5 StR 157/20, BeckRS 2020, 13939; OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2019 – 4 RVs 9/19BeckRS 2019, 3129; Fischer, StGB. 70. Aufl. § 114 Rn. 5), wobei eine körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters nicht erforderlich ist (BGHSt 65, 36 = BeckRS 2020, 13939; OLG Dresden, Urt. v. 02.09.2022 – 1 OLG 26 Ss 40/22, BeckRS 2022, 34595; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl., § 114 Rdn. 4).“

„Teuer“ insofern, weil die Aktion den Angeklagten sechs Monate auf Bewährung „gekostet“ hat.

Verkehrsrecht II: Vorläufige Entziehung nach Berufung, oder: Die Annahme einer „Retourkutsche“ liegt nahe

entnommen openclipart.org

Und als zweite verkehrsstrafrechtliche Entscheidung dann etwas zur (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB i.V.m. § 111a StPO).

Folgender Sachverhalt: Das AG hat den Angeklagten durch Urteil vom 17.01.2023 des unerlaubten Entfernens vom Unfallort für schuldig gesprochen. Es hat ihn verwarnt und ihn angewiesen, am nächsten Fahrsicherheitstraining teilzunehmen. Es hat ihm außerdem aufgegeben, einen Geldbuße in Höhe von 300,-EUR zu zahlen. Zudem entzog es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis und zog dessen Führerschein ein.

Das AG-Urteil hat festgestellt, dass der Angeklagten am Abend des 11.06.2022 auf einem Fest Alkohol in nicht mehr bestimmbarer Menge konsumiert hatte. Am 12.06.2022 trat er vor 01:00 Uhr zusammen mit einem Freund und einer Freundin den Heimweg an. Auf dem Heimweg steuerte zunächst der Freund den Pkw des Angeklagten, nach einem Fahrerwechsel steurte der Angeklagte selbst. Dabei verlor er wegen überhöhter Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug und stieß gegen drei am Fahrbahnrand geparkte Fahrzeuge. Durch die jeweiligen Kollisionen entstand an den drei Fahrzeugen Schäden. Das AG hat den insgesamt entstandenen Schaden an den drei Fahrzeugen auf mindestens 7.000,- EUR geschätzt.

Obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkte, verließ er mit seinemFahrzeug die Unfallstelle. Er stellte das Fahrzeug etwa 500 Meter entfernt von der Unfallstelle an einem Feldwegrand ab, entfernte die Kennzeichen, verschloss den Wagen und begab sich mit der Bahn nach Hause. Eine am 12.06.2022 um 04:20 Uhr durchgeführte Atemalkoholprüfung ergab einen Wert von 0,70 Promille beim Angeklagten.

Der Angeklagte hat gegen seine Verurteilung Rechtsmittel eingelegt. Daraufhin hörte das AG ihn mit Schreiben vom 24.01.2023 zur beabsichtigen vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis an. Die Staatsanwaltschaft hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das AG hat dann dem Angeklagten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass die Anordnung nach § 111a StPO bis zur Rechtskraft des Urteils zulässig sei. Es handle sich um eine Ermessensentscheidung. Im Vorfeld der Hauptverhandlung habe das Gericht hiervon keinen Gebrauch gemacht, da absehbar gewesen sei, dass zeitnah verhandelt werden würde und einer Entscheidung im Hauptverfahren Vorrang eingeräumt worden sei. Nachdem nunmehr für das Gericht die Verwirklichung des Tatbestandes, der die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen indiziere, zweifelsfrei feststehe, sei nach Eingang des Rechtsmittels eine Anordnung nach § 111a StPO unerlässlich.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG mit dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 13.03.2023 – 5/3 Qs 8/23 – Erfolg hatte:

„Die Beschwerde ist nach §§ 304, 305 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Mangels Vorlage der Akten an das Berufungsgericht nach § 321 StPO ist die Kammer auch als Beschwerdekammer für die unerledigte Beschwerde zuständig.

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Nach § 111a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Fahrerlaubnis im Urteil entzogen werden wird (§ 69 StGB). Die Fahrerlaubnis wird nach § 69 Abs. 1 StGB entzogen, wenn jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt wird, wenn sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.

