Archiv für den Monat: März 2019

Disziplinarverfahren, oder: Aussage-gegen-Aussage und Zweifelssatz gelten

entnommen wikimedia.org
Hersteller Maksim

Und die zweite „Samstags-Entscheidung“ kommt auch aus dem Verwaltungsrecht. Es ist das BVerwG, Urt. v. 22.11.2018 – 2 WD 14.18, zu dem ebenfalls die Überschrift „Strafrecht meets Verwaltungsrecht“ passen würde. Es geht nämlich um die Anwendung strafverfahrensrechtlicher Grundsätze im gerichtlichen Disziplinarverfahren gegen einen Angehörigen der Bundeswehr. Gegen den war durch das Truppendienstgerichts wegen eines Dienstvergehens ein Beförderungsverbot für die Dauer von 24 Monaten verhängt. Vorgeworfen worden ist ihm die Verwendung eines Dienst-Pkw zu privaten Zwecken. Der Soldat soll seine ehemalige Freundin R. mehrfach mit einem Dienst-Pkw abgeholt oder weggebracht haben. Das Truppendienstgericht hat die Verurteilung u.a. auf die Aussagen der Zeugin R. gestützt und die bestreitenden Einlassungen des Soldaten als widerlegt angesehen.

Der Soldat hat Berufung eingelegt. Er erstrebt vornehmlich einen Freispruch. Die Berufungsbegründung tritt der Beweiswürdigung des angegriffenen Urteils in allen Anschuldigungspunkten detailliert entgegen und erläutert, warum aus Sicht der Verteidigung die Belastungszeugin R. unglaubwürdig und keiner der Vorwürfe nachgewiesen sei. Keine der Einwände des Truppendienstgerichts gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassung des Soldaten sei stichhaltig und entspreche dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Vielmehr seien die Erwägungen der Vorinstanz weitgehend spekulativ, realitätsfern und fern dem tatsächlichen Gehalt der Aussagen der angehörten Zeugen. Die Einlassungen des Soldaten seien in allen Verfahrensstadien konsequent geblieben, auch durch die Hauptverhandlung nicht widerlegt und würden durch die Angaben der Zeugen J., St. und Je. gestützt. Zudem lägen schwere Verfahrensfehler vor.

Das BVerwG hat frei gesprochen. In der Begründung des Freispruchs macht es (interessante) Ausführungen zur Anwendung des Zweifelssatzes und zur Aussage-gegen-Aussage-Konstellation:

„1. Nach § 123 Satz 3 in Verbindung mit § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO in Verbindung mit § 261 StPO hat das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Dabei kommt es allein darauf an, ob der Tatrichter die persönliche Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht. Die für die Überführung eines Angeschuldigten erforderliche persönliche Gewissheit des Tatrichters erfordert ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Zwar ist zur Überführung des angeschuldigten Soldaten keine „mathematische“ Gewissheit erforderlich. Der Beweis muss jedoch mit lückenlosen, nachvollziehbaren logischen Argumenten geführt sein. Die Beweiswürdigung muss auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruhen und erschöpfend sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 10. März 2016 – 2 WD 8.15 – juris Rn. 19 f. m.w.N. und vom 3. Mai 2016 – 2 WD 15.15 – juris Rn. 16 ff.).

Dies gilt namentlich dann, wenn eine Ahndung auf der Grundlage der Aussage eines einzigen Zeugen erfolgen soll. Zwar ist das Tatgericht nicht grundsätzlich schon dann aufgrund des Zweifelssatzes an einer Verurteilung gehindert, wenn „Aussage gegen Aussage“ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen. Bei einer derartigen Sachlage muss allerdings die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen werden. Hier ist eine lückenlose Ermittlung und anschließende Gesamtwürdigung der Indizien sowie aller anderen Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, von besonderer Bedeutung. Das gilt insbesondere dann, wenn der einzige Belastungszeuge in der Verhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird oder sich – wie vorliegend – sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt. Dann muss das Gericht regelmäßig auch außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe ermitteln, die es ermöglichen, der Zeugenaussage dennoch zu glauben. Gelingt dies dem Gericht nicht, ist der Soldat nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ freizustellen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98 – juris Rn. 15; OVG Koblenz, Urteil vom 7. März 2017 – 3 A 10699/16NVwZ-RR 2017, 974 Rn. 33 ff.).

