Archiv für den Monat: März 2022

Einspruchseinlegung im OWi-Verfahren nur durch beA?, oder: Nein, sagt das AG Hameln.

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So, heute ist Freitag, also an sich Gebührentag. Aber heute gibt es ein Vorprogramm, nämlich ein Beschluss aus dem Bußgeldverfahren. Grund: M.E. ist der Beschluss von Bedeutung – ich bin gerade in dieser Woche zweimal nach der Problematik gefragt worden – und mein nächster OWi-Tag dauert. Daher jetzt außer der Reihe.

In dem AG Hameln, Beschl. v. 14.02.2022 – 49 OWi 23/22, den ich hier jetzt vorstelle und auf den ich bei Beck-Online gestoßen bin, geht es um diese Frage, ob nämlich der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nach § 67 OWiG nach dem 1.1.2022 per elektronischem Dokument eingelegt werden muss. Das ist in der Literatur umstritten und wird auch, wie ich inzwischen lesen durfte, von den Bußgeldbehörden unterschiedlich gesehen. M.E. muss er nicht, da der Wortlaut der Regelung des § 110c OWiG i.V.m. § 32d StPO eindeutig ist.

So auch das AG. Der Betroffene hatte in dem vom AG entschiedenen Fall gegen den am 04.01.2022 zugestellten Bußgeldbescheid am selben Tag Einspruch eingelegt. Diesen, per Telefax eingelegten, Einspruch hat die Verwaltungsbehörde mit Bescheid vom 18.01.2022 als unzulässig verworfen, da sie die Ansicht vertreten hat, diese Verfahrenshandlung bedürfe seit dem 01.01.2022 der Übermittlung per elektronischem Dokument. Dagegen der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, der Erfolg hatte:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat in der Sache Erfolg.

Die Einspruchseinlegung gegen einen Bußgeldbescheid per Telefax widerspricht nicht der gesetzlichen Form, insbesondere nicht der nach § 110 c S. 1 OWiG i.V.m. § 32 d S. 2 StPO vorgeschrieben Übermittlung per elektronischem Dokument.

Gem. § 32 d S. 2 StPO haben Verteidiger und Rechtsanwälte seit dem 01.01.2022 „die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung sowie die Privatklage und die Anschlusserklärung bei der Nebenklage“ als elektronisches Dokument zu übermitteln. § 110 c S. 1 OWiG erklärt diese Vorschrift für das Bußgeldverfahren entsprechend anwendbar.

Der Umfang der entsprechenden Anwendung ist – soweit ersichtlich – obergerichtlich noch nicht entschieden.

In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass sich die entsprechende Anwendung des § 32 d S. 2 StPO unter Berücksichtigung des § 110 a IV OWiG im Bußgeldverfahren auf den Einspruch und seine Begründung sowie die Rechtsbeschwerde und ihre Begründung erstreckt (Krenberger/Krumm, 6. Aufl. 2020, OWiG § 110 c Rn. 13, BeckOK StVR/Krenberger, 13. Ed. 15.10.2021, OWiG, § 110 c Rn. 13). Diese Auslegung entspräche auch der grundsätzlich vom Gesetzgeber intendierten strengen Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs, die für solche schriftlichen Erklärungen bestehen soll, bei denen es – wie hier im Falle der Einspruchseinlegung – ausgeschlossen ist, dass sie in einer besonders eilbedürftigen Situation, in der zudem die für eine elektronische Kommunikation erforderliche Infrastruktur fehlen kann, abzugeben sind (BT-Drs. 18/9416, 50 f.).

Dieser extensiven Auslegung des § 110 c S. 1 OWiG kann jedoch nicht gefolgt werden, da sie mit der Systematik und dem Wortlaut des § 32 d S. 2 StPO unvereinbar ist.

§ 32 d S. 2 StPO beinhaltet eine abschließende Aufzählung von zwingend formbedürftigen Verfahrenshandlungen, die den „Einspruch und die Einspruchsbegründung“ ausdrücklich auslassen und damit insoweit auch keine zwingende Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs vorsehen.

