Archiv für den Monat: August 2017

Organisationsverschulden I, oder: Die wirksame Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze

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Im Kessel Buntes befinden sich dann heute zwei Entscheidungen des BGH aus dem Zivilbereich, und zwar zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Zunächst stelle ich den BGH, Beschl. v. 27.06.2017 – VI ZB 32/16 – vor. Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens geklagt wird. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist der Klägerin am 03.03.2016 zugestellt worden. Hiergegen hat sie rechtzeitig Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung der Berufung ist am 04.07. 2016 abgelaufen. Mit Schriftsatz vom 04.07.2016 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Berufung begründet. Der an das OLG adressierte Schriftsatz ist am selben Tag per Telefax beim LG und am 06.07.2016 beim OLG eingegangen. Nach einem Hinweis des OLG hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit am 13.07.2016 eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Be-gründung der Berufung beantragt. Er hat ausgeführt, er habe die Berufungsbegründung diktiert und dabei die zutreffende Faxnummer des Oberlandesgerichts angegeben. Diese Faxnummer habe die zuständige Kanzleimitarbeiterin in den Entwurf der Berufungsbegründung übernommen. Bei der Übertragung des korrigierten Entwurfs auf den Briefbogen der Kanzlei habe die Mitarbeiterin – der allgemein erteilten Anweisung entsprechend – überprüfen wollen, ob die richtige Faxnummer angegeben sei, und habe in der Handakte geblättert. Hier sei sie auf ein Fristverlängerungsgesuch vom 26.04.2016 gestoßen, in dem eine andere Faxnummer – die des LG – enthalten gewesen sei. Sie habe daraufhin diese Faxnummer in die Berufungsbegründung übernommen. Es bestehe eine allgemeine Arbeitsanweisung in der Kanzlei, dass bei der Versendung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ein Sendebericht zu erstellen sei und eine Überprüfung zu erfolgen habe, dass die richtige Faxnummer eingegeben und der Schriftsatz an das richtige Gericht vollständig übertragen worden sei.

Dem OLG hat das für eine Wiedereinsetzung nicht gereicht. Und dem BGH dann auch nicht. Der stellt in den Leitsätzen seiner Entscheidung fest:

  1. Der Rechtsanwalt genügt seiner Pflicht zur wirksamen Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze nur dann, wenn er seine Angestellten anweist, nach einer Übermittlung per Telefax anhand des Sendeberichts zu überprüfen, ob der Schriftsatz vollständig und an das richtige Gericht übermittelt worden ist.
  2. Die Kontrolle des Sendeberichts darf sich grundsätzlich nicht darauf be-schränken, die auf diesem ausgedruckte Faxnummer mit der zuvor aufgeschriebenen, etwa in den Schriftsatz eingefügten Faxnummer zu vergleichen. Vielmehr muss der Abgleich anhand einer zuverlässigen Quelle vorgenom-men werden, aus der die Faxnummer des Gerichts hervorgeht, für das die Sendung bestimmt ist.
  3. Der Rechtsanwalt hat seine organisatorischen Anweisungen klar und unmissverständlich zu formulieren.

Zu 3. heißt es dann im Beschluss:

„Der Rechtsanwalt hat seine organisatorischen Anweisungen klar und unmissverständlich zu formulieren, weil nur so die Wichtigkeit der ein-zuhaltenden Schritte in der gebotenen Deutlichkeit hervorgehoben wird (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juli 2016 – VI ZB 58/14, VersR 2017, 120 Rn. 9; BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 – V ZB 154/12, NJW 2014, 1390 Rn. 15).

Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist die Anweisung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht „selbstverständlich so zu verstehen, dass die Überprüfung, ob die Nummer des richtigen Gerichts eingegeben wur-de, anhand einer zuverlässigen Quelle zu erfolgen“ habe. Die Anweisung lässt vielmehr offen, wie die Eingabe der „richtigen Telefax-Nummer“ und die vollständige Übermittlung an das „richtige Gericht“ zu überprüfen ist. Ausweislich des Vorbringens der Klägerin und der von ihr vorgelegten eidesstattlichen Ver-sicherung der zuständigen Kanzleimitarbeiterin hat diese die erteilte Anweisung dementsprechend auch dahingehend verstanden, dass sie die richtige Ermitt-lung der Faxnummer durch einen Vergleich mit „der aus der Handakte ersichtlichen Telefax-Nummer“ zu überprüfen habe. Eine derartige Kontrolle ist aber unzureichend. Den gebotenen Organisationsanforderungen genügt ein Abgleich der im Sendebericht angegebenen bzw. der in einen Schriftsatz übertragenen Faxnummer mit Angaben aus einem beliebigen Schreiben der Handakte nicht. Denn eine solche Handhabung führt dazu, dass durch nur geringen Mehrauf-wand vermeidbare Übertragungsfehler unentdeckt bleiben und damit die Gefahr entsteht, dass eine in der Praxis häufig auftretende Fehlerquelle nicht beherrscht wird (BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 – V ZB 154/12, NJW 2014, 1390 Rn. 12).“

Das dürfte dann ein Haftpflichtfall sein/werden.

Ich habe da mal eine Frage: Wie wird das Sicherungsverfahren bei der Großen StK abgerechnet?

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Die heutige Frage ist schon etwas älter = hängt schon etwas länger in meiner „RVG-Fragen-Datei“. Aber im Moment kommt nichts Neues, so dass ich die „Ecken sauber machen“ kann. Der Kollege fragt:

„Betreff: 4112 oder 4118 beim Sicherungsverfahren (mit 3 Berufsrichtern vor Großer Strafkammer!)?

SgHK Burhoff,

sorry, für die Frage: aber Ihr Buch gibt im Inhaltsverzeichnis keine Auskunft darüber bzw. ist sie „irreführend“, da nichts Entsprechendes auffindbar ist.

Wie geht man damit bei Abrechnung mit Staatskasse um?“

Wirklich „irreführend“?

Kopien aus der digitalisierten Akte, oder: Der Verteidiger muss sich keinen Laptop kaufen

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Die zweite von der Tendenz her m.E. – zumindest teilweise – positive Entscheidung ist der OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.05.2017 – 2 Ws 98/17. Er behandelt ein alt bekanntes und für die Frage wichtiges Problem, nämlich die Erstattung(sfähigkeit) von Ausdrucken aus digital zur Verfügung gestellten Akten. Hier hatte der Pflichtverteidiger zweimal ausgedruckt, und hat dafür jeweils die Dokumentenpauschale  Nr. 7000 Ziff. 1 VV RVG geltend gemacht, und zwar einmal in Höhe von 4.288,15 € für 28.471 Kopien betreffend Ausdrucke aus der Ermittlungsakte für ihn selbs soiwe dann noch in Höhe von 4.273,15 € für 28.371 Kopien betreffend Ausdrucke aus der Ermittlungsakte für seinen Mandanten. Dass die Summe die Vertreter der Staatskasse auf den Plan rufen, ist klar. Festgesetzt worden ist dann gar nichts. Begründung u.a.: Die Akte ist in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt worden. Ggf. müsse sich der Verteidiger einen Laptop anschaffen, um die digitalisierten Akten in der Hauptverhandlung lesen zu können. Ein Ausdruck sei deshalb nicht erforderlich gewesen.