2. Hiernach verbleiben nicht nur theoretische Zweifel daran, dass der Soldat die ihm vorgeworfenen Pflichtverletzungen begangen hat, sodass er in Ermangelung weiterer Aufklärungsmöglichkeiten nach dem Grundsatz in dubio pro reo freizusprechen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Dezember 2009 – 2 WD 36.09 – Buchholz 450.2 § 106 WDO 2002 Nr. 1 Rn. 14). Am Wahrheitsgehalt der Aussage der einzigen Belastungszeugin bestehen gravierende Zweifel, die auch nicht durch für die Richtigkeit der Aussage sprechende Umstände ausgeräumt werden konnten. Im Einzelnen:……“

Wegfall des Richtervorbehalts bei der Blutentnahme, oder: Herrschende Meinung sagt: Neues Recht

© Klaus Eppele – Fotolia.com

Im „Kessel Buntes“ dann heute zunächst der OVG Saarlouis, Beschl. v. 04.12.2018, 1 D 317/18 -, der passt auch in die Rubrik „Strafrecht meets Verwaltungsrecht“. Denn es es geht noch einmal/mal wieder um die Auswirkungen des „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.08.2017 (BGBl I, S. 3202)“. genauer: Es geht um die Frage: Altes oder neues Recht bei der Prüfung der Frage, ob eine ohne Beachtung des Richtervorbehalts vor dem 24.08.2017 entnommene Blutprobe verwertet werden kann.

Das OVG sagt: Neues Recht. Hier der Leitsatz:

Ergeht eine Fahrerlaubnisentziehungsverfügung nach Inkrafttreten der Neufassung der §§ 81a Abs. 2 StPO, 46 Abs. 4 OWiG (24.8.2017), so unterliegt das Ergebnis einer zuvor ohne richterliche Anordnung entnommenen Blutprobe bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der neugefassten Vorschriften keinem Verwertungsverbot.

Das hatten bisher u.a. auch schon entschieden der VGH München im VGH München, Beschl. v. 05.02.2018 – 11 ZB 17.2069 (dazu Blutentnahme nach neuem Recht, oder: Auch in Bayern wird “gesund gebetet”), das Bamberg im OLG Bamberg, Beschl. v. 26.10.2018 – 3 Ss OWi 1410/18 (StPO III: Wegfall des Richtervorbehalts bei der Blutentnahme, oder: Altes oder neues Recht) und das OLG Rostock im OLG Rostock, Beschl. v. 03.11.2017 – 1 Ss 94/17 (Blutentnahme nach altem Recht – “gesund gebetet” nach neuem Recht, oder: Asche auf mein Haupt). Da kann man dann wohl von einer herrschenden Meinung sprechen.

Ich habe da mal eine Frage: Erhalte ich die zusätzliche Verfahrensgebühr N.r 4141 VV RVG zweimal?

© AllebaziB – Fotolia

Und dann zum Schluss des Tages noch das Gebührenrätsel. Auch hier der Hinweis/die Bitte: Mein „Rätselordner“ ist ziemlich leer. Deshalb freue ich mich über Fragen, die ich dann u.a. hier vorstellen kann.

Heute habe ich dann mal wieder eine zur zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG. Ich hätte wahrscheinlich besser formuliert: „schon wieder“, denn die Gebühren Nrn. 4141, 5115 VV RVG spielen in der Praxis eben eine so große Rolle, dass sie auch (dauernd) Gegenstand von Fragen sind. Aber alles nicht schlimm. Ich beantworte die Fragen gern und es ist ein Praxistest für unseren RVG-Kommentar, weil ich immer prüfe, ob ich die Frage mit dem Kommentar beantworten kann (zur Bestellseite, auf der man den Kommentar Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsache, 5. Aufl., bestellen kann, geht es hier 🙂 ) – so Werbemodus aus >>.

Und dann zur Frage:

„Lieber Herr Kollege Burhoff,

auch nach dem Studium Ihres Werks sind mein Kollege pp. und ich noch nicht schlauer geworden. Folgender Sachverhalt:

Anklageschrift wird zugestellt, wir schreiben brav, Landgericht lehnt Eröffnung ab.