Der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid aus dem Ordnungswidrigkeitengesetz (§ 67 OWiG) entspricht in der Strafprozessordnung dem Einspruch gegen den Strafbefehl (§ 410 StPO), der jedoch in § 32 d S. 2 StPO nicht genannt ist. Vielmehr werden dort lediglich (bestimmte) Rechtsmittel aus dem 3. Buch sowie (bestimmte) Beteiligungsrechte aus dem 5. Buch der StPO genannt. Die der Berufung bzw. Revision entsprechenden Rechtsmittel im Ordnungswidrigkeitengesetz sind jedoch im fünften Abschnitt unter III. aufgeführt und erfassen lediglich die Rechtsbeschwerde und deren Zulassung (§§ 79, 80 OWiG), nicht hingegen den Einspruch aus § 67 OWiG, der im separaten Unterabschnitt „I. Einspruch“ steht und zudem einen Rechtsbefehl „eigener Art“ darstellt (vgl. Göhler, Kurzkommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 18. Auflage 2021, Vorbem. zu § 67 OWiG, Rn. 1).

Die hier vertretene Auslegung widerspricht auch nicht der Intention des Gesetzgebers, durch zwingend vorgeschriebene Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs einen Medienwechsel herbeiführen zu wollen (BT-Drs. 18/9416, 1). Der Gesetzgeber hat von vornherein die Möglichkeit der obligatorisch elektronisch vorzunehmenden Verfahrenshandlungen in § 32 d S. 2 StPO ausdrücklich auf lediglich einzelne ausgewählte schriftliche Erklärungen beschränkt, obwohl auch andere schriftliche Erklärungen denkbar wären, in denen eine besonders eilbedürftige Situation auszuschließen ist, wie beispielsweise der zweiwöchig mögliche Einspruch gegen einen Strafbefehl (§ 410 I StPO). Dem Gesetzgeber bleibt unbenommen, weitere schriftliche Erklärungen der zwingenden elektronischen Form zu unterwerfen oder die Vorschrift des § 110 c StPO derart zu konkretisieren, dass sie sich auf die Einspruchseinlegung gemäß § 67 OWiG erstreckt.“

M.E. zutreffend. Die Verwaltungsbehörde hat bei der „Anhörung“ durch das Gericht erklärt, „dass sie den nachvollziehbaren Ausführungen des Gerichts nicht entgegentrete.“ Ehrt sie.

Im Übrigen:Ich würde dennoch auch bei der Einspruchseinlegung die Form des § 32d StPO beachten, bis obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt. Sicher ist sicher.

StrEG III: Verfahrenseinstellung nach § 170 StPO, oder: Keine Billigkeitsentscheidung – Cannabissamen aus NL?

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Und zum Tagesschluss dann noch zwei Entscheidungen zum StrEG, und zwar zur Entschädigung nach Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO, und zwar:

Stellung genommen hat zunächst das LG Mainz im LG Mainz, Beschl. v. 11.01.2022 – 3 Qs 79/21 – zur Frage: Entschädigung in den Fällen der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO nach § 2 StrEG oder nach § 3 StrEG. Das LG sagt:

„Da die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO daher nicht als Ermessensentscheidung erging (vgl. KK-StPO/Moldenhauer, 8. Aufl. 2019, S 170 Rn. 13 f.), bestimmt sich die Entschädigungspflicht insoweit nur nach § 2 StrEG — nicht auch § 3 StrEG —, so dass sie unabhängig von einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls und von Billigkeitsgründen besteht. Entsprechendes gilt auch, soweit der angefochtene Beschluss eine Entschädigungspflicht für die stattgehabte Durchsuchung feststellte, denn diese war — rechtskräftig festgestellt — rechtswidrig, so dass die Erledigung eines daran anknüpfenden Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft einzig nach § 170 Abs. 2 StPO und wiederum ohne Ermessen, nämlich aus tatsächlichen Gründen — wegen fehlenden Anfangsverdachts (vgl. KK-StPO/Moldenhauert a.a.O. Rn. 18) — in Betracht kam.“

Und dann noch der LG Magdeburg, Beschl. v. 25.01.2022 – 21 Qs 1/22, das ebenfalls meint, dass ein Fall des § 3 StrEG, in dem eine Entschädigung lediglich nach Ermessen im Umfang der Billigkeit nach den Umständen des Falles gewährt werden kann, bei einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO nicht vorliegt. Zudem macht das LG ganz interessante Ausführungen zu § 5 Abs. 2 StrEG in den Fällen der Bestellung von Cannabissamen in den Niederlanden:

„Es kann dahinstehen, ob die Anwendung dieser Vorschrift nach einer Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO überhaupt darauf gestützt werden kann, dass der ehemals Beschuldigte sich aufgrund einer eigenen Würdigung des Akteninhalts durch das entscheidende Gericht in Wahrheit im Sinne des ursprünglichen Tatvorwurfs strafbar verhalten habe. Denn jedenfalls vorliegend ist ein solches Verhalten dem Akteninhalt bereits nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu entnehmen. Zwar mag einiges für die Annahme sprechen, der ehemals Beschuldigte habe sich Cannabissamen aus den Niederlanden bestellt. Anders wäre die solche enthaltende an ihn adressierte Briefsendung kaum erklärlich. Jedoch stellt der Erwerb und Besitz von Cannabissamen nicht ohne weiteres vorwerfbares Verhalten dar. Nach Anlage I zum BtMG — Spiegelstrich „Cannabis“, Spiegelstich „ausgenommen“, Buchstabe a) — ist der Samen des Cannabis von den Betäubungsmitteln ausgenommen, sofern er nicht zum unerlaubten Anbau bestimmt ist. Hieraus folgt, dass verschiedene erlaubte Formen der Verwendung von Cannabissamen denkbar sind, etwa als Tierfutter (vgl. Patzak, in: Körner/PatzakNolkmer, Betäubungsmittelgesetz, 9. Auflage 2019, § 29, Rn. 37 <beck-online>). Da bei der Wohnungsdurchsuchung keine anderweitigen mit dem Anbau von Betäubungsmitteln in Verbindung stehenden Utensilien bei dem ehemals Beschuldigten gefunden wurden, kann eine Bestellung von Cannabissamen zu erlaubten Zwecken vorliegend auch nicht aus-geschlossen werden. Da der erlaubte Erwerb von Cannabissamen also in Betracht kommt, kann hierin auch keine grobe Fahrlässigkeit im Hinblick auf die Einleitung einer Strafverfolgungsmaßnahme liegen. Zwar ist das Entstehen eines Anfangsverdachts gegen den Adressaten durch das Auffinden von Cannabissamen in einer Briefsendung nachvollziehbar, weil nach kriminalistischer Erfahrung aus den Niederlanden bestellte Cannabissamen häufig zum unerlaubten Anbau von — und in der Folge Besitz von und Handel mit — Cannabis verwendet werden. Dies kann jedoch vor dem Hintergrund der ausdrücklichen gesetzlichen Einschränkung der Einordnung von Cannabissamen als Betäubungsmittel nicht dazu führen, dass jeder Umgang mit solchen ohne weiteres bereits als grob fahrlässig in Bezug auf entsprechende Straf-verfolgungsmaßnahmen anzusehen wäre.“

StrEG II: Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO, oder: Billigkeitsentscheidung ist eine Ausnahme

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In der zweiten Entscheidung geht es um die Entschädigung für eine Durchsuchung nach Einstellung des Verfahrens. Das AG hatte eine Entschädigung abgelehnt, das LG Flensburg bestätigt die Entscheidung im LG Flensburg, Beschl. v. 11.02.2022 – I Qs 54/20 – die Entscheidung:

„2. Soweit die sofortige Beschwerde der ehemals Beschuldigten zulässig ist, hat sie jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Wie das Amtsgericht zutreffend festgestellt hat, richtet sich die Frage einer Entschädigung im Hinblick auf die Durchsuchungsmaßnahme nach § 3 StrEG, der im Gegensatz zu § 2 StrEG eine Entschädigung nur nach Billigkeitsgesichtspunkten gewährt.

Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur geht davon aus, dass die Billigkeitsentscheidung nach § 3 StrEG nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Voraussetzung ist, dass sich der Fall von anderen Fällen auffallend abhebt, wobei eine Entschädigung regelmäßig nur dann als billig angesehen werden kann, wenn der Vollzug der vorläufigen Strafverfolgungsmaßnahmen sich zum Zeitpunkt der Einstellung in der Rückschau als grob unverhältnismäßig herausstellt (OLG Braunschweig, Beschluss vom 13.11.2012, Ws 321/12, zitiert nach juris) —insbesondere bei einer Einstellung nach § 153 StPO werden Billigkeitsgründe nur dann vorliegen, wenn der bei der Einstellung bestehende Tatverdacht erheblich hinter dem Tatverdacht zurück-bleibt, der zu der Verfolgungsmaßnahme geführt hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 3 StrEG, Rn. 2).

Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Das Amtsgericht Flensburg hat die Durchsuchung mit Beschluss vom 30.05.2016 angeordnet unter anderem auch wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer. Im Hinblick auf diese Delikte war zum Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung zwar kein Tatverdacht mehr bezüglich einer täterschaftlichen Begehung gegeben, wohl aber ein Tatverdacht bezüglich einer Beihilfe zu einer Steuerhinterziehung der Umsatzsteuer für die Jahre 2013 und 2014, der Körperschaftssteuer für das Jahr 2013 sowie bezüglich einer Beihilfe zu einer versuchten Hinterziehung der Körperschaftssteuer 2014. Der gegen die ehemals Beschuldigte bestehende Tatverdacht blieb damit zum Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung nicht erheblich hinter dem Tatverdacht zurück, der zur Anordnung der Durchsuchungsmaßnahme geführt hat, vielmehr hätte — wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat — auch dieser Verdacht einer Bei-hilfe zum Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses führen können, § 102 StPO, denn hierfür reicht, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte oder aufgrund kriminalistischer Erfahrungen angenommen werden kann, dass der Verdächtige .als Teilnehmer einer Straftat in Betracht kommt. Als Verdachtsgrad genügt damit ein Anfangsverdacht (vgl. m.w.N.: BeckOK/Hegmann, StPO, 42. Edition, § 102, Rn. 1, zitiert nach beck-online).

Diese Voraussetzung war vorliegend auch zum Zeitpunkt der Einstellung erfüllt, denn ausweislich ihrer eigenen Ausführungen hat die ehemals Beschuldigte erkannt, dass die ihr vom Geschäfts-führer der „PP UG“ übermittelten Zahlen nicht plausibel waren, dennoch hat sie auf Basis dieser Zahlen die entsprechenden Voranmeldungen getätigt (vgl. BI. 79).“

 

StrEG I: Entschädigung für Untersuchungshaft?, oder: Fluchtversuch vor der Feststellung der Personalien

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Der Tag heute ist dann der Entschädigung nach dem StrEG gewidmet. Zu der Problematik haben sich in der letzten Zeit einige Entscheidungen angesammelt.

Hier zunächst der KG, Beschl. v. 07.05.2021 – 2 Ws 25/21 – zur Anwendung und den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 StrEG. Die Angeklagte ist frei gesprochen worden. Entschädigung für Untersuchungshaft hat das LG aber nicht gewährt, weil die ehemalige Angeklagte diese selbst „verursacht“ habe. Das KG schließt sich dem an:

§ 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –). Es reicht daher nicht aus, dass sich der Freigesprochene irgendwie verdächtig gemacht hat und die gesamte – allein oder überwiegend aufgrund anderer Beweismittel bestehende – Verdachtslage die ergriffene Strafverfolgungsmaßnahme rechtfertigt (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris). Erforderlich ist vielmehr, dass er die Maßnahme durch die Tat selbst oder sein früheres oder nachfolgendes Verhalten ganz oder überwiegend verursacht hat (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 – und vom 9. März 1999 – 4 Ws 24/99 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 7). Das Verhalten des Freigesprochenen ist nicht oder nicht mehr ursächlich, wenn die Maßnahme auch unabhängig von seinem Verhalten, welches sicher festzustellen ist (vgl. OLG Köln StraFo 2001, 146), angeordnet oder aufrechterhalten worden wäre (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255; OLG Oldenburg StraFo 2005, 384; KG StraFo 2009, 129) oder wenn sie allein oder im Wesentlichen auf anderen Beweisen beruht (vgl. Senat aaO mwN). Im Zweifelsfall ist zu seinen Gunsten zu entscheiden (vgl. KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –).

Ob eine schuldhafte Verursachung vorliegt, ist ausschließlich nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen (§§ 254, 276, 277, 278 BGB) zu beurteilen (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450, 451; KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN). Dabei steht eine Verletzung der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht einer Mitverursachung gleich (vgl. KG StraFo 2009, 129). Der Freigesprochene hat die Ermittlungsmaßnahme dann zumindest grob fahrlässig verursacht, wenn er nach objektiven, abstrakten Maßstäben in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage aufwenden würde, um sich vor Schaden durch Strafverfolgungsmaßnahmen zu schützen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 9), indem er schon einfachste, naheliegende Überlegungen anzustellen versäumt oder dasjenige nicht bedenkt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsste, und so die Maßnahme „geradezu herausfordert“ (vgl. KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht der Freigesprochenen eine Entschädigung für die vorläufige Festnahme und die erlittene Untersuchungshaft zu Recht versagt. Diese hat ihre vorläufige Festnahme sowie die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft grob fahrlässig verursacht.