Das OLG verweist wegen der Dokumentenpauschale betreffend Ausdrucke für den Pflichtverteidiger selbst zurück, die Erstattung der Ausdrucke für den Mandanten wird abgelehnt. Im Beschluss nimmt der OLG u.a. zu der Frage Stellung, ob bei Überlassung von auf digitalen Datenträgern gespeicherten Akten ein Ausdruck generell nicht mit der Dokumentenpauschale vergütet werden kann. Das wird ja z.T. in der Rechtsprechung vertreten. Das OLG Nürnberg sieht es anders:

„a) Der Gebührentatbestand Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG sieht – wie dargelegt – die Vergütung von Ausdrucken ausdrücklich vor. Maßstab für die Vergütungsfähigkeit kann somit auch hier lediglich die Frage sein, ob ein Ausdruck zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Dies hängt zwar nicht von der subjektiven Auffassung des jeweiligen Rechtsanwalts, aber von der ihm zur Verfügung stehenden und auch zumutbaren technischen Ausstattung ab. Geboten ist ein Ausdruck somit bereits dann, wenn dem Anwalt – wie im vorliegenden Fall vorgebracht – kein Laptop zur Verfügung steht und somit kein Zugriff auf den Akteninhalt während der Hauptverhandlung möglich ist.

Im Zusammenhang hiermit ist zu berücksichtigen, dass derzeit noch keine gesetzliche Verpflichtung eines Rechtsanwalts zur Verwendung einer elektronischen Akte in Strafsachen samt Anschaffung einer entsprechenden technischen Ausstattung besteht. Insofern kann der Verteidiger auch (noch) nicht auf seine Fortbildungspflicht gemäß § 43a Abs. 6 BRAO verwiesen werden.

Auch die Strafgerichte sind nicht verpflichtet, mit einer elektronischen Akte zu arbeiten. Insoweit gebietet es die „Waffengleichheit“, dass sich der Verteidiger – wie auch bisher – Auszüge aus den Akten fertigen darf (vgl. Müller-Rabe in Gerold/Schmid RVG, 22 Aufl. „7000 VV“ Rn. 62), wobei es keinen Unterschied machen kann, ob diese aus der Papierakte kopiert oder aus der elektronischen Akte ausgedruckt werden. Bis zur gesetzlich verbindlichen Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen verbleibt es somit bei der grundsätzlichen Erstattungsfähigkeit der Dokumentenpauschale gemäß § 46 RVG i.V.m. Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG (so auch im Ergebnis Müller-Rabe a.a.O. „7000 VV“ Rn. 62; Kroiß in: Mayer/Kroiß, RVG, 6. Aufl. VV 7000 – 7002 Rn. 5; LG Duisburg, StraFo 2014, 307 bei umfangreichen Akten). Demgemäß ging auch das OLG Celle (NJW 2012, 1671) früher davon aus, dass das Anfertigen von Ausdrucken von dem Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht überlassener, auf CDs gespeicherter Textdateien (Kurzübersetzungen überwachter Telefonate) jedenfalls bei einem weit überdurchschnittlichen Umfang (81.900 Telefongespräche auf 43.307 Seiten) zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten sei.“

Einige OLG hatten das ja anders gesehen – sind im lesenswerten Beschluss zitiert. Dazu meint das OLG Nürnberg:

Der Senat folgt diesen Entscheidungen nicht, weil sie auf Faktisches, jedoch nicht auf rechtlich Verpflichtendes abstellen. Es ist jedenfalls für den Bereich der Strafjustiz nicht zutreffend, dass „demnächst“ oder „in Kürze“ damit gerechnet werden könne, dass „die elektronische Akte im Justizbereich eingeführt“ werden wird (so aber OLG Braunschweig und OLG München). Derzeit existieren nur im Bereich des Zivilrechts Pilotprojekte. Im Bereich des Zivilrechts sollen die Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr spätestens zum 01.01.2022 bundesweit auch für Rechtsanwälte verpflichtend in Kraft treten (vgl. BTDrucks. 17/12634 Seite 2). Für das Strafverfahren soll nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 17.08.2016 (BTDrucks. 18/9416) für die elektronische Aktenführung im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Dabei soll die elektronische Aktenführung bis zum 31.12.2025 „lediglich eine Option“ darstellen, und erst ab dem 1.1.2026 – mithin in knapp neun Jahren – verbindlich werden (BTDrucks. a.a.O. Seite 1).“