StA erhebt die sofortige Beschwerde und ergänzt erstmals, dass anstelle der §§ 263, 27 StGB auch ein § 261 StGB in Betracht käme. Wir schreiben etwas. Das OLG verwirft die Beschwerde kostenpflichtig.

Haben wir Anspruch auf 2 x Nr. 4141 VV RVG?

Für Ihre Mühe bedanke ich mich jetzt schon sehr.“

Die Antwort sollte so schwierig nicht sein.

Pauschgebühr im Auslieferungsverfahren, oder: Lächerliche 100 € mehr als die gesetzlichen Gebühren

© mpanch – Fotolia.com

Die zweite Gebührenentscheidung kommt vom OLG Karlsruhe. Es handelt sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.02.2019 – P 301 AR 8/19, den mir der Kollegen Brüntrup aus Minden vor ein paar Tagen geschickt hat.

Gegenstand der Entscheidung? Pauschvergütung (§ 51 RVG) des Beistands im Auslieferungsverfahren nach dem IRG. Der Kollege war Beistand des Verfolgten (§ 42 IRG). Der Kollege hat eine Pauschvergüutn von 200,– € über den gesetzlichen Gebühren beantragt, der Bezirksrevisor hat eine Pauschgebühr in Höhe von 420,– € (abzüglich bereits erhaltener Vorschüsse und Zahlungen) „für vertretbar“ – schöne (?) Formulierung – gehalten. Das OLG hat dann in der Höhe eine Pauschgebühr bewilligt:

„Der Senat ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Pauschvergütung nach § 51 Abs. 1 RVG erfüllt sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann in Auslieferungssachen nach dem IRG – ebenso wie generell in Strafsachen – eine Pauschvergütung dann bewilligt werden, wenn entweder der besondere Umfang der Auslieferungssache und/oder deren besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten den Beistand nötigten, eine über das Maß normaler Bemühungen in Auslieferungssachen erheblich hinausgehende Tätigkeit zu entfalten, und wenn sich deshalb die nach dem Vergütungsverzeichnis zum RVG für einen Pflichtbeistand vorgesehene gesetzliche Vergütung als unzumutbar niedrig erweist (vgl. zuletzt speziell für Auslieferungssachen u.a. Senat, Beschl. v. 07.01.2019 – P 301 AR 180/18 -). Dies ist nach Bewertung und Abwägung aller die Tätigkeit des Rechtsanwalts prägenden maßgeblichen Umstände vorliegend der Fall.

Was die Höhe der zu gewährenden Pauschvergütung angeht, muss zunächst Beachtung finden, dass sich das Verfahren wegen des – bei Auslieferungssachen allerdings grundsätzlich und regelmäßig gegebenen – tatsächlichen und rechtlichen Auslandsbezugs sowie wegen der erforderlichen Befassung mit speziellen Problemen des materiellen und formellen ausländischen Straf- und Auslieferungsrechts für den Antragsteller schwierig gestaltete. Ferner ist zu sehen, dass der Rechtsanwalt den Verfolgten im Polizeigewahrsam in Minden –Lübbecke besucht und am Verkündungstermin des Haftbefehls vor dem AG Minden teilgenommen hat. Andererseits konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich der Umfang der Verfahrensakten sowohl zum Zeitpunkt der Bestellung des Rechtsanwalts als Beistand am 09.11.2018 als auch zum Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung des Senats am 16.01.2019 in einem vergleichsweise noch durchschnittlichen Rahmen bewegte. Nach umfassender Bewertung und Abwägung aller maßgeblichen Verfahrensmomente erschien es deshalb angemessen und zur Vermeidung eines dem Rechtsanwalt nicht zumutbaren Sonderopfers geboten, diesem eine an die Stelle der gesetzlichen Pflichtverteidigergebühr tretende Pauschvergütung zuzubilligen und diese auf 420 € zu bemessen, was in Höhe von ca. 60 % der sich nach Nr. 6101 VV RVG auf 690.–€ belaufenden Rahmenhöchstgebühr eines Beistands als Wahlverteidiger entspricht.“

Vertretbar? Im Grunde genommen lächerlich. Das sind knapp 100 € mehr als die gesetzlichen Gebühren der Nr. 6101 VV RVG. Ich hoffe, dass der Kollege den Betrag nicht auf einmal ausgibt.

Da bleibt auch nur dieses Beitragsbild 🙂 .

