Archiv für den Monat: Juni 2017

Risse in den Bremsscheiben, oder: Die Polizeibeamten haben „Schulungsbedarf“ für die Sichtkontrolle

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Urheber Erkaha

Und zum Abschluss des heutigen Tages stelle ich dann noch das AG Landstuhl, Urt. v. 31.05.2017 – 2 OWi 4286 Js 1481/17 – vor Ergangen ist das Urteil in einem Bußgeldverfahren, in dem dem betroffenen Lkw-Fahrer das Mitführen einer nicht betriebsbereiten Warnleuchte  vorgeworfen wurde und zudem, sein Fahrzeug geführt zu haben, obwohl die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt war.

Den letzteren Vorwurf hat die Hauptverhandlung nicht bestätigt. Vorgeworfen worden waren Risse in den Bremesscheiben, die durch Sichtkontrolle festgestellt worden sein sollten. Der Betroffene hat aber einen Werkstattbesuch nachgewiesen, bei dem zwar erhebliche Mängel festgestellt worden waren, jedoch nur die unverzügliche Beseitigung angeordnet worden ist, nicht aber die Weiterfahrt untersagt wurde. Zusätzlich hatte er ein Schreiben eine Prüfingenieurs zu den Akten gereicht, in welchem dieser die Verkehrstauglichkeit des Fahrzeugs bestätigte. Dazu dann noch das AG:

„Der im Termin im Rahmen eines mündlichen Gutachtens gehörte Sachverständige Dipl.-Ing. pp. bestätigte die Einschätzung des Prüfingenieurs, dass die Risse in den Bremsscheiben, die durch Inaugenscheinnahme der Lichtbilder 1-10 auf As10-14 in die Hauptverhandlung eingeführt wurden, zwar zu einem erheblichen Mangel, nicht aber zu einer Verkehrsunsicherheit führen. Bei dem hier vorliegenden LKW der Klasse N2 (bis 12t) gibt es zum einen konkrete Vorgaben zu Risslänge, -breite und -tiefe, die zur Beurteilung der Mangelqualität heranzuziehen sind (Werte zu finden z.B. unter http://grips.gtue.de). Diese wurden vorliegend schon nicht erhoben. Zum anderen fand durch die aufnehmenden Zeugen keine Bewertung des aufgefundenen Mangels nach der Richtlinie für die Durchführung von Hauptuntersuchungen (Vkbl. Heft 11 – 2012, S. 419 ff.) statt. Nach dieser besteht eine potentielle Verkehrsgefährdung bei erheblichen Mängeln, nicht aber eine Verkehrsunsicherheit. Diese liegt, ausweislich der Richtlinie, erst dann vor, wenn ein Mangel eine unmittelbare Verkehrsgefährdung darstellt. Diese jedoch konnte die Beweisaufnahme vorliegend, insbesondere mangels Vermessung der Risse und mangels Auseinandersetzung mit dem bei der Kontrolle vorliegenden Prüfgutachten nicht bestätigen.

Dass vorliegend bei der Kontrolle durch bloße Inaugenscheinnahme und Erfahrungswerte eine nur wenige Tage zuvor erfolgte technische Prüfung durch einen Sachverständigen gewissermaßen „überstimmt“ wurde, spricht für einen gewissen Schulungsbedarf in technischer Hinsicht bei einschlägigen Kontrollen, zumal es nicht das erste Mal in diesem Gerichtsbezirk ist, dass LKW als vermeintlich verbotswidrig fahrend klassifiziert wurden, ohne dass dies durch den Sachverständigen bestätigt werden konnte, sondern im Gegenteil die dort vorgenommene Ladungsart den Vorgaben entsprach (AG Landstuhl, Urt. v. 08.06.2015 – 2 OWi 4286 Js 300/15 – juris).“

Nach diesem „Schulungsaufruf“ hat es aber keinen Teilfreispruch gegeben. Es lag tateinheitliche Begehungsweise vor. Daher also auch keine Kostenquotelung. Aber das dürfte dem Betroffenen im Hinblick auf ersparte Punkte auch egal sein.