Die Strafkammer hat im Urteil festgestellt (UA S.17), dass die Freigesprochene, ihren – deshalb verurteilten – Begleiter und Mitangeklagten V. am Abend des 11. Juli 2020, in der Nähe des U-Bahnhofs Gleisdreieck in Berlin aus geringer Entfernung dabei beobachtete, wie dieser dem Zeugen M. eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole an den Kopf hielt, um ihm zur Duldung der Wegnahme eines 50-Euro-Scheines zu veranlassen, den er ihm zugleich aus der Hosentasche zog. Danach sah sie zu, wie der Mitangeklagte diesen Geldschein an eine unbekannt gebliebene männliche Person weitergab. Kurze Zeit später war sie dabei, als der Mitangeklagte einen weiteren Mann kurz vor dem U-Bahnhof schlug und ihm einen unbekannt gebliebenen Gegenstand entwendete. Als eine Gruppe von Passanten darauf aufmerksam wurde und einzelne aus der Gruppe versuchten, den Mitangeklagten V. festzuhalten, stießen und zogen die Freigesprochene sowie der weitere Mitangeklagte M. diese von dem Mitangeklagten V. fort. Die Freigesprochene schlug zudem mit ihrer Tasche nach ihnen und schrie sie an.

Im Zuge der anschließenden vorläufigen Festnahme der Mitangeklagten auf dem        U-Bahnhof versuchte die Beschwerdeführerin, gegenüber den eingetroffenen Polizeibeamten den Tatverdacht gegen diese zu entkräften, indem sie wider besseres Wissen behauptete, insbesondere der Angeklagte V. hätte keine strafbaren Handlungen begangen. Zudem versuchte sie, – bevor ihre Personalien aufgenommen werden konnten – den Bahnhof zu verlassen, und konnte nur durch das Eingreifen eines Polizeibeamten im letzten Moment daran gehindert werden, mit einer gerade eingefahrenen U-Bahn zu entkommen. Erst daraufhin wurde auch sie vorläufig festgenommen.

a) Das Verhalten der Freigesprochenen war kausal für die Strafverfolgungsmaßnahmen. Die Beschwerdeführerin hat die freiheitsentziehenden Maßnahmen dadurch verursacht, dass sie durch ihr den Mitangeklagten V. abschirmendes Verhalten nicht nur den dringenden Verdacht einer Beteiligung an dessen Taten erzeugt, sondern durch ihren Fluchtversuch auch den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) geschaffen hat.

b) Ein Beschuldigter kann die Anordnung von Untersuchungshaft nicht nur dadurch verursachen, dass er durch sein Verhalten maßgeblich zur Entstehung des dringenden Tatverdachts beiträgt, sondern auch dadurch, dass er in zurechenbarer Weise (vgl. KG, StraFo 2009, 129) einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung eines Haftgrundes – auch eines weiteren Haftgrundes (vgl. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1998, 341; KG Rpfleger 1999, 350; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris) – leistet (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255, 256; OLG Brandenburg, Beschluss vom 5. Dezember 2007 – 1 Ws 273/07 – juris; Senat aaO mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 11).

c) Die Annahme von Fluchtgefahr war aufgrund der Gesamtumstände zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme und des Haftbefehlserlasses naheliegend. Die Beschwerdeführerin wurde letztlich nur freigesprochen, weil die Strafkammer im Ergebnis der mehrtätigen Beweisaufnahme zu ihren Gunsten davon ausgehen musste, dass ihre den Haupttäter unterstützenden und abschirmenden Handlungen spontan und erst nach Beendigung der Haupttat sowie der bereits anderweitig erfolgten Beutesicherung einsetzten. Der aus der Straferwartung resultierende hohe Grad der Fluchtgefahr gebot auch den Vollzug der Untersuchungshaft.

d) Das für die freiheitsentziehenden Strafverfolgungsmaßnahmen ursächliche Verhalten der Beschwerdeführerin ist nach den eingangs dargelegten Maßstäben auch zweifellos als grob fahrlässig zu werten.“

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung?, oder: Achtung: Volltext zum „Kosteninteresse“ als Service

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Und dann hier noch zwei weitere Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, und zwar zwei Beschlüsse des LG Oldenburg, nämlich der LG Oldenburg, Beschl. v. 07.03.2022 – 4 Qs 76/22 – und der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.02.2022 – 1 Qs 65/22. Beide lehnen die rückwirkende Bestellung ab, und zwar mit den bekannten/unzutreffenden Argumenten. Insoweit also nichts Neues und an sich auch nicht besonders berichtenswert.

