Archiv für den Monat: August 2018

Verfahrensrüge I: Scharfes Schwert, oder: Der BGH schlägt mal wieder zu

entnommen wikimedia.org
Urheber Harald Bischoff

Auf den BGH, Beschl. v. 08.02.2018 – 3 StR 400/17 – hatte ich ja bereits einmal hingewiesen, und zwar im Hinblick auf die Ermächtigungsgrundlage für das Versenden stiller SMS (vgl. hier: Handy II: Der BGH und die “stille SMS”, oder: Wo ist die Ermächtigungsgrundlage?).

Der Beschluss ist aber darüber hinaus von Interesse, und zwar für den Revisionsrechtlicher, da der BGH zu den Anforderungen verschiedener Verfahrensrügen Stellung genommen hat. Den „kundigen“ Leser wird es nicht erstaunen, dass jeweils die Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht erfüllt waren; das „scharfe Schwert“ des Revisionsrecht:

„a) Die Rüge, das Kammergericht hätte zur Überprüfung der Verwertbarkeit verfahrensfremder Telekommunikationsüberwachungserkenntnisse die vollständigen Akten der Drittverfahren beiziehen müssen (II.1. der Revisionsbegründung), ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Rügt die Revision eine unterlassene Beiziehung von Akten, handelt es sich der Sache nach um eine Aufklärungsrüge gemäß § 244 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. November 2004 – 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 327; vom 17. Juli 2008 – 3 StR 250/08, NStZ 2009, 51 f.). Der erforderliche Tatsachenvortrag muss sich daher auch darauf erstrecken, aufgrund welcher Umstände sich das Tatgericht zur Beiziehung der verfahrensfremden Akten hätte gedrängt sehen müssen.

In Bezug auf die Überprüfung der Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gilt, dass dem eine solche Maßnahme anordnenden Richter bei der Prüfung nach § 100a StPO, ob ein auf bestimmte Tatsachen gestützter Tatverdacht gegeben ist und der Subsidiaritätsgrundsatz nicht entgegensteht, ein Beurteilungsspielraum zusteht. Die Nachprüfung durch den Tatrichter – und durch das Revisionsgericht -, ob die Anordnung rechtmäßig war und die Ergebnisse der Überwachung verwertbar sind, ist daher auf den Maßstab der Vertretbarkeit beschränkt (BGH, Urteil vom 16. Februar 1995 – 4 StR 729/94, BGHSt 41, 30, 33 f.). Ist die Darstellung der Verdachts- und Beweislage im ermittlungsrichterlichen Beschluss plausibel, kann sich der erkennende Richter in der Regel hierauf verlassen. Fehlt es jedoch an einer ausreichenden Begründung oder wird die Rechtmäßigkeit der Maßnahme konkret in Zweifel gezogen, hat der erkennende Richter die Verdachts- und Beweislage, die im Zeitpunkt der Anordnung gegeben war, anhand der Akten zu rekonstruieren und auf dieser Grundlage die Verwertbarkeit zu untersuchen. War die Überwachung der Telekommunikation in einem anderen Verfahren angeordnet worden, hat er hierzu in der Regel die Akten dieses Verfahrens beizuziehen (BGH, Beschluss vom 1. August 2002 – 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362, 367). Um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob die jeweiligen Anordnungen der Überwachungsmaßnahmen ausreichend und plausibel begründet waren und das Kammergericht sich mangels konkreter Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnungsbeschlüsse auf deren Begründungen verlassen durfte, hätte der Revisionsführer jedenfalls alle in den hiesigen Verfahrensakten enthaltenen ermittlungsrichterlichen Beschlüsse mitteilen müssen. Daran fehlt es hier, weil die gegen den gesondert Verfolgten A. erlassenen Beschlüsse 6 BGs 83/14 vom 8. April 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 113), 6 BGs 260/14 vom 30. Dezember 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 122), 6 BGs 80/14 vom 8. April 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 124), 6 BGs 141/14 vom 7. Juli 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 127), 6 BGs 202/14 vom 7. Oktober 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 130) und 6 BGs 259/14 vom 30. Dezember 2014 (Sbd. TKÜ Haftbefehl Bl. 133) nicht vorgelegt werden. Auch der ermittlungsrichterliche Beschluss vom 16. Juli 2015 – 6 BGs 251/15 – aus dem gegen K. geführten Verfahren ist Bestandteil der hiesigen Verfahrensakten (Sbd. Kontakte D. – K. Bl. 83), wird jedoch von der Revision nicht mitgeteilt. Und schließlich legt der Beschwerdeführer nicht dar, welche Teile aus verfahrensfremden Akten Bestandteil der hiesigen Verfahrensakten geworden sind. Damit ist dem Senat die Prüfung verwehrt, ob das Kammergericht bereits aufgrund der entsprechenden Akteninhalte die Rechtmäßigkeit der verfahrensfremden ermittlungsrichterlichen Anordnungen kontrollieren konnte oder ob es darüber hinaus die vollständigen Akten hätte beiziehen müssen.