Die Prüfungskompetenz der Beschwerdekammer ist in Fällen, in denen die Beschwerde eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis betrifft, die mit einem erstinstanzlichen Urteil erfolgt ist, eingeschränkt. Das Beschwerdegericht darf den erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt bei der Frage der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nicht anders würdigen als der frühere Richter im Urteil. Denn das Tatgericht verfügt aufgrund der durchgeführten Hauptverhandlung über eine größere Sachkenntnis und bessere Erkenntnismöglichkeiten als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann. Dies bedeutet aber nicht, dass das gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel in einem solchen Fall leer läuft. So ist eine Abweichung von der erstinstanzlichen Beurteilung insbesondere dann veranlasst, wenn nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung neue Umstände entstanden sind, wenn die erstinstanzlichen Feststellungen offensichtlich fehlerhaft sind, oder wenn die erstinstanzliche Bewertung der Eignungsfrage rechtsfehlerhaft ist (LG Berlin Beschl. v. 16.12.2011 — 517 Qs 142/11, BeckRS 2012, 1174 m.w.N.). Hierzu ist ferner auch die Frage zu zählen, ob die vorläufige Entziehung wegen Zeitablaufes unverhältnismäßig ist und das Tatgericht daher an einer vorläufigen Entziehung gehindert war.

Bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis handelt es sich um eine eilige vorbeugende Maßnahme, die die Allgemeinheit bereits vor Urteilserlass vor den Gefahren schützen sollen, die von einem ungeeigneten Kraftfahrer ausgehen (Huber, in: BeckOK StPO, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 111a Rn. 1). Mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis gehen daher erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits sowie dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits einher (vgl. Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, StPO § 111a Rn. 3).

Nach ständiger, gerichtsbekannter Rechtsprechung der 9. Strafkammer des Landgerichts Frankfurts, die für Beschwerden gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erwachsenen im Landgerichtsbezirk ausschließlich zuständig ist, ist eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dabei nach Ablauf von 6 Monaten im Regelfall unverhältnismäßig. Die Kammer tritt dieser Auffassung bei, da sie nicht nur klare und seit Jahren im hiesigen Bezirk etablierte Orientierung, sondern auch noch hinreichend Raum dafür lässt, die Sicherheitsbelange der Allgemeinheit und die weiteren Umstände des Einzelfalls, namentlich die Gründe des eingetretenen Zeitablaufs, in den Blick zu nehmen (hierzu: Hauschild, in MüKoStPO, 2. Aufl. 2023, StPO § 111a Rn. 17).

Die vom Amtsgericht durch das erstinstanzliche Urteil festgestellte Anlasstat erfolgte bereits am 12.06.2022, so dass bis zur vorläufigen Entziehung durch Beschluss vom 31.01.2023 über 7 Monate verstrichen sind. Es liegen keinerlei Erkenntnisse dafür vor, dass der Beschwerdeführer seither nochmals im Straßenverkehr aufgefallen ist. Vielmehr wurde sein zeitweise sichergestelltes Fahrzeug am 05.07.2022 durch die Staatsanwaltschaft freigegeben, die auch hiernach über Monate keinen Antrag nach § 111a StPO stellte. Der Beschwerdeführer hatte seither und bis zur Zustellung des angefochtenen Beschlusses die Möglichkeit der Teilnahme am Straßenverkehr, ohne dass zwischenzeitlich erneute verkehrsrechtliche Verstöße bekannt wurden. Wenn ein Beschuldigter indes nicht zeitnah nach Bekanntwerden der Tat daran gehindert wird, mit einem von ihm geführten Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilzunehmen, so ist eine Entscheidung über die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis abzuwarten, zumal diese vorliegend auch in Gestalt des erstinstanzlichen – wenn auch nicht rechtskräftigen – Urteils erging, ohne dass zugleich mit dem Urteil die vorläufige Entziehung angeordnet wurde. Es ist ohne neuerliche Verkehrsauffälligkeiten aufgrund des Zeitablaufs insoweit kein Raum mehr für eilige vorbeugende Maßnahme zum Schutze der Allgemeinheit nach § 111a StPO. Ein zur Schwere des Eingriffs in Verhältnis stehendes Eilbedürfnis kann nunmehr nicht mehr erkannt werden, zumal in Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende eine besonders sorgfältige und einzelfallorientierte Prüfung für erforderlich erachtet wird (Huber, in: BeckOK StPO, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 111a Rn. 3).

