Archiv für den Monat: Juli 2018

Pflicht II: Kein Pflichtverteidiger bei richterlicher Vernehmung ==> kein Beweisverwertungsverbot, oder: Lippenbekenntnis

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Als zweite Entscheidung betreffend Pflichtverteidigungsfragen dann der OLG Hamm, Beschl. v. 15.05.2018 – 4 RVs 47/18. Eine in meinen Augen „erstaunliche“ Entscheidung. Warum? Dazu siehe unten.

Zunächst die Entscheidung, bei der das OLG über folgenden Sachverhalt zu entscheiden hatte: Dem Angeklagten ist der Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung gemacht worden. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ist die Belastungszeugin T richterlich vernommen worden. Der Angeklagte war von dieser Vernehmung ausgeschlossen, ohne dass ihm ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. In der Hauptverhandlung hat das AG u.a. den Vernehmungsrichter als Zeugen vernommen sowie einen Arztbericht verlesen und Lichtbilder in Augenschein genommen. Das AG hat den Angeklagte freigesprochen. Auf die gegen das Urteil gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg.

Das OLG meinet: Es hatte ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK   bestellt werden müssen. Denn jedenfalls im Verlauf der richterlichen Vernehmung, von der A gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen worden sei, habe sich abgezeichnet, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein würde.

Aber: Kein Beweisverwertungsverbot bze. der Verfahrensfehler führe aber nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage der richterlichen Verhörperson, sondern – vergleichbar mit Fällen einer pflichtwidrig versagten Beteiligung an der richterlichen Vernehmung oder des anonymen Zeugen – zu besonders strengen Beweis- und Begründungsanforderungen.

Warum nun eine erstaunliche Entscheidung? Erstaunlich m.E. deshalb, weil das OLG mit keinem Wort auf die durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) geschaffene neue Rechtslage eingeht, sondern sich auf die zum alten Recht ergangene Rechtsprechung zurückzieht (vgl. dazu BGHSt 34, 231; BGHSt NStZ 1998, 312; BGH StV 2017, 776; s.a. noch BGHSt 46, 93, 103). Zwar hat zum Zeitpunkt der Vernehmung der Belastungszeugin der neue § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO noch nicht gegolten, die Neuregelung hat aber genau den hier vom OLG entschiedenen Fall im Auge und sieht dafür jetzt zwingend die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor. Man hätte daher m.E. schon erwarten können/dürfen, dass sich das OLG im Hinblick auf die neue Rechtslage – ich gehe davon aus, dass dem OLG die bekannt ist – und die Intention des Gesetzgebers dann vielleicht doch mal zu der neu zu entscheidenden Frage eines Beweisverwertungsverbotes Stellung nimmt und nicht einfach nur „alten Wein in neuen Schläuchen“ präsentiert. An anderer Stelle hat man ja – wenn es zu Lasten der Angeklagten geht – auch kein Problem damit, die Neuregelung auf Altfälle anzuwenden (vgl. dazu OLG Rostock, Beschl. v. 03.11.2017 – 1 Ss 94/17 und Blutentnahme nach altem Recht – “gesund gebetet” nach neuem Recht, oder: Asche auf mein Haupt betreffend „Richtervorbehalt“). Hätte man das getan, hätte man m.E. nicht (mehr) guten Gewissens ein Beweisverwertungsverbot verneinen und sich auf die Beweiswürdigungslösung des BGH, die ja auch nicht unumstritten ist, zurückziehen müssen. Denn das Gesetz verlangt in dem hier entschiedenen Fall vergleichbaren Fällen jetzt ausdrücklich einen Pflichtverteidiger. Wird der nicht bestellt, wird man das sanktionieren müssen. Denn was sollen alle Gebote, wenn deren Übertretung keine Folgen haben soll? Dann sind sie nichts als Lippenbekenntnisse.