PoliscanSpeed, oder: „ein bisschen schwanger“ bzw. Trauerspiel/Worthülse „standardisiertes Messverfahren“

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Ich habe bislang gedacht, dass es „ein bisschen schwanger“ nicht gibt. Nach der Lektüre des OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.05.2017 – 2 Rb 8 Ss 246/17 – muss ich das aber wohl anders sehen. „Ein bisschen schwanger“ geht doch, jedenfalls bei PoliscanSpeed. Leider.

Es geht also mal wieder um PoliscanSpeed, die „heilige Kuh“ der OLG. Der Betroffene ist wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden. Zugrunde gelegt worden ist eine Messung mit PoliscanSpeed. Bei der hatte die Auswertung des digitalen Falldatensatzes ergeben, dass der Pkw des Betroffenen in einem Abstand von 49,82 bis 19,95 m vom Messgerät gemessen worden ist. Die Bauartzulassung sieht hingegen einen Messbereich zwischen 50 und 20 m vor. Das OLG sagt: Macht nix. Es handelt sich (dennoch) um ein standardisiertes Messverfahren. Zwar sind die Vorgaben der Bauartzulassung nicht eingehalten worden. Die Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Einsatzbedingungen führt aber – so das OLG – nicht ohne Weiteres zur Unverwertbarkeit des Messergebnisses; vielmehr muss der Tatrichter die Auswirkungen auf die Gültigkeit der Mess­wertbildung überprüfen. Zudem würden bei der geringfügigen Überschreitung des zugelassenen Messbe­reichs bei Messungen PoliScan Speed Besonderheiten gelten. Die PTB habe in einer Stellungnahme vom 16.12.2016 zum einen darauf hin­gewiesen, dass sich der Messbereich allein auf die Position des softwareseitigen Modellob­jekts bezieht, welches das angemessene Fahrzeug repräsentiert. Je nach konkret vorliegen­der Fahrzeugkontur und Verkehrssituation könne es vorkommen, dass einzelne Rohmessda­ten für die Bildung des geeichten Messwertes berücksichtigt werden, deren Ortskoordinate (meist nur knapp) außerhalb des Messbereichs liegt. Solange sich dabei das Modellobjekt im Messbereich befindet, sei dies zulässig. Unabhängig davon betone die PTB, dass ein Rohmess­wert, dessen Ortskoordinate außerhalb des Messbereichs liegt, in sich genau so zuverläs­sig sei wie solche, deren Koordinaten innerhalb des Messbereichs liegen. Und: Die Geschwindigkeit sei hier so erheblich überschritten, dass Messfehler keine nachteiligen Auswirkungen für den Betroffenen haben können.

In meinen Augen ist das „ein bisschen schwanger“, aber auch ein weiterer Stein in der Mauer, die die OLG um das Messverfahren PoliscanSpeed bauen – aus welchen Gründen auch immer. Schon das Mantra „standardisiertes Messverfahren“ und die darauf beruhenden Probleme bei der Einsicht in Messunterlagen sowie die Hochstilisierung der Bauartzulassung zu einem antizipierten Sachverständigengutachten haben an der Mauer gebaut. Und nun noch dieser Beschluss. Ich hoffe nur, dass sich das OLG bewusst ist, was es damit anrichtet. Denn:

M.E. ist dieser Beschluss ein weiterer Schritt zur Abschaffung des standardisierten Messverfahrens, obwohl man an sich schon länger den Eindruck hat, dass die OLG den Begriff und die damit zusammenhängenden Folgen allenfalls dann noch bemühen, wenn es zu Lasten des Betroffenen geht. Man fragt sich welchen Sinn Grenzwerte in der Bauartzulassung für den Messbereich eigentlich noch haben, wenn bei einem Verstoß dagegen die Messung gleichwohl standardisiert bleibt mit den erheblichen Folgen für den Betroffenen? Bislang galt – bzw sollte gelten: Bei einem Verstoß gegen die Vorgaben der Bauartzulassung verliert ein an sich standardisiertes Messverfahren diesen Charakter mit der Folge, dass die Messung vom Tatrichter in der Regel unter Hinzuziehung eines Sachverständigen auf ihre Richtigkeit zu prüfen ist. Diesen Ansatz gibt das OLG Karlsruhe hier auf und sieht das Messverfahren auch bei „nicht nennenswerten“ Abweichungen von den Vorgaben der Bauartzulassung noch als standardisiert an. Das widerspricht dem Sinn der PTB-Bauartzulassung im Rechtsinstitut „standardisiertes Messverfahren“. Da stellen sich außerdem dann die Fragen: Wo ist die Grenze? Wieviel Abweichung ist denn zulässig? Und ab wann ist das Verfahren nicht mehr standardisiert? Und wer legt die zur Beantwortung dieser Fragen erforderlichen Werte fest?

Nun, die Antworten liegen (vielleicht/wahrscheinlich) auf der Hand: Natürlich die PTB, die bei den OLG den Status der Unantastbarkeit erlangt hat. Das, was sie sagt, ist Gesetz bzw. wird so behandelt. Da kann der Betroffene – gestützt auf andere Sachverständigengutachten – vortragen, was er will. Es interessiert nicht. Man fragt sich, warum man eigentlich die „unheilige Allianz“ mit der PTB eingeht und warm man nicht endlich mal, den Gang nach Karlsruhe wagt. Warum hat man Angst vor dem 4. Strafsenat des BGH? So verkommt jedenfalls der vom BGH geprägte Begriff des „standardisierten Messverfahrens“ zu einer Worthülse. Das Ganze ist ein Trauerspiel. Verteidigen lohnt sich nicht mehr. Zumal, wenn man als Verteidiger damit rechnen muss, dass einem vom OLG „unprofessionelle Zeit- und Geldverschwendung“ entgegen gehalten wird, wenn man sich „in Beweisanträgen und/oder Rechtsmitteln auf die Außenseitermeinungen der Amtsgerichte zu stützen/[stütz], die inzwischen von den übergeordneten Oberlandesgerichten darüber belehrt wurden, dass und warum sie völlig daneben lagen (so der OLG Koblenz, Beschl. v. 22.03.2017 – 1 OWi 4 SsRs 21/17 und dazu Fake-News vom „übergeordneten“ OLG Koblenz?, oder: „unprofessionelle Zeit- und Geldverschwendung“).

Schweigen des Betroffenen, oder: „Nutz- oder zwecklose“ Verteidigung?

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Heute dann mal wieder drei Entscheidungen zum Bußgeldverfahren. Den Auftakt macht der LG Düsseldorf, Beschl. v. 17.05.2017 – 61 Qs 17/17. Man kann m.E. nur sagen: Zum Glück gibt es diesen Beschluss. Denn die vorangegangene Entscheidung des AG Ratingen war schon – sagen wir mal „bemerkenswert“. Ergangen ist sie in einem Bußgeldverfahren. Betroffene ist frei gesprochen worden. Die notwendigen Auslagen des Betroffenen wurden der Staatskasse auferlegt. Der Betroffene hat dann im Rahmen der Kostenfestsetzung auch die bei seinem Verteidiger entstandenen Gebühren für das gerichtliche Verfahren (Nrn. 5109, 5110 VV RVG) geltend gemacht. Das AG hat deren Festsetzung mit der Begründung abgelehnt, dass die Verteidigung des Betroffenen „nutz- oder zwecklos“ gewesen sei.

Das LG Düsseldorf sieht das – zum Glück – anders:

„b) Die Verfahrens- und Terminsgebühren sind dem Betroffenen auch in der zur Vorziffer bezeichneten Höhe aus der Staatskasse zu erstatten und somit festzusetzen, da es sich dabei um notwendige Auslagen im Sinne des § 464a StPO handelt.