Die anderweitige Argumentation des Amtsgerichts vermag jedenfalls im hiesigen Fall nicht zu überzeugen. Zwar ist es im Grundsatz zutreffend, dass eine vorläufige Entziehung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens möglich ist. Wenn hiermit indes bei einem zur Tatzeit noch Heranwachsenden über 7 Monate und bis zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen das erstinstanzliche Urteil zugewartet wird, dann lässt sich mit Blick hierauf und durch die seither bestehende Unauffälligkeit des Betroffenen kein hinreichendes Eil- und Sicherungsbedürfnis mehr begründen, das die vorläufige Entziehung noch verhältnismäßig erscheinen lässt. Eine andere Beurteilung rechtfertigt vorliegend auch die Schwere der erstinstanzlich festgestellten Tat oder ein vermeintliches Vorrangverhältnis einer Klärung im Hauptverfahren nicht. Es sind vorliegend auch keine Gründe aus der Sphäre des Beschwerdeführers ersichtlich, die hier den Zeitablauf bedingt haben könnten und eine andere Beurteilung rechtfertigen.“

Das LG begründet m.E. recht „vornehm“, warum die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht – mehr – zulässig war. Denn man hätte auch etwas dazu sagen können, dass die amtsgerichtliche Entscheidung schon den „Beigeschmack“ einer „Retourkutsche“ = Antwort auf die Berufungseinlegung hatte. Denn, wenn nicht biw zum Urteil und dann im Urteil entzogen wurde, fragt man sich schon, warum dann nach der Berufungseinlegung.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin Bender-Paukens geschickt. Ja, das ist die Kollegin, die die schöne Werbung für meine Handbücher gemacht hat (vgl. hier: Wenn „Staatsanwältinnen“ Werbung machen, oder: „Das Strafverfahren steht Kopf“). Sie kann also nicht nur „Staatsanwältin“ 🙂 .

 

Verkehrsrecht I: Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge, oder: Zweite BGH-Aufhebung im Moerser-Rennenfall

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Und heute dann hier ein „Verkehrsrechtstag“.

Den beginne ich mit dem BGH, Urt. v. 16.02.2023 – 4 StR 211/22. Die Entscheidung hat mal wieder ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen (§ 315d StGB) zum Gegenstand. Der BGH hat sich zu dem Fall übrigens nicht das erste Mal geäußert, sondern es ist bereits das zweite Mal, dass er etwas dazu sagt. Das erste mal hat er im BGH, Beschl. v. 18.02.2021 – 4 StR 266/20 – etwas zur Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Tötungsvorsatz durch wertende Gesamtschau beim verbotenes Kraftfahrzeugrennen gesagt. Er hatte in dem Beschluss ein Urteil des LG Kleve, das den Angeklagten wegen Mordes verurteilt hatte, aufgehoben und zurückverwiesen.

Das LG hat nun den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge ver­urteilt (§ 315d Abs. 2 StGB). Grundlage waren folgende Feststellungen: Der Angeklagte hatte mit dem früheren Mitangeklagten ein Kraftfahrzeugren­nen durch das Stadtgebiet von Moers verabredet. Er führte einen Pkw Mercedes AMG E63 S mit 612 PS, der frühere Mitangeklagte einen PKW Jaguar Range Rover Sport mit 528 PS. Nach Passieren von der späteren Unfallstelle ca. 226 Meter entfernter Bahngleise lenkte der Angeklagte sein Fahrzeug in Umsetzung der Rennabrede auf die Gegenfahrspur und beschleunigte maximal auf 160 km/h.. Kurz darauf nahm er wahr, dass die Geschädigte mit ihrem PKW aus seiner Sicht von links aus einer Seitenstraße  kommend in Fahrtrichtung des Ange­klagten einbog. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, leitete der weiterhin die Gegenfahrspur mit einer Geschwindigkeit von nunmehr 167 km/h befahrende Angeklagte eine Vollbremsung ein. Zugleich versuchte er, dem PKW der Geschädigten auszuweichen. Gleichwohl konnte er eine Kollision nicht vermeiden und fuhr mit einer Ge­schwindigkeit von noch 105 km/h auf das Heck des Fahrzeugs der Geschädigten auf. Diese erlitt tödliche Verletzungen.