Wie gesagt: M.E. lesenswert, allein schon, weil das OLG die Rechtsprechung der Obergerichte in der von ihm (teilweise) entschiedenen Frage nach der Erstattungsfähigkeit des Ausdrucks von digital zur Verfügung gestellten Akten sehr schön zusammen stellt. Zu begrüßen ist sicher auch, dass das OLG dem Automatismus: Digital zur Verfügung gestellte Akte = generell keine Erstattung von Ausdrucken, eine Absage erteilt. Das darf aber nicht zu Euphorie verführen. Denn das ist nur der erste (allgemeine) Schritt, da auch das OLG Nürnberg nicht ohne weiteres den gesamten Ausdruck der „digitalen Akte“ erlaubt, sondern nur das, was zur „sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache erforderlich war“. Dabei geht das OLG, weil dem Verteidiger die Akten-CDs dauerhaft zur Verfügung standen, offenbar davon, dass (nur) ein ggf. sukzessiver Ausdruck „sachgemäß“ war/ist. An der Stelle wird der Streit nun also fortgesetzt.

Und: Die Erstattung der Auslagen für den Aktenauszug, der dem Mandanten zur Verfügung gestellt wordne ist, hat das OLG abgelehnt. Begründung – verkürzt: Der Mandant ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Was soll er da mit rund 28.000 Kopien aus der Akte?

Erstreckung, oder: Das AG will mit 800 € abspeisen, es gibt dann aber mehr als 3.000 €

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Freitag ist hier im Blog in der Regel immer „Zahltag“, d.h., dass ich gebührenrechtliche Entscheidungen vorstelle. So auch heute. Und es sind zwei positive Entscheidungen, die ich vorstellen kann. Auch mal schön, vor allem erspart mir das im Zweifel Kommentare zu den Beiträgen 🙂 .

Ich eröffne dann mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 16.05.2017 – 1 Ws 95/17. Er hat eine Erstreckungsproblematik (§ 48 Abs. 6 RVG) zum Gegenstand. Mit der Erstreckung müssen sich vor allem Pflichtverteidiger plagen, wenn sie in mehreren Verfahren tätig gewesen sind, die dann verbunden werden. Dann geht es bei der Festsetzung der gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers häufig um die Frage: Kann der Pflichtverteidiger gegen die Staatskasse auch (gesetzliche) Gebühren geltend machen , die vor seiner Beiordnung entstanden sind. Ds richtet sich eben nach § 48 Abs. 6 RVG. Bei der Anwendung der Vorschrift ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung aber umstritten, welche Gebühren festzusetzen sind, wenn die Beiordnung des Pflichtverteidiger erst erfolgt ist, nachdem mehrere Verfahren, in denen der Pflichtverteidiger bereits als Wahlverteidiger tätig war, verbunden worden sind.

Das OLG Hamm hat sich in der Streitfrage der zutreffenden h.M. angeschlossen und damit seine Rechtsprechung aus 2005 🙂 bestätigt. Danach findet in diesen Fällen § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG unmittelbar Anwendung findet, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und danach die Bestellung als Pflichtverteidiger in dem (verbundenen) Gesamtverfahren erfolgt:

„Während das OLG Rostock vertritt, dass in derartigen Fällen die bis zur Verbindung in den Einzelsachen entstandenen Wahlverteidigergebühren bestehen bleiben und der Verteidiger diese nicht nochmals als Pflichtverteidiger ersetzt verlangen kann (Beschluss vom 27.04.2009, 1 Ws 8/09, juris, Rn. 8), wird in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass dem Rechtsanwalt über § 48 Abs. 6 S. 1 RVG Vergütungsansprüche gegen die Staatskasse für alle vorher hinzuverbundenen Verfahren erwachsen, soweit er in diesen vor der Verbindung als Wahlverteidiger tätig geworden ist (OLG Bremen, Beschluss vom 07.08.2012, Ws 137/11, Rn. 14 m. w. N.; Burhoff RVG Straf- und Bußgeldsachen, 4. Auflage, § 48 Rn. 22 ff.; Schneider Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, RVG, § 48 Rn. 60 ff. m.w.N.; Mayer/Kroiß, RVG, 6. Auflage, § 48 Rn. 126; OLG Hamm, Beschluss vom 06.06.2005, 2 (s) Sbd VIII — 110/05, juris).