Zwar wird in der Rechtsprechung vertreten, dass Gebühren für eine „zwecklose“ oder „offensichtlich nutzlose und völlig überflüssige“ Tätigkeit des Rechtsanwalts nicht erstattungsfähig sind (vgl. u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 22.11.1990, Az. 2 Ws 58/90; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.04.2012, Az. III-2 Ws 67/12). Vorliegend war jedoch die Vorbereitung des Termins vom 11. August 2016 und die Teilnahme an diesem durch die Verteidigerin nicht nutz- oder zwecklos. Sie war vielmehr zur sachgerechten Wahrnehmung der Rechte des Betroffenen geeignet. Auch die Tatsache, dass seitens des Betroffenen erst im Hauptverhandlungstermin vorgebracht und belegt wurde, dass dieser zur Tatzeit krankgeschrieben und daher nicht verantwortlich war, rechtfertigt keine andere Bewertung. Die Entscheidung, ob und ggf. wann ein Betroffener sich einlässt, obliegt diesem – ggf. beraten durch seinen Verteidiger – selbst. Dass sich der Betroffene vorliegend zunächst dazu entschied, sich schweigend zu verteidigen – möglicherweise um durch eine wahrheitsgemäße Aussage nicht seinen Sohn zu belasten und in der Hoffnung, dass einer Verfahrenseinstellung nach § 47 OWiG erfolgen würde – und dass die Behörde das gegen ihn anhängige Bußgeldverfahren anderenfalls möglicherweise bereits gemäß § 46 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt hätte, macht die Tätigkeit der Verteidigerin im gerichtlichen Verfahren nicht nutz- oder zwecklos. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kostenminderungspflicht war der Betroffene vorliegend nicht gehalten, sich so frühzeitig wie möglich wahrheitsgemäß – und unter Belastung seines Sohnes – einzulassen.“

Zum Glück also ein untauglicher Versuch, den das AG Ratingen hier unternommen hat. Nämlich nachträglich die Verteidigungsstrategie des Betroffenen dadurch zu sanktionieren, dass sein Schweigen vor der Hauptverhandlung mit einer Reduzierung seines Kostenerstattungsanspruchs bestraft wird bzw. werden sollte. Wehret den Anfängen, kann man da nur sagen und sich beim LG Düsseldorf dafür bedanken, dass es diesen amtsgerichtlichen Sanktionsbestrebungen Einhalt geboten hat. Das folgt m.E. alles zwanglos aus § 136 StPO und dem nemo-tenetur-Satz, auch wenn das AG Ratingen und mit ihm sicherlich auch andere AG gerne diese „Kostenkeule“ schwingen würden. Es muss aus rechtsstaatlichen Gründen dabei bleiben, dass der Betroffene – und natürlich im Strafverfahren auch der Angeklagte – frei in der Entscheidung sein müssen, wie sie sich verteidigen wollen, ob sie sich also zur Sache einlassen oder nicht und sich schweigend verteidigen. Dazu gehört auch die Entscheidung über den Zeitpunkt einer dann doch abgegebenen Einlassung. Es kann und darf nicht sein, dass diese Entscheidung dann nachträglich darauf geprüft wird, ob sie „nutz- oder zwecklos“ war – für wen eigentlich? – und dass darüber dann das Gericht entscheidet. Denn das würde den Betroffenen/Angeklagten in seiner Entscheidung, wie er sich verteidigt, ggf. behindern. Eine solche Behinderung sieht unsere Rechtsordnung aber nicht vor. Zum Glück.

U-Haft III: Kein Strafantrag, oder: Jetzt gibt es noch Entschädigung für erlittene U-Haft

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Bei der dritten „Haftentscheidung“ geht es ums Geld, und zwar um eine Entschädigung nach dem StrEG für vollzogene U-Haft.

Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 25.04.2017 – 3 StR 453/16. Ergangen ist er in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Wohnungseinbruchdiebstahls. In dem hatte der BGH mit BGH, Beschl. v. 21.12.2016 – 3 StR 453/16 – das gegen die Angeklagte ergangene Urteil wegen Fehlen des Strafantrags aufgehoben und das Verfahren eingestellt. Ich hatte darüber unter Kein Strafantrag ==> Einstellung des Verfahrens, oder: Muss man auf dem Schirm haben – berichtet. Jetzt geht es noch um eine Entschädigung für die Angeklagte wegen erlittener Untersuchungshaft nach § 2 Abs. 1 StrEG gegeben. Der BGH hat sie gewährt. Ausschluss- oder Versagungsgründe bestehen nach seiner Auffassung nicht:

„a) Insbesondere ist die Entschädigung nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG ausgeschlossen.

Zwar liegt ein in Bezug auf die Untersuchungshaft grob fahrlässiges Verhalten der Angeklagten vor. Zum einen beging sie nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen als Mittäterin rechtswidrig und schuldhaft den dem Haftbefehl vom 10. März 2016 zugrundeliegenden Wohnungseinbruchdiebstahl (vgl. – zu grober Fahrlässigkeit durch Begehung des verfahrensge-genständlichen Delikts – BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 1979 – 3 StR 396/79, BGHSt 29, 168, 171; vom 1. September 1998 – 4 StR 434/98, BGHR StrEG § 5 Abs. 2 Satz 1 Fahrlässigkeit, grobe 6). Zum anderen forderte sie den Erlass des Haftbefehls dadurch leichtfertig heraus (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 5 StrEG Rn. 11 mwN), dass sie nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verhalten zeigte, auf Grund dessen das Landgericht zu Recht davon ausging, sie wolle sich – nunmehr – dem Strafverfahren entziehen.

Jedoch ist die Entschädigung nur ausgeschlossen, soweit die Angeklagte die Strafverfolgungsmaßnahme auch verursacht hat. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der erforderliche Ursachenzusammenhang durch eine rechtsfehlerhafte Sachbehandlung seitens der Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte unterbrochen sein kann (s. auch BGH, Urteil vom 14. Februar 1995 – 1 StR 765/94, BGHR StrEG § 5 Abs. 2 Satz 1 Ursächlichkeit 2; Beschluss vom 1. September 1998 – 4 StR 434/98, aaO). Eine derartige Unterbrechung tritt jedenfalls dann ein, wenn der Rechtsfehler zum Zeitpunkt der Anordnung oder Aufrechterhaltung der Maßnahme bei sorgfältiger Prüfung ohne weiteres erkennbar war (zu diesem Prüfungsmaßstab s. KG, Beschluss vom 20. Juni 2011 – 4 Ws 48/11, NStZ-RR 2012, 30, 31; BeckOK StPO/Cornelius, § 5 StrEG Rn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO Rn. 7).

So liegt es hier. Schon bei Haftbefehlserlass fehlte es – wie im Beschluss vom 21. Dezember 2016 unter II. 1. b) dargelegt – an der Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Strafantrages; zudem war es ausgeschlossen, einen solchen noch einzuholen. Beides hätte eine sorgfältige Prüfung zweifelsfrei ergeben. Das Landgericht hat indes bei der Beurteilung der Haftvoraussetzungen augenscheinlich übersehen, dass die Regelung des § 77 Abs. 2 StGB auf das Strafantragserfordernis nach § 247 StGB nicht anwendbar ist, und sich dementsprechend mit einem originären Antragsrecht der Strafantragsteller erst gar nicht befasst. Weitere Tatvorwürfe gegen die Angeklagte waren weder angeklagt noch Gegenstand des Haftbefehls.“

Das Bild vom „Geldregen“ passt nicht so ganz. Denn Reichtümer sind es ja nun nicht, die die Angeklagte erwarten kann.