b) Die Rüge der Verletzung des § 250 Satz 2 StPO durch Verlesung polizeilicher Observationsberichte und weiterer polizeilicher Vermerke und Berichte (II.3. der Revisionsbegründung) ist neben den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen im Hinblick auf den im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführten polizeilichen Schlussbericht auch deshalb unbegründet, weil dessen Verfasser in der Hauptverhandlung als Zeuge auch zum Inhalt dieses Berichts vernommen wurde. Damit handelte es sich um eine zulässige vernehmungsergänzende Verlesung (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2007 – 1 StR 350/07, NStZ-RR 2008, 48). Da der in § 250 Satz 2 StPO normierte Vorrang des Personalbeweises den grundsätzlich zulässigen (BGH, Urteil vom 16. Februar 1965 – 1 StR 4/65, BGHSt 20, 160, 161 f.) Urkundenbeweis nicht weiter als für seine Zielsetzung einer besseren Sachaufklärung erforderlich einschränkt, ist die eigenständige Beweisverwendung des Inhalts einer verlesenen Urkunde auch dann zulässig, wenn sie beispielsweise Lücken der Zeugenaussage schließt (vgl. im Einzelnen LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 250 Rn. 17 ff.). Eine solche Urkunde kann dabei auch im Wege des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 StPO zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden, wenn es nicht ausnahmsweise darauf ankommt, einen in ihr enthaltenen bestimmten Wortlaut unmittelbar mit den Verfahrensbeteiligten zu erörtern (LR/Mosbacher, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 46, 53; aA LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 250 Rn. 17 aE).

c) Die Unzulässigkeit der Rüge der vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts (§ 338 Nr. 1, § 222b StPO) ergibt sich entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts nicht schon daraus, dass die Revision das Protokoll des ersten Hauptverhandlungstages nicht vorgelegt und damit belegt hat, dass der Besetzungseinwand nach § 222b StPO vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache erhoben wurde. Denn der Revisionsführer erfüllt seine die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge bewirkende Pflicht aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bereits mit insoweit vollständigem Vortrag aller entscheidungserheblichen Tatsachen. Ob die von der Revision behaupteten Verfahrenstatsachen als erwiesen angesehen werden können, ist jedoch eine Frage des Beweises, deren Beantwortung dem Revisionsgericht obliegt (vgl. KK-Gericke, StPO, 7. Aufl., § 344 Rn. 40 mwN).

Die Unzulässigkeit der Rüge folgt indes daraus, dass die Revision den die Maßnahmen bei Überlastung des 1. Strafsenats regelnden Teil des Geschäftsverteilungsplans des Kammergerichts für das Jahr 2016 (III.B.2.5.) nicht mitgeteilt hat und dieser für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der unterjährigen Übertragung von Zuständigkeiten des 1. Strafsenats auf den 2. Strafsenat von Bedeutung war. Im Übrigen wäre die Rüge aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Erwägungen auch unbegründet.“

OWi III: Nochmals „zwei Künstler“, oder: Wenn der Amtsrichter dem Betroffenen den A…. rettet

© fotomek – Fotolia.com

Der ein oder andere Leser wird sich erinnern, dass ich im vergangenen Jahr über den OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.05.2017 – 1 RBs 55/16 berichtet habe (Zwei “Künstler” am Werk, oder: Wenn der Amtsrichter den Verteidiger “rettet”).