Die Revision der StA hat erneut zur Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen zur subjektiven Tatseite geführt:

„2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in ihrem beschränkten Anfechtungsumfang Erfolg. Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz verneint hat, halten auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 16 f.; Urteil vom 5. Dezember 2017 ? 1 StR 416/17, NStZ 2018, 206, 207) einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 18. Februar 2021 ? 4 StR 266/20; Urteil vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 22; Urteil vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 17).

Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 ? 4 StR 403/20 Rn. 16; Urteil vom 7. Juli 2016 ? 4 StR 558/15 Rn. 14 mwN).

b) Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz verneint hat, sind im Ergebnis nicht tragfähig. Zwar sind sie entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht durchgreifend lückenhaft (aa)). Sie stehen aber in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu den Ausführungen, mit denen das Landgericht seine Überzeugung vom Vorliegen bedingten Gefährdungsvorsatzes im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB begründet hat (bb)). Im Einzelnen:

aa) Entgegen der Auffassung der Revision weisen die Beweiserwägungen zur voluntativen Seite des bedingten Tötungsvorsatzes für sich genommen keine einen Rechtsfehler begründende Lücke auf. Das Landgericht war nicht gehalten, als ein auf bedingten Tötungsvorsatz hindeutendes Indiz ausdrücklich in seine Gesamtwürdigung einzustellen, dass der Angeklagte sein Fahrzeug nach dem Überholen seines Kontrahenten nicht sofort auf die rechte Fahrspur zurücklenkte, sondern seine Fahrt auf der Gegenfahrspur fortsetzte. Denn es ist nicht festgestellt, dass ? wovon die Revision ausgeht ? der Angeklagte die Gegenfahrspur noch zu einem Zeitpunkt befuhr, zu dem ihm ein gefahrloses Überwechseln auf die rechte Fahrspur bereits möglich war. Zwar hat das sachverständig beratene Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug bereits einen „deutlichen Vorsprung“ gegenüber dem PKW Range Rover erzielt hatte, bevor es zu dem Unfall kam. Es hat jedoch keine Feststellungen zu treffen vermocht, nach welcher Wegstrecke der Angeklagte mit seinem höher motorisierten Fahrzeug seinen Kontrahenten überholt hatte und ab wann ihm ein gefahrloses Wiedereinscheren auf die rechte Fahrbahn möglich war. Angesichts dieses sowie des weiteren Umstands, dass das Rennen bis zur späteren Kollision nur fünf Sekunden dauerte, liegt es nicht nahe, dass der Angeklagte nach erfolgreichem Überholen seines Gegners ein risikoverminderndes Verhalten unterlassen hat, das als ein auf einen bedingten Tötungsvorsatz hindeutendes Indiz ausdrücklicher Erörterung bedurfte.

bb) Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz verneint hat, stehen aber in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu den Ausführungen, mit denen es an anderer Stelle die Annahme bedingten Gefährdungsvorsatzes im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB begründet hat. Dies nötigt zur Aufhebung des Urteils.

Das Landgericht hat das Wissenselement des bedingten Tötungsvorsatzes mit der Begründung bejaht, dem Angeklagten sei klar gewesen, dass er sein Fahrzeug innerhalb einer geschlossenen Ortschaft im Bereich eines Wohngebiets maximal beschleunigen und die Gegenfahrspur befahren werde; ihm sei weiterhin bewusst gewesen, dass andere Verkehrsteilnehmer jederzeit aus den angrenzenden Straßen einfahren, er mit ihnen kollidieren und eine solche Kollision zu ihrem Tod führen könnte. Das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes hat das Landgericht mit der Begründung verneint, der Angeklagte habe trotz objektiv hoher Gefährlichkeit der Tathandlung darauf vertraut, dass es nicht zu einem Unfall und zur Tötung anderer Verkehrsteilnehmer kommen werde; aufgrund des Umstands, dass es sich bei der von ihm befahrenen Straße um eine gut ausgebaute Vorfahrtsstraße handelte, das Rennen nach seiner Vorstellung nicht lange dauern und er den Range Rover rasch überholen werde, habe er nicht ausschließbar darauf vertraut, dass andere Verkehrsteilnehmer seine Vorfahrt beachten oder „grundsätzlich, wenn auch eingeschränkt, in der Lage sein würden, sein äußerst riskantes Fahrverhalten und das seines Kontrahenten zu erkennen und sich auf die hieraus ergebende Gefahrenlage einzustellen“; er habe darauf vertraut, dass es „letztlich nicht zu einem Zusammenstoß“ kommen werde.