U-Haft II: Urlaubsreise nach Thailand während „Hafturlaub“, oder: Nicht verboten

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Bei der zweiten Haftentscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den OLG Dresden, Beschl. v. 28.04.2017 – 2 Ws 117/17. Ergangen ist er im sog. Infinus-Verfahren, in dem es ja schon eine ganze Reihe Haftentscheidung des OLG Dresden gegeben hat. Über zwei habe ich ja auch schon berichtet, und zwar über den OLG Dresden, Beschl. v. 23.12.2014 – 2 Ws 542/14 – und  dazu: Freibrief/Freilos – Erstaunliches zur U-Haft-Fortdauer vom OLG Dresden und den dazu ergangenen VerfGH Sachsen, Beschl. v. 26.02.2015 – 7-IV-15, 8-IV-15 (vgl. Freibrief/Freilos – Erstaunliches zur U-Haft-Fortdauer aus Sachsen – II) sowie über den VerfGH Sachsen, Beschl. v. 21.04.2016 – VerfG Vf. 16-IV-16 (HS).

Jetzt ist es dann aber wohl Schluss. Denn das OLG Dresden hat im Beschl. v. 28.04.2017 die U-Haft gegen den Angeklagten, der sich seit dem 05.11.2013 in U-Haft befunden hat, aufgehoben. Bis dahin war er nur duch Beschluss vom 25. 04. 2016 außer Vollzug gesetzt. In dem Beschluss war der angewiesen worden, in einem bestimmten Gästehaus in Dresden Wohnsitz zu nehmen und sich jeweils sonntags bis spätestens 21:00 Uhr beim hierfür zuständigen Polizeirevier zu melden. Zudem war ein Kontaktverbot zur Ehefrau eines Mitangeklagten ausgesprochen worden. Der Angeklagte war diesen Weisungen nachgekommen. Insbesondere erschien er jeweils zu den anberaumten Hauptverhandlungsterminen. Am 07.07. 2016 stellte der Angeklagte dann den Antrag, die Meldeauflage für den Zeitraum vom 07.07.2016 bis zum 31.07.2016 auszusetzen. Die Hauptverhandlung sei für eine Sommerpause bis zum 01.08.2016 unterbrochen, weshalb die Begründung der Kammer für die Wohnsitz- und Meldeauflage (Vermeidung eines „Hauptverhandlungstourismus“) in dieser Zeit nicht greife. Am 08.07.1016 hat die Srafkammer diesem Antrag stattgegeben und hat die Meldeverpflichtung beim Polizeirevier in Dresden bis zum 30.07.2016 ausgesetzt. Statt dessen verpflichtete sie den Angeklagten, sich am 22.07.2016 bei der Polizeistation in pp. zu melden. Anschließend sollte die bisherige Regelung wieder gelten.

Vom 11.07.2016 bis zum 21.07.2016 unternahm der hierfür finanziell von Freunden und Familienangehörigen unterstützte Angeklagte ohne Wissen der Strafkammer eine Urlaubsflugreise nach Thailand. Am 21.07.2016 kehrte er nach Deutschland zurück und erfüllte am 22.07.2016 seine Meldeauflage bei dem Polizeirevier in pp. Nach der Sommerpause ab dem 01.08.2016 hielt er sich wieder an seiner Unterkunft in Dresden auf und nahm ordnungsgemäß an den jeweiligen Terminen der Hauptverhandlung teil. Den Weisungen und Auflagen im Rahmen der Außervollzugsetzung des Haftbefehls kam der Angeklagte ordnungsgemäß nach.

Im Dezember hat der Angeklagte dann den Antrag gestellt, den Haftbefehl aufzuheben. Den Antrag hat die Strafkammer abgelehnt. Statt dessen untersagte sie dem Angeklagten „klarstellend“, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne Genehmigung der Kammer zu verlassen. Zur Absicherung hatte der Angeklagte sowohl seinen Reisepass als auch seinen Personalausweis (gegen ein beglaubigtes Ersatzdokument) bei Gericht zu hinterlegen. Und dagegen richtet sich nun das Rechtsmittel des Angeklagten.

Das OLG folgt dem LG in seiner Argumentation nicht. Das war von weiterhin bestehender Fluchtgefahr ausgegangen:

„a) Der Senat teilt die Ansicht von Staatsanwaltschaft und Wirtschaftsstrafkammer nicht, wonach die bisher erteilten Weisungen im Rahmen der Außervollzugsetzung eine gleichwohl grundsätzlich anzunehmende Fluchtgefahr lediglich mindern konnten. Denn angesichts der bisherigen Fassung der Meldeauflage – zu erfüllen (nur) einmal wöchentlich jeweils sonntags bis 21:00 Uhr – war es dem Angeklagten grundsätzlich uneingeschränkt möglich, in der übrigen Zeit Vorbereitungen für sein Sich-Entziehen aus dem Strafverfahren vorzubereiten.