Jetzt stelle ich den OLG Hamm, Beschl. v. 22.06.2018 – III – 2 RBs 86/18 – vor, der eine ähnliche Konstellation zum Gegenstand hat. Auch hier hatte der Verteidiger einen (Beweis)Antrag gestellt, der mit „ob“ formuliert war. An sich tötlich für einen Antrag, weil dann die Annahme eines Beweisermittlungsantrages nahe liegt und das Gericht nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 StPo gebunden ist. Das AG springt aber nicht auf den Zug, sondern macht es sich einfach und bescheidet den Antrag lieber gleich gar nicht. Das rettet dann aber wieder den Verteidiger/den Betroffenen. Denn das ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und führt zur Aufhebung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG:

„Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat mit der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs einen – zumindest vorläufigen – Erfolg.

Die Rüge ist in zulässiger Form erhoben worden. Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist wie eine Verfahrensrüge, also gemäß 344 Abs. 2 §. 2 StPO zu begründen. Es müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden, so dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen der Rechtsbeschwerde zutrifft (zu vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Auflage, 344 Rdnr. 21 f). Diesen Anforderungen genügt die Begründung der Rechtsbeschwerdebegründung.

So ist nach den Darlegungen des Betroffenen ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 19.02.2018 auf den Schriftsatz vom 30.01.2018 sowie Anlage 2 des Sitzungsprotokolls in der Hauptverhandlung Bezug genommen und diese verlesen worden (BI. 136 d.A.). Anlage 2 des Sitzungsprotokolls beinhaltet jedoch einen Beweisantrag hinsichtlich der Vernehmung der Messbeamten N. und G. (BL 142 d.A.), hinsichtlich dessen eine Bescheidung nicht erfolgt und welcher entgegen § 273 StPO auch nicht protokolliert worden ist. Seitens des Amtsgerichts entschieden wurde lediglich über den ebenfalls in dem Schriftsatz enthaltenen Widerspruch gegen die Bekanntgabe des wesentlichen Inhalts des Messprotokolls. Anhaltspunkte dafür, dass seitens des Betroffenen erklärt worden wäre, dass über den Beweisantrag nicht entschieden werden solle, ergeben sich zudem nicht.

Insoweit kann auch dahinstehen, ob es sich bei dem gestellten Antrag um einen Beweisantrag oder einen Beweisermittlungsantrag handelt, weil nach dem Vorbringen des Betroffenen dieser letztlich Beweis darüber begehrt, „ob“ bestimmte Tatsachen vorgelegen haben. Dies ändert indes nichts daran, dass über den Antrag eine Entscheidung hätte getroffen werden müssen, entweder durch die Anordnung des Tatrichters, dass dem Begehren nachzugehen ist, oder aber durch die Ablehnung des Antrags, die nach 34 StPO so zu begründen gewesen wäre, dass der Antragsteller über den Grund der Ablehnung ausreichend unterrichtet und dadurch in die Lage versetzt wird, sein weiteres Prozessverhalten darauf einzustellen und eventuell weitere Beweisanträge zu stellen (zu vgl. BGH, Beschluss vom 02.10.2010 – 3 StR 373/07 -). Eine solche Entscheidung ist unerlässlich, denn der Antragsteller darf – schon aufgrund seines Anspruchs auf rechtliches Gehör – nicht im Unklaren darüber gelassen werden, warum seinem Antrag nicht nachgegangen wird (zu vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.05.2017 – IV 1 RBs 55/16 -). Gegen diese Grundsatze, die nicht nur für die Anwendung des   244 StPO im Strafverfahren, sondern nach 71 OWiG (mit den Einschränkungen des § 77 OWiG) auch im Bußgeldverfahren gelten (zu vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.) hat das Amtsgericht durch die völlige Außerachtlassung und Nichtbescheidung des zur Rede stehenden Beweisbegehrens verstoßen und hierdurch den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt (zu vgl. BVerfG, NJW 1992, 2811, OLG Hamm, NZV 2008, 417).“

Und: Schönschreiben ist angesagt:

„Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich das Protokoll der Hauptverhandlung in Teilbereichen an der Grenze zur Unleserlichkeit bewegt und es dadurch seiner sich aus §§ 273. 274 StPO ergebenden Bedeutung kaum noch gerecht wird.“

OWi II: „Ich war nicht der Fahrer“, oder: Das anthropologische Identitätsgutachten im Urteil

© dedMazay – Fotolia.com

Auch schon etwas älter ist der KG, Beschl. v. 26.01.2018 – 3 Ws (B) 11/18, der noch einmal zu den Anforderungen an die Darstellung eines anthropologischen Vergleichsgutachtens im Urteil Stellung nimmt. Es geht um ein Verfahren wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO – Mobiltelefon im Straßenverkehr. Der Betroffene hatte bestritten, Fahrer gewesen zu sein. Das AG ist aufgrund eines anthropolgischen Gutachtens von der Fahrereigenschaft des Betroffenen ausgegangen. Dem AKG reichen die Urteilsgründe des AG:

„dd) Misst das Tatgericht – wie vorliegend – einem Sachverständigengutachten Beweisbedeutsamkeit bei, so muss es die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch gerade in Bußgeldsachen nur gedrängt) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wenigstens insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. Beschlüsse des Senats vom 13. Februar 2017 a.a.O.; 20. September 2016 a.a.O.; 30. Juli 2015 – 3 Ws (B) 368/15 -; 20. Mai 2014 – 3 Ws (B) 271/14 – = VRS 111, 449, juris m.w.N.; 13 September 2012 – 3 Ws (B) 512/12 – und 11. Januar 2010 – 3 Ws (B) 730/09 -). Der Umfang der Darlegungspflicht hängt dabei von der Beweislage und der Bedeutung der Beweisfrage, die dieser für die Entscheidung zukommt, ab (vgl. BGH NStZ 2000, 106, juris Rn. 2). Eine im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränkte Darstellung kann nur in Ausnahmefällen ausreichen, wenn sich das Gutachten auf eine allgemein anerkannte und standardisierte Untersuchungsmethode gründet und von keiner Seite Einwände gegen die Zuverlässigkeit der Begutachtung erhoben werden. In anderen Fällen sind neben den wesentlichen tatsächlichen Grundlagen und den daraus vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen (Befundtatsachen) vor allem auch die das Gutachten tragenden fachlichen Begründungen auszuführen (vgl. BGHSt 39, 291, juris Rn. 19 ff.).

ee) Bei einem – wie hier – anthropologischen Identitätsgutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränken kann, denn von einem gesicherten Stand der Wissenschaft in diesem Bereich kann nicht die Rede sein (vgl. BGH NStZ 2005, 458, juris Rn. 16; Senat, Beschlüsse vom 13. September 2012, 20. September 2016 und 13. Februar 2017 jeweils a.a.O.). Erforderlich ist daher in den Urteilsgründen eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungs-tatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung, so dass die bloße Aufzählung der mit einem Foto übereinstimmenden morphologischen Merkmalsprägungen eines Betroffenen nicht ausreicht (vgl. OLG Bamberg NZV 2008, 211, juris Rn. 10; OLG Celle NZV 2002, 472, juris Rn. 6 ff.). Enthält das anthropologische Sachverständigengutachten – wie im vorliegenden Fall – keine Wahrscheinlichkeitsberechnung, so muss das Urteil, da den einzelnen morphologischen Merkmalen jeweils eine unterschiedliche Beweisbedeutung zukommt, Ausführungen dazu enthalten, welchen der festgestellten Übereinstimmungen – gegebenenfalls in Kombination mit anderen festgestellten Merkmalen – eine besondere Beweisbedeutung zukommt, das heißt, welche Aussagekraft der Sachverständige den Übereinstimmungen zumisst und wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet hat (vgl. Thüringer OLG VRS 122, 143, juris Rn. 17).