Pflichti I: Wiedererkennen auf Facebook, oder: Dann ist die Sachlage schwierig

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Heute dann zunächst mal zwei Entscheidungen zur Pflichtverteidigung. Zunächst ist es der LG Magdeburg, Beschl. v.20.06.2018 – 25 Qs 767 Js 8294/18 (56/18), den mir mal wieder der Kollege Funck aus Braunschweig geschickt hat. Vorgeworfen wird dem Angeklagten Nötigung sowie eine Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung. Der Angeklagte hat die Bestellung des Kollegen Funck als Pflichtverteidiger beantragt, was das AG abgelehnt hat. Dagegen die Beschwerde. Zur Begründung wird u.a. geltend gemacht, dass sich Zeugen den am wenigsten „unähnlichen“ Beteiligten einer Freundesgruppe auf „Facebook“ ausgesucht hätten und diesen dann als vermeintlich Verantwortlichen zur Rechenschaft hätten ziehen wollen. Es liege deshalb eine unzulässige Wahllichtbildvorlage vor, deren Aussagekraft für die Frage des Wiedererkennens gegen Null gehe. Das LG bestellt:

„Ersichtlich liegt hier die Schwere der Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht vor. Jedoch ist eine schwierige Sachlage insofern gegeben, worauf der Angeklagte zutreffend über seinen Verteidiger verweist, als der Geschädigte pp. sowie seine Freundin pp. im Rahmen ihrer Zeugenvernehmungen vom 28. Juli 2017 bzw. 08. August 2017 angegeben haben, sie hätten den Angeklagten auf der „Facebook“-Seite eines Freundes wiedererkannt. Erst sodann ist eine polizeiliche Wahllichtbildvorlage am 15. August 2017 mit pp. und pp. erfolgt, in deren Rahmen sie erneut den Angeklagten wiedererkannt haben.

Zutreffend weist der Verteidiger für den Angeklagten darauf hin, dass eine solche gewissermaßen zweite Wiedererkennung durch einen Zeugen insofern problembehaftet ist, als der Zeuge womöglich nicht den vermeintlichen Täter selbst wiedererkennt, sondern lediglich die Person, die er im Rahmen der erstmaligen Wiedererkennung – in diesem Fall auf „Facebook“ – erkannt hat.

Gegenwärtig teilt die Kammer zwar die Bedenken des Angeklagten hinsichtlich der Auswahl der im Rahmen der Wahllichtbildvorlagen verwendeten Lichtbilder nicht. Gleichwohl stellt sich die Sachlage aufgrund der vorherigen Wiedererkennung auf dem Portal „Facebook“ als schwierig dar. Daher bedarf der Angeklagte zur adäquaten Verteidigung eines Pflichtverteidigers. Somit war der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg vom 15. Mai 2018 aufzuheben und Rechtsanwalt pp.  antragsgemäß als notwendiger Verteidiger des Angeklagten zu bestellen.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Verfahren in der HV hinzuverbunden – gibt es dann da auch Gebühren?

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Die Frage vom vergangenen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Verfahren in der HV hinzuverbunden – gibt es dann da auch Gebühren? stammte ja aus dem Rechtspflegerforum. Da hatte es zu der Frage folgende Anmerkung/Antwort gegeben:

„Wie kann die Terminsgebühr unstreitig sein, ohne dass die anderen Gebühren angefallen sind? Eine TG kann nicht alleine stehen. Entweder der Verteidiger ist schon vor der Verbindung tätig gewesen. Das kann nur unmittelbar davor im Termin passiert sein laut Deiner Schilderung. Dann wären mit dieser ersten Tätigkeit gleichzeitig GG, VG und TG ausgelöst worden. Oder es wurde hinzuverbunden und dann erst erfolgte die erste Tätigkeit im Verfahren C. In diesem Fall wären überhaupt keine gesonderten Gebühren für C abrechenbar, weil alles unter dem führenden Verfahren läuft.“

Das ist auf den ersten Blick so nicht von der Hand zu weisen, allerdings bleibt dabei außen vor, dass die obergerichtliche Rechtsprechung  inzwischen – die Frage ist schon etwas älter – davon ausgeht, dass Voraussetzung für das Entstehen der Terminsgebühr ist, dass in dem hinzuverbundenen Verfahren eine Eröffnungsentscheidung ergangen ist 8vgl. OLG Bremen NStZ-RR 2013, 128; OLG Dresden AGS 2009, 223 = RVGreport 2009, 62; LG Dortmund RVGreport 2017, 261). Und das war hier wohl nicht der Fall. es kommt also – wie immer in diesen Verbindungsfällen – auf die Einzelheiten an.