Das Gebot, einen bestimmten territorialen Bereich nicht ohne Zustimmung des Gerichts zu verlassen, war dem Angeklagten nicht auferlegt worden. Erst recht war es ihm durch die tatsächlich erfolgte Weisung nicht verboten, während die Zeitspanne das Gebiet Dresdens, Sachsens oder gar der Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, solange er der Meldepflicht nachkommt. Die Begründung der Kammer, durch die Verpflichtung, in Dresden Wohnsitz zu nehmen, solle vor dem Hintergrund der gesundheitlichen Probleme des Angeklagten einem „Hauptverhandlungstourismus“ (zwischen Dresden und pp. vorgebeugt werden, besagt diesbezüglich nichts. Es verbot nicht, gleichwohl nach C. (oder anderswo) zu fahren.

b) Daher lag in der Urlaubsreise des Angeklagten nach Thailand – zumal eine rechtzeitige Rückkehr erfolgt war – kein Verstoß gegen die gerichtliche Weisung. Insofern ist es unerheblich, dass diese Reise ohne eine vorherige Anmeldung gegenüber der Wirtschaftsstrafkammer durchgeführt worden war. Ein möglicher – aus dem Beschluss allerdings nicht erkennbarer – entgegenstehender Vorbehalt der Wirtschaftsstrafkammer ist ihrem Außervollzugsetzungsbeschluss nicht zu entnehmen. Deshalb stellen die „klarstellend“ gefassten Weisungen im hier angefochtenen Beschluss vom 17. Januar 2017 (Ausreiseverbot, Passhinterlegung) eine neue unzulässige – materielle Verschärfung der Lage des Angeklagten dar.

c) Aber auch die Tatsache, dass der Angeklagten diese Fernreise ins Ausland ohne vorherige Inkenntnissetzung der Strafkammer vorgenommen hat, rechtfertigt die weitere Aufrechterhaltung des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls nicht. Zum einen war der Angeklagte – schon formal gesehen – zu einer Anmeldung der Reise nicht verpflichtet. Auch ist er fristgerecht zur Erfüllung der anschließenden Meldeverpflichtung beim Polizeiposten in pp. zurückgekehrt. Zum anderen dürfen Beschränkungen, denen der Angeklagte durch Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO ausgesetzt ist, nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist (Senat wistra 2014, 78 f.; vgl. auch OLG Köln StV 2005, 396 [397]). Mag die Haftverschonung vor dem Hintergrund eines drohenden Vollzugs von Untersuchungshaft zunächst auch als Rechtswohltat empfunden werden, so ändert dies doch gleichwohl nichts daran, dass der Fortbestand des Haftbefehls vor allem auch unter Berücksichtigung der freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden ist. Es versteht sich deshalb von selbst, dass auch ein weniger einschneidendes Mittel, durch welches eine schwerwiegendere grundrechts-beschränkende Maßnahme ersetzt worden ist, in seinem Fortbestand auch weiterhin im Lichte des Freiheitsrechts und unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit stets von Neuem zu überprüfen ist (vgl. BVerfGE 53, 152 [160]). Eine Haftsache ist deshalb auch dann wie eine Haftsache zu behandeln, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil er außer Vollzug gesetzt ist (KG StV 1991, 473; KG StV 2003, 627 [628]; OLG Köln StV 2005, 396 [398]).“

Tja, das wird die Strafkammer nicht freuen, wenn ihr der OLG-Senat eine lange Nase zeigt und sagt: Wenn ihr die Beschränkung wolltet, dann hättet ihr sie auch in den Beschluss aufnehmen müssen. M.E. richtig/zutreffend.