Zur Begründung des bedingten Gefährdungsvorsatzes im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB hat das Landgericht an anderer Stelle knapp, aber für sich genommen tragfähig ausgeführt, der Angeklagte habe insbesondere mit der Möglichkeit gerechnet, dass andere Verkehrsteilnehmer plötzlich aus angrenzenden Straßen auftauchen, in die Bi.      straße einbiegen und es in der Folge zu einem Zusammenstoß mit ihnen kommen könnte. Dies und die angesichts der gefahrenen Geschwindigkeit mit einer solchen Kollision verbundenen Folgen für die beteiligten Verkehrsteilnehmer habe er billigend in Kauf genommen, weil er die Überlegenheit des Fahrzeugs seiner Familie vor seinen Freunden habe demonstrieren und sein Ansehen mehren wollen.

Diese Ausführungen zum bedingten Gefährdungsvorsatz lassen sich nicht widerspruchsfrei mit den Erwägungen zum bedingten Tötungsvorsatz vereinbaren, wonach der Angeklagte darauf vertraut habe, dass es „letztlich nicht zu einem Zusammenstoß“ mit Fahrzeugen des Querverkehrs kommen werde. Weiterhin lassen die Urteilsgründe offen, aus welchen rational einsichtigen Gründen der Angeklagte angesichts dieses im Rahmen des Gefährdungsvorsatzes festgestellten Vorstellungsbildes einer möglichen Kollision seines Fahrzeugs mit seitlichem Querverkehr ernsthaft und tatsachenbasiert, nicht nur vage auf das Ausbleiben eines tödlichen Erfolgs vertraut haben könnte. Dies versteht sich nicht von selbst, sondern hätte eingehender Erörterung bedurft. Hieran fehlt es.

3. Die tatgerichtliche Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite ist damit auch zum Nachteil des Angeklagten rechtsfehlerhaft. Dies führt auf die Revision der Staatsanwaltschaft (vgl. § 301 StPO) zur Urteilsaufhebung, soweit der Angeklagte wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge (§ 315d Abs. 2 und Abs. 5 StGB) verurteilt worden ist.

a) Ein bedingter Gefährdungsvorsatz im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB liegt vor, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahr erfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage zumindest abfindet (vgl. BGH, Urteil vom 18. August 2022 ? 4 StR 377/21 Rn. 10; Beschluss vom 13. Januar 2016 ? 4 StR 532/15 Rn. 10; Beschluss vom 9. September 2014 ? 4 StR 365/14 Rn. 3; Urteil vom 24. Juli 1975 ? 4 StR 165/75, BGHSt 26, 176, 179; Urteil vom 15. Dezember 1967 ? 4 StR 441/67, BGHSt 22, 67, 73 ff.).

b) Gemessen hieran hat das Landgericht seine Überzeugung, dass der Angeklagte eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer für möglich gehalten hat, weil sie in die Bi.     straße einbiegen und mit seinem Fahrzeug kollidieren könnten, nicht tragfähig belegt. Das Landgericht hat das voluntative Element bedingten Tötungsvorsatzes mit der Begründung verneint, er habe auf das Ausbleiben einer Kollision mit dem Querverkehr vertraut; die Annahme bedingten Gefährdungsvorsatzes im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB hat es aber mit der Begründung bejaht, der Angeklagte habe mit einer Kollision mit Verkehrsteilnehmern gerechnet, die aus angrenzenden Straßen in die von ihm auf der Gegenfahrspur befahrene Vorfahrtsstraße einbiegen könnten. Diese auch unter Berücksichtigung des Zusammenhangs nicht miteinander zu vereinbarenden Ausführungen lassen auch die Annahme bedingten Gefährdungsvorsatzes als rechtsfehlerhaft erscheinen.