Aber: Der beide Beschlüssen verweisen mal wieder auf das sog. „Kosteninteresseargument“ (vgl. hier aus dem LG Oldenburg, Beschl. v. 07.03.2022 – 4 Qs 76/229):

„bb) Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte größtenteils die Ansicht vertreten, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, weil sie ausschließlich dem Zweck dient, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (OLG Hamburg, Beschl. v. 16.09.2020 —2 Ws 112/20; OLG Bremen, Beschl. vom 23.09.2020 – 1 Ws 120/20; OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.03.2021 – 1 Ws 12/21). Diese Einschätzung teilt die Kammer. Die rückwirkende Beiordnung ist auf etwas Unmögliches gerichtet und kann die notwendige Verteidigung eines Angeklagten für die Vergangenheit nicht mehr gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020 -1 Ws 19/20).

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers widerspräche damit dem Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung. Denn das Institut ist insbesondere dazu bestimmt, dem Angeklagten einen rechtskundigen Beistand zu sichern und so einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (vgl. BGH, Beschl. v. 27.04.1989 —1 StR 627/88). Aus diesem Grund zählt § 140 StPO einzelne Fallgruppen auf, in denen die Verteidigung eines Beschuldigten durch einen Verteidiger als notwendig anzusehen ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Beschuldigte in der Lage wäre, die Kosten der Verteidigung aus eigenen Mitteln aufzubringen oder nicht. Vielmehr knüpft das strafprozessuale Recht der notwendigen Verteidigung gerade nicht an die Bedürftigkeit der beschuldigten Person an. Dies kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass die Bestellungsvorschriften eine Bedürftigkeitsprüfung nicht vorsehen. Vielmehr hat der Beschuldigte bzw. Angeklagte im Falle einer späteren Verurteilung die Kosten seiner Verteidigung zu tragen, selbst wenn diese im Falle der Pflichtverteidigung zunächst (gegebenenfalls teilweise) aus der Staatskasse entrichtet wurden (vgl. LG Bonn, Beschl. v. 18.05.2021 — 63 Qs-920 Js 214/21¬41/21).

Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht (so z. B. OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020 – Ws 962/20, WS 963/20 und hiernach nunmehr auch OLG Bamberg, Beschl. v. 29.04.2021 – 1 Ws 260/21), hat sich dies nach Einschätzung der Kammer auch nicht mit Blick auf die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 und die darauf beruhenden Änderungen aus dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 geändert. Denn nach Art. 4 dieser Richtlinie ist der „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ dann sicherzustellen, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“, mithin dann, wenn es für das weitere Verfahren von Bedeutung ist (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 16.09.2020 – 2 Ws 112/20). Die Richtlinie zielt aber gerade nicht darauf ab, den Beschuldigten nachträglich zu jeder Phase eines Verfahrens von den Kosten seiner Verteidigung freizuhalten (vgl. OLG Braunschweig, Beschl. vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21). Nach Abschluss eines Strafverfahrens kann eine Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren jedoch nicht mehr im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein. Sie kann das Verfahren in keiner Weise mehr beeinflussen. Eine derartige Änderung war auch vom Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie nicht gewollt (vgi. BT-Drucks. 19/13829, S. 2, 21f.). Es war insbesondere nicht das Ziel der Richtlinie, den Vergütungsanspruch des Verteidigers zu sichern.“

Dass das falsch ist, hat aber gerade noch einmal der Kollege Hillenbrand in einem schönen Beitrag in StRR 3/2022 dargelegt, den ich dann mal als „Service“ online gestellt habe. Kostenloser Download ist möglich. Damit kann man die Diskussion in der Frage ja mal anfeuern. Hier geht es dann zu dem Beitrag: „Die Vergütung des Pflichtverteidigers als notwendiges Element eines fairen Verfahrensvon RiLG T. Hillenbrand.

Im Übrigen: Ich verstehe nicht, warum das LG Oldenburg so viel Aufhebens um die Frage der Zulässigkeit der nachträglichen Beiordnung macht. Wäre von seinem Standpunkt aus doch jeweils gar nicht nötig gewesen, da man ja die Voraussetzungen für eine Beiordnung überhaupt verneint hat. Man hat ein bisschen den Eindruck, dass sich die Kammer unbedingt in der strittigen Frage äußern wollte.