Haft II: BVerfG u.a. zur Fluchtgefahr, oder: „Butter bei die Fische“

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Bei der zweiten Haftentscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 25.06.2018 – 2 BvR 631/18. Entschieden hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten gegen Haft(fort)dauerbeschlüsses des LG Augsburg und des OLG München. Der Beschuldigte befindet sich seit dem 18.12.2017 inHaft. Der Haftbefehl ist auf den dringenden Tatverdacht einer Geiselnahme, gefährlichen Körperverletzung und Bedrohung gemäß §§ 239b, 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 4, 240 StGB und die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt. Das BVerfG moniert – mal wieder – eine nicht ausreichende Begründung der ergangenen Haftentscheidungen, also Stichwort: Begründungstiefe:

„2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Augsburg vom 13. Februar 2018 und des Oberlandesgerichts München vom 9. März 2018 nicht gerecht, weil sie die von Verfassungs wegen gebotene Begründungstiefe nicht erreichen.

a) Die Entscheidung des Landgerichts vom 13. Februar 2018 enthält über eine lediglich formelhafte Begründung hinaus keine näheren Ausführungen zur Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft; sie genügt verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen offensichtlich nicht.

b) Die Erwägungen des Oberlandesgerichts zu den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft sind abstrakt gehalten, tragen den Umständen des Einzelfalles nicht angemessen Rechnung, sind zudem lückenhaft und insgesamt nicht hinreichend nachvollziehbar.

aa) Von der dem Beschwerdeführer drohenden erheblichen Freiheitsstrafe abgesehen, benennt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts keine konkreten Anhaltspunkte, die die Gefahr einer Flucht – insbesondere ins Ausland – zumindest nahelegen würden. Maßgebliche, gegen eine Flucht sprechende Umstände werden nicht erörtert. Es bleibt daher unklar, ob diese durch das Gericht zutreffend berücksichtigt worden sind. Der Beschwerdeführer ist nach den – insoweit nicht zu beanstandenden – Ausführungen des Oberlandesgerichts sozial und beruflich in Deutschland fest verankert. Nach seinen unwiderlegten Ausführungen mit Schriftsatz vom 9. März 2018 hat er in jüngerer Zeit erhebliche finanzielle Investitionen in seine Zahnarztpraxis getätigt. In Kenntnis der durch den Geschädigten unmittelbar nach der Tat erstatteten Anzeige hat er sich noch kurz vor seiner Festnahme mit der gesondert verfolgten P. zu zukünftigen Abrechnungsfragen in der Gemeinschaftspraxis ausgetauscht, was gegen die Annahme des Oberlandesgerichts spricht, er werde die Praxis nicht fortführen, sondern sich ins Ausland absetzen. Auch nach dem durch die Kriminalpolizei telefonisch erfolgten Hinweis auf laufende Durchsuchungsmaßnahmen ist der Beschwerdeführer nicht geflüchtet, sondern hat sich mit seinem Verteidiger unverzüglich zu seiner zu diesem Zeitpunkt noch in Durchsuchung befindlichen Wohnung begeben. Konkrete Feststellungen zu Erfahrungen oder Kontakten des Beschwerdeführers, die ein Leben im Ausland „auf der Flucht“ ermöglichen könnten, sind ebensowenig getroffen wie zu seinen nach der Auffassung des Oberlandesgerichts eine solche Flucht ermöglichenden finanziellen Ressourcen. Dass diese letztlich auf Vermutungen statt auf gesicherter Grundlage beruhen, zeigt der Umstand, dass in den polizeilich ausgewerteten Telekommunikationsvorgängen zwischen dem Beschwerdeführer und der Beschuldigten P. erhebliche Ausgleichsverpflichtungen des Beschwerdeführers an seinen Sozius erwähnt werden, die er mit dem Hinweis kommentierte, er könne diesen nicht nachkommen. Die in der angegriffenen Entscheidung aufgezeigte Möglichkeit einer zahnärztlichen Tätigkeit „im Ausland“ bleibt rein spekulativ.