Zwar liegt die Annahme von Gefährdungsvorsatz im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB angesichts der vom Landgericht zu Recht angenommenen, anschaulichen Höchstgefährlichkeit des vom Angeklagten absprachegemäß durchgeführten Kraftfahrzeugrennens durch die Innenstadt von M.   , in dessen Verlauf er die Gegenfahrspur befuhr und ? wenn auch kurzfristig ? die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit um ein Mehrfaches überschritt, nahe. Den Urteilsgründen kann aber auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht eindeutig entnommen werden, welche konkreten Gefährdungsszenarien sich der Angeklagte vorstellte, die zwar nicht zu einer Kollision, aber doch zu einer Situation führten, die als Beinaheunfall (vgl. dazu im Einzelnen BGH, Urteil vom 18. August 2022 ? 4 StR 377/21 Rn. 9 mwN) beschrieben werden kann. Unter den hier gegebenen besonderen Umständen hätte das Landgericht jedoch im Einzelnen darlegen und tragfähig belegen müssen, welche Geschehensabläufe sich der Angeklagte vorgestellt hat, die zwar nicht zu einer Kollision mit anderen Verkehrsteilnehmern, aber zu einem Beinaheunfall in dem beschriebenen Sinne führen könnten. Hieran fehlt es.“

Also: Dritter „Rechtsgang“ und sicherlich danach dann auch zum dritten Mal beim BGH.

Lösung zu: Welche Gebühren, wenn Anklage zum LG, das LG aber beim AG eröffnet?

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Und dann die Lösung zur Gebührenfrage vom vergangenen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Welche Gebühren, wenn Anklage zum LG, das LG aber beim AG eröffnet?

So kurz wie die Frage war auch die Antwort:

„Nr. 4113 VV RVG

LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 02.09.2010 – 2 Qs 72/10

Steht auch so im Kommentar.“

Und wenn ich schon auf dem Kommentar verweise, dann aber auch richtig, also: <<Werbemodus an>>: Bestellen kann man Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, dann hier 🙂 <<Werbemodus aus>>.

Klima II: Widerstand durch Ankleben an eine Tür?, oder: Eine ohne Gewaltanwendung lösbare Verbindung

entnommen wikimedia commons Author Jan Hagelskamp1

Gegenstand des zweiten „Klimaposts“ ist mal wieder ein Beschluss vom LG Berlin, und zwar der LG Berlin, Beschl. v. 20.04.2023 – 503 Qs 2/23 – zur Frage, ob das „Ankleben“ als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) anzusehen ist.

Die Staatsanwaltschaft hat den Erlass eines Strafbefehls gegen die Beschuldigte beantragt. Sie wirftt ihr Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB vor. Die Beschuldigte soll am 19.05.2022 mit elf weiteren Personen an einer nicht angemeldeten Versammlung mit dem Themenbezug „Muttis gegen den Klimawandel“ teilgenommen und sich – um zusätzliche Aufmerksamkeit zu erzeugen – ebenso wie vier weitere Personen mit einer Handfläche an die Scheibe der Eingangstür einer Deutschen Bank Filiale in Berlin festgeklebt haben. Der Aufforderung der Polizei, sich an einen anderen zugewiesenen Versammlungsort zu begeben, sei sie nicht nachgekommen, weswegen ihre Hand mit Hilfe einer Aceton-Lösung habe von der Scheibe gelöst werden müssen. Dies habe etwa drei Minuten in Anspruch genommen. Durch ihr Vorgehen sei es der Angeschuldigten darauf angekommen, die polizeiliche Maßnahme nicht unerheblich zu erschweren.

Das AG Tiergarten hat den Erlass des Strafbefehls abgelehnt, da ein hinreichender Tatverdacht nicht gegeben sei. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte:

„Hinreichender Tatverdacht besteht bei vorläufiger Tatbewertung in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung. Dies hängt davon ab, ob für eine rechtswidrig und schuldhaft begangene Straftat des Angeschuldigten wahrscheinlich genügender Beweis vorliegen wird (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., Rdnr. 7 zu § 408 und Rdnr. 2 zu § 203).

Daran gemessen ist die Verurteilung der Angeschuldigten wegen des Vorwurfs des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB unwahrscheinlich. Bei dem aktenkundigen Verhalten der Angeschuldigten handelt es sich nicht um Gewalt im Sinne dieser Vorschrift. Es ist auch nicht zu erwarten, dass in einer Hauptverhandlung weitergehende Feststellungen getroffen werden können.