ff) Den vorgenannten Anforderungen werden die eingehenden Ausführungen im angefochtenen Urteil zur Beweiswürdigung, soweit sie sich auf die Fahrereigenschaft des Betroffenen beziehen, in ihrer Gesamtheit gerecht. Lückenlos und nachvollziehbar teilt das Tatgericht seine Überzeugungsbildung zur Fahrereigenschaft des Betroffenen in den Urteilsgründen mit. Insbesondere hat es die einzelnen, von der Sachverständigen im Messfoto festgestellten morphologischen Merkmalsprägungen im Detail beschrieben, sich sodann jeweils zu deren Abgleich mit dem in der Hauptverhandlung durch die Sachverständige gefertigten Vergleichsfoto vom Betroffenen Bl. 149 d.A. (oben rechts), auf das das Amtsgericht ebenfalls nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug genommen hat, bzw. mit dem Erscheinungsbild des Betroffenen verhalten und schließlich Ausführungen zur Gewichtung der einzelnen Merkmale, bezüglich derer es in allen 37 Prägungen ausnahmslos Übereinstimmungen feststellte, gemacht.“

OWi I: Wenn ein Attest „Bettlägrigkeit“ bescheinigt, oder: Dann darf man zu Hause bleiben

© psdesign1 – Fotolia.com

Heute dann mal ein wenig Verfahrensrecht aus dem Bußgeldverfahren. Und den Opener macht dann endlich der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.03.2018 – 3 OWi Qs 62/17, den mir der Kollege Lehn vor einiger Zeit geschickt hat. Bisher habe ich ein Posting dazu immer wieder verschoben, heute ist er dran.

Es geht um Terminsverlegung wegen Erkrankung des Betroffenen im Bußgeldverfahren. Hauptverhandlung soll m 13.09.2017 um 08.40 Uhr sein. Der Verteidiger des Betroffenen beantragte am 13.09.2017 um 7:30 Uhr, den Termin aufzuheben. Begründung: Der Betroffene sei bettlägerig erkrankt. Beigefügt wird ein Attest, dass einen grippalen Infekt bescheinigt, „aufgrund dessen der Betroffene vom 11.09.2017 bis 14.09.2017 bettlägerig gewesen sei“. Im Hauptverhandlungstermin erscheint dann niemand. Das AG verwirft den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG. Der Wiedereinsetzunsgantrag wird zurückgewiesen. Zur Begründung bezieht sich das AG auf ein Telefonat mit dem Arzt des Betroffenen. Der habe angegeben, dass der Betroffene eine Erkältung gehabt habe, er habe aber lediglich Bettruhe empfohlen. Der Betroffene sei reise- und verhandlungsfähig gewesen.Das LG hat auf die Beschwerde des Betroffenen aufgehoben und Wiedereinsetzung gewährt:

„b) Es liegt auch ein Wiedereinsetzungsgrund vor, da das Nichterscheinen des Betroffenen zum Termin am 13.09.2017 unverschuldet war.

Eine Wiedereinsetzung ist bei der Versäumung eines Hauptverhandlungstermins gemäß §§ 74 Abs. 4, 52 Abs. 1 OWiG, § 44 StPO zu gewähren, wenn der Betroffene ohne sein Verschulden verhindert war, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Dies muss der Betroffene gemäß § 52 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 45 StPO vortragen und auch glaubhaft machen, ohne dass das Gericht eine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts trifft.

Entschuldigt ist der Betroffene nicht nur, wenn ihm wegen einer Erkrankung die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zugemutet werden kann, sondern auch dann, wenn der Betroffene auf die entschuldigende Wirkung eines Attest vertraut (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO. 60. Auflage 2017, § 329 Rnr. 26 a.E.; OLG München StraFo 2013,208).

Dies ist vorliegend der Fall. Der Betroffene hat ein ärztliches Attest vorgelegt, aufgrund dessen Inhalts er davon ausgehen durfte, genügend entschuldigt zu sein. Der Verteidiger des Betroffenen hatte am Terminstag um 7.30 Uhr ein ärztliches Attest des Dr. med. pp. vom 13.09.2017 an das Amtsgericht Erlangen gefaxt. In diesem wurde dem Betroffenen aufgrund Vorsprache des Betroffenen beim Arzt vom selben Tag ein grippaler Infekt attestiert/aufgrund dessen der Betroffene vom 11.09.2017 bis 14.09.2017 bettlägerig gewesen sei. Bei attestierter mehrtägiger Bettlägerigkeit durfte der Betroffene davon ausgehen, ausreichend entschuldigt zu sein.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Ergebnis der Nachfrage des Richters am Amtsgericht bei dem das Attest ausstellenden Arzt. Insbesondere hat die Nachfrage nicht ergeben, dass das Attest falsch ist. Vielmehr bestätigte der Arzt, dass der Betroffene erkrankt war und er diesem Bettruhe empfohlen hat. Auch die Tatsache, dass der Arzt sich selbst in der Lage gesehen hätte, in diesem Zustand einen 15 minütigen Termin wahrzunehmen, führt nicht dazu, dass es sich um ein falsches ärztliches Attest handelte.