Im Hinblick auf eine angenommene Verdunkelungsgefahr genügt die angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlich gebotenen Begründungsanforderungen ebenfalls nicht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer beabsichtigt hat, die Aufklärung der Tat unlauter zu verhindern oder zu erschweren, hat das Oberlandesgericht in seiner angegriffenen Entscheidung nicht benannt. Darüber hinaus ist nicht dargetan, dass etwaige Verdunkelungshandlungen angesichts des in dem hier maßgeblichen Zeitraum der Untersuchungshaft bereits fortgeschrittenen Ermittlungsstadiums überhaupt noch erfolgversprechend hätten sein können. Soweit das Gericht bei Herleitung der Verdunkelungsgefahr auf das vorangegangene Verhalten des Beschwerdeführers abstellt, hat es dieses lediglich punktuell gewürdigt. Im Hinblick auf mögliche Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers durch eine Beeinflussung des Geschädigten fehlt eine erkennbare Befassung mit dem Umstand, dass der Geschädigte sich nach der Tat weiterhin (auch) in München aufgehalten hat, ohne dass der Beschwerdeführer bis zu seiner Festnahme versucht hätte, auf ihn einzuwirken. Durch das Oberlandesgericht unerwähnt bleibt ferner, dass der Geschädigte seinerseits den unmittelbaren Kontakt zu dem Beschwerdeführer gesucht und ihn in dessen Zahnarztpraxis aufgesucht hatte. Kurz nach der Tat hatte der Geschädigte den Beschwerdeführer zudem in einer elektronischen Nachricht von seiner Strafanzeige berichtet, ihm seine Adresse in Frankreich mitgeteilt und – nach Aktenlage – versucht, den Beschwerdeführer dazu zu provozieren, ihn – den Geschädigten – aufzusuchen („P., this is my address … Come and kill me“). Ferner setzt sich der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht damit auseinander, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Durchsuchungsmaßnahme freiwillig den Tresor öffnete, in dem sich eine Schreckschusspistole mit DNA-Anhaftungen des Geschädigten befand, und insoweit Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlungsbehörden zeigte.

bb) Schließlich ist die Verhältnismäßigkeit der Haft nicht hinreichend begründet. Der Hinweis auf die bis dahin lediglich kurze Dauer der Haft genügt schon deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 9. März 2018 detailliert dargelegt hatte, auch eine bereits kurze Haft könne sich für seine Praxis und ihn irreparabel existenzvernichtend auswirken. Ob dieser Umstand in die Abwägung eingeflossen ist, lässt sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts nicht entnehmen.2

Also: „Butter bei die Fische“ ist die Devise bei Haftentscheidungen. Ich frage mich, warum das BVerfG das immer wieder betonen muss…..

Haft I: Fortdauer der U-Haft, oder: Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit

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Author Denis Barthel

In die 30. KW. starte ich mit zwei Haftentscheidungen. Zunächst weise ich hin auf den BGH, Beschl. v. 30.05.2018 – StB 12/18, mit dem der BGH eine Haftbeschwerde gegen einen Haftfortdauerbeschluss des OLG Stuttgart verworfen hat. Das hat den Angeklagten mt Urteil vom 20.09.2017 u.a. wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der GBARevision mit dem Ziel der Änderung des Schuldspruchs und der dadurch bedingten Aufhebung des Strafausspruchs eingelegt. Die hatte keinen Erfolg. M.E. ganz interessant, was der BGH zur Fluchgefahr und zur Verhältnismäßigkeit ausführt:

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht fort. Das Verfahren ist nicht rechtskräftig abgeschlossen. Ob die vom Oberlandesgericht verhängte Freiheitsstrafe Bestand hat, bleibt der Revisionsentscheidung sowie einem sich daran gegebenenfalls anschließenden neuen Erkenntnisverfahren vorbehalten. Damit kann hier bei der Beurteilung des Fluchtanreizes nicht allein auf die sogenannte Nettostraferwartung (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) und zwar bemessen an der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten abgestellt werden (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 9). Schon der aufgrund des Strafausspruchs des Oberlandesgerichts noch verbleibende Strafrest von etwa einem Jahr und zehn Monaten in Verbindung mit dem Fortgang des Strafverfahrens begründet für den Angeklagten angesichts des Umstands, dass er in Deutschland über keine ausreichenden sozialen Bindungen verfügt, einen erheblichen Fluchtanreiz.