Der Begriff der Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB ist auf den Einsatz physisch wirkender Gewalt beschränkt (vgl. Bosch, in: Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl., Rdnr. 18 zu § 113). Unter dem Begriff der Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB ist demgemäß jede durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung gegen den Amtsträger zu verstehen, die an sich geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder nicht nur unerheblich zu erschweren, letzteres insbesondere dergestalt, dass der Amtsträger die Diensthandlung nicht ausführen kann, ohne seinerseits eine nicht ganz unerhebliche Kraft aufwenden zu müssen (Rosenau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. Rdnr. 23 zu § 113; BVerfG, Beschluss vom 23.08.2005 – 2 BvR 1066/05 -; BayObLG, Beschluss vom 29.01.1988 – RReg 3 St 247/87 –, jeweils bei juris). Es reicht hierbei aus, wenn die eigene Kraftentfaltung des Täters, die auch in einem Sich-Anketten oder einem bloßen Sich-Ankleben liegen kann (a. A. Bosch, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 113 Rn. 20), gleichsam als vorweggenommener Widerstand gegen eine alsbald erwartete Vollstreckung schon vor Beginn der Diensthandlung erfolgt, sofern sie sich gegen den Amtsträger im Zeitpunkt von dessen Tätigwerden in der genannten Weise auswirkt (BGH, Urteil vom 16.11.1962 – 4 StR 337/62 -, juris; Rosenau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. Rdnr. 20 zu § 113). Die Kammer ist allerdings der Auffassung, dass es in diesen Fällen weitere Voraussetzung für die Annahme tatbestandlicher Gewalt sein muss, dass der Widerstand seinerseits durch den Amtsträger nur mit nicht ganz unerheblicher Gewaltanstrengung überwunden werden kann, andernfalls es an der notwendigen Rückbindung zum Gewaltbegriff fehlen und das Analogieverbot überschritten würde. Denn der Widerstand muss für den Amtsträger körperlich spürbar sein, um Gewalt darstellen zu können (vgl. BGH, Beschluss vom 11.06.2020 – 5 StR 157/20 -, juris Rz. 9). Ein bloßer Zeitaufwand bei der Überwindung des Widerstandes, selbst wenn dieser erheblich wäre, und die damit verbundene Lästigkeit für die Vollstreckungsbeamten wären danach nicht ausreichend. Es würde in diesen Fällen zwar Widerstand geleistet, jedoch kein im Sinne von § 113 StGB gewaltsamer Widerstand (a. A. LG Berlin, Beschluss vom 21.11.2022 – 534 Qs 80/22 -, BeckRS 2022 80/22).

Die vorliegend in Rede stehende Handlung, nämlich das Ankleben an die Eingangstür der Deutschen Bank mit löslichem Kleber, hat die dienstliche Vollstreckungshandlung, nämlich die Durchsetzung der Versammlungsauflösung, nicht in dieser Weise erschwert. Es ist aus den Akten nicht ersichtlich, dass das Ablösen – unter Einsatz des Lösungsmittels Aceton – von den Beamten mehr als einen ganz unerheblichen Kraftaufwand erforderte. Dies ist auch unwahrscheinlich. Soweit das Ablösen einen besonderen Zeitaufwand erforderte, ist nach Auffassung der Kammer (s.o.) bereits fraglich, ob dieser Umstand über die zur Überwindung des Widerstandes nötige Kraftentfaltung hinaus zusätzlich Berücksichtigung finden kann, ohne dass hierdurch der Gewaltbegriff überdehnt würde. Auch dieser Zeitaufwand war indessen nur unerheblich. Nach Aktenlage mussten insgesamt fünf Personen von der Scheibe abgelöst werden, was nach den Angaben der Beamten insgesamt etwa 10 – 15 Minuten in Anspruch genommen hat. In dem Strafbefehlsantrag wird daher zu Recht davon ausgegangen, dass das Lösen von der Scheibe durch die Beamten bei der Angeschuldigten (lediglich) etwa drei Minuten gedauert hat.

Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall von den von der Staatsanwaltschaft in der Beschwerdebegründung angeführten Fällen. Wenn sich Personen an Gegenständen festhalten, sich daran festketten oder mit Füßen gegen den Boden stemmen, werden den Beamten Schwierigkeiten bereitet, die entweder selbst durch den nicht unerheblichen Einsatz von Körperkraft gekennzeichnet sind oder jedenfalls durch nicht unerheblichen Krafteinsatz überwunden werden müssen. Letzteres gilt etwa für den Kraftaufwand, welcher für das Durchtrennen etwa einer Kette erforderlich ist. Dass ein auch nur annähernd vergleichbarer Kraftaufwand im hiesigen Fall erforderlich gewesen wäre, ist nicht erkennbar.“