Somit durfte der Betroffene, der ärztlich festgestellt erkrankt und dem Bettruhe empfohlen worden war, aufgrund des Inhalts des ihm ausgestellten Attests davon ausgehen, ausreichend entschuldigt zu sein. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob ihm eine Anreise aus und die Teilnahme an der Hauptverhandlung aus gesundheitlichen Gründen am 13.09.2017 tatsächlich zumutbar gewesen wäre oder nicht.“

U-Haft II: Wenn Polizei/StA/Gerichte viel zu tun habe, oder: U-Haft darf deswegen nicht länger dauern

© Elena Schweitzer – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung kommt vom KG. Sie ist schon etwas älter, passt aber ganz gut zur Diskussion um die Überlastung der Gerichte. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 15.01.2018 – (4) 161 HEs 62/17. Ergangen ist er im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO. Das KG hat den Haftbefehl gegen den Angeklagten aufgehoben. Es verneint die „besondere Schwierigkeit“ der Ermittlungen und verneint dann auch einen „sonstigen wichtigen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft“:

Dazu führt es u.a. zur Überlastung von Ermittlungsbehörden und Gerichten aus:

aa) Ein solcher Grund ist nur dann gegeben, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegen wirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. Senat StV 2015, 45; Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 19, 21 m.w.Nachw.). Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt in diesem Zusammenhang lediglich eine Höchstgrenze dar. Aus der genannten Vorschrift kann nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass ein Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots geführt werden müsse (vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 18. August 2017 – [4] 161 HEs 33/17 [15/17] –, 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – und 13. August 2012 – [4] 141 HEs 63/12 [27/12] – m.w.Nachw.). Vielmehr verlangt der in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz, dass die Strafverfolgungs-behörden und Strafgerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2010 – [4] 1 HEs 7/10 [3-4/10] – m.w.Nachw.). Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch eines Beschuldigten und dem öffentlichen Strafverfolgungs-interesse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (vgl. Senat, Beschluss vom 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – m.w.Nachw.). Nicht entscheidend ist dabei, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG StraFo 2009, 375; KG StraFo 2007, 26; Senat StraFo 2013, 506; Beschluss vom 4. Dezember 2009 – 4 Ws 123/09 –; jeweils m.w.Nachw.). Je nach Sachlage kann bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG StV 2007, 644; OLG Naumburg StV 2007, 364; Senat StraFo 2013, 505; jeweils m.w.Nachw.), wobei zu beachten ist, dass das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung im Jugendstrafverfahren eine noch einmal gesteigerte Ausprägung findet (vgl. KG, Beschluss vom 19. März 2011 – [5] 1 HEs 24/01 [5/01] – [juris]; Senat StraFo 2013, 502; Beschluss vom 6. Dezember 2011 – [4] 1 HEs 78/11 [60/11] – m.w.Nachw.).

bb) In Bezug auf eingetretene Verzögerungen kommt es nicht auf ein „Verschulden“ der bei den Ermittlungsbehörden oder Gerichten handelnden Amtswalter an, sondern allein darauf, ob die Verzögerungen der Sphäre des Staates zuzurechnen sind oder nicht (vgl. BVerfG StV 2006, 703). Die nicht nur kurzfristige, unvorhersehbare Belastung der mit Untersuchungshaftsachen befassten Spruchkörper infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzureichender personeller Ausstattung, der nicht durch alle möglichen gerichtsorganisatorischen Mittel, notfalls unter Heranziehung von Zivilrichtern, begegnet worden ist, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 22 mit zahlr. Nachw.; zu überlastungsbedingten Verfahrensverzögerungen nochmals ausführlich: OLG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2016 – 1 HEs 2/16; 1 HEs 3/16 – [juris]; s. auch KG, Beschluss vom 3. Juni 2016 – [5] 141 HEs 41/16 [8/16] –; Senat StV 2017, 450).