Der Fluchtanreiz wird insbesondere dadurch verstärkt, dass die Mutter des Angeklagten und eine seiner Schwestern in der Türkei, zwei Schwestern in Saudi-Arabien und eine Schwester in Syrien leben. Diese Familienangehörigen könnten ihm Aufenthalt gewähren. Zudem gelang dem Angeklagten über „Schlepper“ seine Einreise nach Deutschland. Auch solche Kontakte könnte der Angeklagte zu seiner Flucht nutzen. Schließlich kommt dem Umstand Bedeutung zu, dass der Angeklagte unter Vorspiegeln der Identität eines “ A. “ seine Anerkennung als Flüchtling und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erreichte. Auch dies begründet die Gefahr des „Untertauchens“.

Die von der Verteidigung erwogenen Auflagen (§ 116 Abs. 1 StPO) erscheinen nicht geeignet, der Fluchtgefahr hinreichend zu begegnen. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls scheidet daher aus.

3. Die Fortdauer der nun bereits mehr als zwei Jahre und vier Monate andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens zum jetzigen Zeitpunkt noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO):

a) Die Beteiligung an einem Kriegsverbrechen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB) und an einem erpresserischen Menschenraub (§ 239a Abs. 1 StGB) wiegt schwer. Das Verfahren ist ohne Verzögerung betrieben worden. Der – allein von der Beschwerde geltend gemachte – Gesichtspunkt, ob die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung „hypothetisch“ ausgesetzt werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB), ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar zu berücksichtigen (siehe nur BVerfG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 -2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 – 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, StV 2008, 421, 422; BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2012 – StB 12/12, NJW 2013, 247, 249). Indes handelt es sich dabei nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre (KK-Schultheis, StPO, 7. Aufl., § 120 Rn. 7). Die verhängte Strafe bleibt daneben ein beachtliches Abwägungskriterium. Innerhalb der Gesamtabwägung tritt zu dem durchaus gewichtigen Maß der verhängten Freiheitsstrafe, die freilich deutlich unterhalb der von dem Generalbundesanwalt beantragten liegt, und des noch offenen Strafrestes sowie zur Schwere das Tatvorwurfs die derzeit wegen der zu Lasten des Angeklagten geführten Revision des Generalbundesanwalts nicht auszuschließende Möglichkeit einer Strafmaßverböserung hinzu. Jedenfalls nach gegenwärtigem Stand ist für den Senat nicht erkennbar, dass das Rechtsmittel des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet wäre (vgl. dazu KK-Schultheis aaO; zu einer solchen Prognose der Erfolgsaussichten einer Revision innerhalb der Prüfung des dringenden Tatverdachts BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 – StB 15/05, NStZ 2006, 297).

b) Zudem bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu erwarten ist (zu diesem Beurteilungsmaßstab siehe BVerfG aaO; MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 53 mwN). Allein der Umstand, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft und erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme betroffen ist, begründet hier keine ausreichende diesbezügliche Wahrscheinlichkeit. Denn auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ist bei dieser schwerwiegenden Tat mit jihadistischem Bezug innerhalb der Aussetzungsentscheidung ein bedeutender Umstand (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 11). Das Oberlandesgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, hat dem Senat als Beschwerdegericht keine weiteren zu seinen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte vermittelt. Im Gegenteil steht nach Aktenlage die Prüfung aus, ob und in welchem Umfang der Angeklagte durch den Besitz und das Benutzen zumindest eines Mobiltelefons gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstieß.“

Na ja, den Hinweis auf das Benutzen des Mobiltelefons in der JVA hätte ich mir in dem Zusammenhnag wahrscheinlich verkniffen.