Teilweise wird in der Rechtsprechung zu § 48 Abs. 6 S. 3 RVG inzwischen wieder die Ansicht vertreten, dass auch in den Fällen, in denen erst die Verbindung und dann die Beiordnung erfolgt, eine ausdrückliche Erstreckung erfolgen muss, da die Vorschrift des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG für alle Verbindungen gelten soll. Dabei soll eine Erstreckung der Beiordnung auf die hinzuverbundenen Verfahren in der Regel dann ausgesprochen werden, wenn auch in dem hinzuverbundenem Verfahren als solchem bereits eine Verteidigerbestellung angestanden hätte (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27.12.2010, 1 Ws 583/10, juris, Rn. 7; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22.04.2014, 1 Ws 48/14, Rn. 31).

Der Wortlaut und die Gesetzessystematik lassen beide Interpretationen zu. Einerseits enthält § 48 Abs. 6 S. 3 RVG keine Einschränkung auf nach der Beiordnung verbundene Verfahren, andererseits lässt sich der Formulierung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG hinsichtlich der Vergütung für vor dem Zeitpunkt der Bestellung entfalteten Tätigkeiten keine Beschränkung auf das Ursprungsverfahren entnehmen. Danach kommen sowohl eine Auslegung des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG als bloße Erweiterung einer bereits durch § 48 Abs. 6 S. 1 RVG bestimmten umfassenden Vergütung auf später hinzuverbundene Verfahren, als auch als Spezialregelung für hinzuverbundene Verfahren unabhängig vom Zeitpunkt der Verbindung in Betracht.

Gegen die letztgenannte inzwischen wieder vertretene Auffassung spricht, dass manchmal erst mehrere Jahre nach der Verbindung ggf. noch im Kostenfestsetzungsverfahren über Erstreckungen zu entscheiden ist und es vom Zufall abhängt, ob das Ursprungsverfahren gegenüber den hinzuverbundenen Verfahren dasjenige mit dem gewichtigsten Vorwurf ist (OLG Bremen a. a. O., Rn. 15). Für die zuerst genannte Auffassung spricht hingegen, dass mit der Regelung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG (vormals: § 48 Abs. 5 S. 1 RVG) nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs 15/1971, S. 201) die Regelung des § 97 Abs. 3 BRAGO übernommen werden sollte. Durch das RVG sollte Streit in der Frage, ob beigeordnet werden musste, gerade vermieden werden (Burhoff, a.a.O., Rn. 24 f.; Gerold/Schmidt/Burhoff/Müller-Rabe, RVG 20. Auflage, § 48 Rn. 148).

Der Senat schließt sich der in der Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Auffassung an, wonach § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar Anwendung findet, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und danach die Bestellung als Pflichtverteidiger in dem (verbundenen) Gesamtverfahren erfolgt. Voraussetzung dafür, dass der Anwalt neben den Gebühren im führenden Verfahren auch weitere Gebühren für seine Tätigkeiten in den hinzuverbundenen Verfahren erhalten kann ist aber, dass er in den hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist (Burhoff a.a.O., Rn. 31, 33; Mayer/Kroiß a.a.O., Rn. 126).“

Anzumerken ist: Trotz dieser für Pflichtverteidiger günstigen Entscheidung sollten Verteidiger in allen Verfahren, in denen eine Erstreckung in Betracht kommt, diese ausdrücklich beantragen. Sie sind damit auf der sicheren Seite, auch wenn das zuständige OLG ggf. anderer Auffassung als die h.M. sein sollte. Und das es bei diesen Fragen um eine Menge Geld gehen kann, zeigt sehr schön der Beschluss des OLG Hamm. Festgesetzt werden letztlich rund 3.050 € anstelle der rund 800 €, mit denen das AG den Pflichtverteidiger abspeisen wollte.