Und bei der Gelegenheit: Ich freue mich über jede Entscheidung zu/mit einer gebührenrechtlichen Problamtik. Die stelle ich dann gern hier vor und bearbeite sie für den RVGreport, für den StRR und/oder den VRR. Im Moment ist mein „Gebührenordner“ ziemlich leer. Ich kann also Nachschub gebrauchen 🙂 .

Einvernehmliche Umbeiordnung des Pflichtverteidigers, oder: Was sind „Mehrkosten“?

© yvon52 – Fotolia.com

Gestern frisch rein gekommen ist der OLG Celle, Beschl. v. 06.02.2019 – 2 Ws 37/19. Der nimmt zu einer für die Praxis des Rechts der Pflichtverteidigung wichtigen Frage Stellung. Denn welcher Verteidiger kennt ihn nicht: Den Streit mit der Staatskasse in den Fällen der sog. einvernehmlichen Umbeiordnung, wenn „umbeigeordnet“ wird unter der Vorgabe: „Keine Mehrkosten für die Staatskasse“? Dann wird nicht selten später mit dem Kostenbeamten darum gestritten, was denn nun „Mehrkosten“ sind. Die Vertreter der Staatskasse tendieren dann dahin zu sagen: Alles oder so viel wie möglich.

Das sieht das OLG Celle nun anders, und zwar in folgender Sachverhaltskonstellation:

Das AG Hannover hat einen ortsansässigen Verteidiger zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt. Diesen hat das AG später entpflichtet und einen anderen (Wahl)Pflichtverteidiger beigeordnet, der seinen Kanzleisitz in G. hat, unter dem Hinweis, dass durch die Umbeiordnung entstehende Mehrkosten nicht erstattet werden. Dagegen hatte der Pflichtverteidiger Beschwerde eingelegt, die aber u.a. mit der Begründung verworfen worden ist, dass die erfolgte Umbeiordnung nur möglich gewesen sei, wenn der Staatskasse keine Mehrkosten entstehen.

Im Rahmen der Kostenfestsetzung beantragt der Verteidiger die Gebührenfestsetzung in Höhe von 1.265,92 €. Durch Entscheidung der Kostenbeamtin vom 19.09.2018 wurden auf diesen Antrag 785,40 € festgesetzt und angewiesen, wobei Fahrtkosten für drei Hauptverhandlungstermine in Höhe von jeweils 99,60 € (Nr. 7003 VV RVG) und Abwesenheitsgeld in Höhe von einmal 25 € (Nr. 7005/1 VV RVG) und zweimal 40 € (Nr. 7005/2 VV RVG) nebst anteiliger Umsatzsteuer in Abzug gebracht wurden. Diese Kostenpositionen seien lediglich durch die Umbeiordnung entstanden, da der Verteidiger aus G. komme und nicht wie der vormalige Verteidiger aus H. Dagegen das Rechtsmittel des Verteidigers, das Erfolg hatte.