 

Das BVerfG hat sich hierzu zuletzt (StV 2015, 39 = JR 2014, 488 mit zust. Anm. Schäfer) nochmals in aller Klarheit wie folgt geäußert: „Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>). (…) Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>)“.

Diese Grundsätze haben gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen zu gelten. Auch die – nicht nur kurzfristige, auf unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse zurückgehende – Überlastung der Ermittlungsbehörden infolge einer Häufung anhängiger Untersuchungshaftsachen und/oder unzureichender personeller Ausstattung kann nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO anerkannt werden. Deren Überlastung fällt, wie die eines Gerichts (vgl. BVerfG a.a.O.), in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Beschuldigte darf nicht länger als im o.g. Sinne verfahrensangemessen in Untersuchungshaft gehalten werden, nur weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht, (auch) die Ermittlungsbehörden personell und sachlich so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten in angemessener Zeit nachkommen können, zu genügen.“

Und dann wird nichts „gesund gebetet“, sondern:

cc) Bei Anwendung der dargestellten Rechtsgrundsätze zeigt sich, dass die Sachbehandlung im Ermittlungsverfahren den einzuhaltenden Anforderungen an die besondere Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht genügt hat.

…….

dd) Die mit der späten Anklageerhebung verbundene Verfahrensverzögerung von zwei Monaten kann die nunmehr mit der Sache befasste Jugendkammer nicht mehr hinreichend ausgleichen.

Zwar genügt die Sachbehandlung im gerichtlichen Verfahren für sich genommen dem Gebot besonderer Verfahrensbeschleunigung. Die Prüfung der Anklageschrift ist schnell geschehen und das Zwischenverfahren umgehend eingeleitet worden. Mit Verfügung der Anklagezustellung am 8. Dezember 2017 ist eine – angesichts des Aktenumfangs und Verfahrensstoffs sicher nicht unangemessen lange – Frist zur Stellungnahme von (nur) zehn Tagen bestimmt worden, mit deren Ablauf frühestens in der 51. Kalenderwoche 2017 Eröffnungsreife eintreten konnte. Mit dem geplanten Beginn der Hauptverhandlung am 1. März 2018 hält sich die Kammer deutlich innerhalb der nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zur Wahrung des Beschleunigungsgebots in der Regel einzuhaltenden Frist von drei Monaten zwischen Eröffnungsreife und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. BVerfG StV 2008, 421; Senat, Beschluss vom 5. August 2011 – [4] 1 HEs 39/11 [30-31/11] – jeweils m.w.Nachw.) und des von den Strafsenaten des Kammergerichts regelmäßig noch für hinnehmbar erachteten Zeitraums von vier Monaten zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. etwa Senat StraFo 2010, 26 m.w.Nachw.). Auch die von der Kammer vorgesehene weitere Gestaltung der Hauptverhandlung erfüllt die Anforderungen an die in Haftsachen gebotene konzentrierte Durchführung der Hauptverhandlung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche (zur Notwendigkeit einer genügenden Verhandlungsplanung und Verhandlungsdichte vgl. BVerfG StV 2008, 198, 199; Senat, Beschluss vom 17. September 2010 – 4 Ws 93/10 –, jeweils m.w.Nachw.).

Ein hinreichender Ausgleich der im Ermittlungsverfahren eingetretenen Verzögerung, der bei einem – unabhängig von der Auslastung der Kammer mit anderen beschleunigungsbedürftigen Haft- und Unterbringungssachen schon im Hinblick auf den umfangreichen Verfahrensstoff und die im Zwischen- und Hauptverfahren einzuhaltenden Fristen unrealistisch erscheinenden – Beginn der Hauptverhandlung vor Ende Januar 2018 hätte angenommen werden können, ist der Jugendkammer aber auch bei Ausschöpfung aller ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht möglich.