Akteneinsicht III, oder: Wenn das Steuergeheimnis der Akteneinsicht entgegensteht

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So, und hier dann Akteneinsicht III. Es geht um die Akteneinsicht in einem schon länger beim LG Schwerin anhängigen Steuerstrafverfahren – die Sache war schon einmal beim BGH und ist von dort mit Urteil v. 08.10.2014 – 1 StR 114/14 zurückverwiesen worden. In dem Verfahren ist 2015 vom damaligen Vorsitzenden der Wirtschaftstrafkammer den Verfahrensbevollmächtigten der in einem Zivilprozess vor dem LG Karlsruhe beklagten Parteien auf deren Anträge hin unbeschränkte Einsicht in die Akten des Steuerstrafverfahrens gewährt worden. In dem Zivilverfahren geht es um Schadenersatzforderungen in Höhe von 750 Mio. EUR, die offenabr mit dem Steuerstrafverfahren zusammenhängen. U.a. der Angeklagte hatte 2015 Beschwerde gegen die Verfügungen des damaligen Vorsitzenden eingelegt. Jetzt wird Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Verfügungen begehrt. Der Angeklagte hatte damit Erfolg. In dem Zusammenhang macht das OLG im OLG Rostock, Beschl. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17 – Ausführungen zum der Akteneinsicht entgegenstehenden Steuergeheimnis:

„(2) Eine weitere, der Gewährung von Akteneinsicht an unbeteiligte Dritte entgegenstehende bundesgesetzliche Verwendungsregelung ergibt sich aus dem Steuergeheimnis (§ 30 Abs. 1 AO).

Verbliebener Gegenstand des Strafverfahrens ist u.a. der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe am 01.10.2004 für das Geschäftsjahr 2003 eine unrichtige Umsatzsteuererklärungen für die O. beim Finanzamt Wismar abgegeben und dadurch Steuern in Höhe von rund 1,54 Mio. € hinterzogen. Die bei den dazu geführten steuerstrafrechtlichen Ermittlungen angefallenen Unterlagen, darunter Ablichtungen aus den Akten des Finanzamts Wismar über die bei der O. durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung (Betriebsprüfung), sind Aktenbestandteil. Zudem sind die letztgenannten Akten der Strafkammer nach § 147 Abs. 1 StPO vollumfänglich als Beiakten vorzulegen (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 07.07.2015 – 20 VAs 2/15 -, juris).

Das Steuergeheimnis erstreckt sich auf die gesamten persönlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen, öffentlichen und privaten Verhältnisse einer natürlichen oder juristischen Person. Hierzu gehören nicht nur der Name und steuerlich relevante Umstände, wie Besteuerungsgrundlagen, sondern auch die Tatsache, dass bei bestimmten Steuerpflichtigen eine Steuerfahndungsprüfung oder ein Bußgeld- und Strafverfahren durchgeführt wurde (Tormöhlen in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 30 Rn. 32; BFH vom 30. September 2002 VII B 137/01, juris). Das Steuergeheimnis stellt eine Datenschutzbestimmung besonderer Art dar und ist gleichzeitig im Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch grundrechtlich (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 15, ggf. i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG; BVerfG vom 17. Juli 1984 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83, BStBl II 1984 634) verbürgt. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfG vom 15. Dezember 1983 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1).

Ein Ausnahmetatbestand nach § 30 Abs. 4 AO, der zugunsten der im Zivilverfahren vor dem Landgericht Karlsruhe Beklagten eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses zuließe, ist nicht ersichtlich.

Die Gewährung von Einsicht in die Strafakten des vorliegenden Verfahrens einschließlich etwaiger Beiakten der Finanzverwaltung berührt deshalb den sachlichen und persönlichen Schutzbereich dieses Grundrechts des Angeklagten und stellt einen unzulässigen Eingriff dar.“