„Zutreffend stellt die Kammer im Ausgangspunkt darauf ab, dass sich der Vergütungsanspruch nach dem Beiordnungsbeschluss bestimmt, § 48 Abs. 1 RVG. Durch diesen wurde vorliegend eine Erstattung der durch die Umbeiordnung entstandenen Mehrkosten ausgeschlossen. Von dem auslegungsfähigen Begriff der „Mehrkosten“ sind die hier geltend gemachten Positionen der Fahrtkosten und des Abwesenheitsgeldes jedoch nicht erfasst. Mit dem Begriff der Mehrkosten werden Fiskalinteressen geschützt: Der Fiskus soll durch den Sinneswandel des Beschuldigten nicht belastet werden. Die so zu schützenden Fiskalinteressen reichen aber nicht weiter, als wenn der Beschuldigte den jetzt gewählten Verteidiger von vornherein bezeichnet hätte und dieser hätte beigeordnet werden können (OLG Oldenburg, Beschlüsse vom 21.03.2017, 1 Ws 122/17 und vom 23.04.2015, 1 Ws 170/15). Angesichts der durch das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29.07.2009 erfolgten Streichung der früheren gesetzlichen Einschränkung, dass der Verteidiger möglichst aus der Zahl der örtlichen Rechtsanwälte ausgewählt werden sollte, ist die Gerichtsnähe des Verteidigers keine wesentliche Voraussetzung mehr (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage, 2018, § 142, Rn. 5; vgl. Laufhütte/Willnow in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Auflage, 2013, § 142, Rn. 5). Zwar kann der ortsferne Kanzleisitz des gewählten Verteidigers nach wie vor im Einzelfall einen Grund darstellen, die Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts abzulehnen. Im Bestellungsverfahren tritt der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung aber grundsätzlich gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.09.2001,       2 BvR 1152/01; BGH, Beschluss vom 17.07.1997, 1 StR 781/96; OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.01.2006, 2 Ws 5/06). Der Umstand der Ortsferne steht nur dann der Bestellung entgegen, wenn dadurch eine sachdienliche Verteidigung des Beschuldigten bzw. der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet werden (OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.10.2014, 1 Ws 162/14). Unter Berücksichtigung dieser Wertung ist der Begriff der „Mehrkosten“ dahingehend zu verstehen, dass diejenigen Gebührenpositionen ausgeschlossen werden sollen, die durch die Umbeiordnung doppelt entstehen und damit den Fiskus „ohne wichtigen Grund“ i.S.d. Widerrufsmöglichkeit einer Bestellung nach § 143 StPO belasten würden. Im Übrigen wäre das „nachträgliche“ Entstehen von Fahrtkosten auch bei einer im Laufe des Strafverfahrens eingetretenen beruflichen Veränderung eines von Beginn an beigeordneten Verteidigers denkbar, etwa bei einem Kanzlei- und damit verbundenen Bezirkswechsel.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass das Oberlandesgericht Oldenburg in seinem Beschluss vom 23.04.2015 (1 Ws 170/15) bei der Prüfung der Beiordnungsvoraussetzungen einen Vergleich der räumlichen Entfernungen zwischen Gericht und dem Kanzleiort des Verteidigers sowie der Größe des Landgerichtsbezirks vorgenommen hat. Denn hiermit hat das Oberlandesgericht seine Einzelfallentscheidung lediglich dahingehend begründet, dass der Umstand der Ortsferne im dortigen Einzelfall gerade keine Gefährdung der sachdienlichen Verteidigung und des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs darstellt. Sofern das Landgericht darauf abstellt, dass diese Argumentation nicht übertragbar sei, weil der Amtsgerichtsbezirk Hannover deutlich kleiner sei als der Landgerichtsbezirk Osnabrück und dementsprechend vergleichbare Reisekosten bei der Auswahl eines ortsansässigen Verteidigers nicht entstünden und deshalb der (umfassend verstandene) Mehrkostenausschluss angemessen sei, folgt der Senat dem nicht. Denn der bloße Vergleich der Höhe der Reisekosten entbindet das Gericht nicht von der Prüfung der Beiordnung nach den oben genannten Grundsätzen. Andernfalls wäre eine erhebliche Einschränkung dieser Grundsätze zur Verteidigerauswahl gegeben, weil dann faktisch lediglich noch Beiordnungen von Rechtsanwälten aus dem Bezirk des Amtsgerichts Hannover in Betracht kämen.

Die Auffassung des Landgerichts, dass nur ein (umfassend verstandener) Mehrkostenausschluss den hinreichenden Schutz der Fiskalinteressen gewährleiste und damit eine missbräuchliche Anwendung verhindere, teilt der Senat nicht. Gerade im Hinblick auf eine missbräuchliche Anwendung gilt die freie Auswahlmöglichkeit hinsichtlich des zu bestellenden Pflichtverteidigers für den Beschuldigten nicht unbegrenzt, sondern das Kriterium der Ortsnähe ist noch immer in die Prüfung der Beiordnungsvoraussetzungen einzubeziehen und kann in einem entsprechenden Einzelfall einer Bestellung entgegenstehen.“

M.E. für den Sachverhalt richtig. Man kann natürlich darum streiten, ob die Einschränkung „keine Mehrkosten“ überhaupt zulässig ist, aber der Streit bringt m.E. nichts. Die h.M. in der Rechtsprechung geht in die andere Richtung. Interessant auch die Ausführungen des OLG zum Kriterium „Ortsnähe“ – „in einem entsprechenden Einzelfall einer Bestellung entgegenstehen“. Generell also nicht (mehr).