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Nochmals: Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Kein Hellseher

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Die 7. KW. eröffne ich mit zwei verfahrensrechtlichen Beschlüssen des BGH.

Zum „Warmwerden“ stelle ich zunächst den BGH, Beschl. v. 06.12.2018 – 4 StR 424/18, der sich (nochmals) zur Erforderlichkeit der Verlesung der Anklageschrift erhält. „Nochmals, weil der BGH dazu erst vor kurzem Stellung genommen hatte (vgl. hier: Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Anfängerfehler?). 

Daher macht der 4. Strafsenat es dieses Mal auch recht kurz:

„Das Landgericht hatte die Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 21. September 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (K. C.) bzw. gefährlicher Körperverletzung (Ka.C.) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Mit Beschluss vom 13. April 2017 (4 StR 35/17) hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten K. C. wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten Ka.C. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ferner hat es Kompensationsentscheidungen getroffen.

Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg und führen zur Aufhebung der Strafaussprüche. Im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die formgerecht ausgeführte Verfahrensrüge einer Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO hat keinen Erfolg. Insoweit bemerkt der Senat:

a) Gemäß 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz durch den Staatsanwalt zu verlesen. Die Verlesung des Anklagesatzes ist wesentliches Verfahrenserfordernis und elementarer Teil der Hauptverhandlung, deren Unterlassung im Allgemeinen schon deshalb die Revision begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2006 – 1 StR 466/05, NJW 2006, 3582, 3586). Darüber hinaus dient die Verlesung dem Zweck, den Angeklagten, die ehrenamtlichen Richter und die Öffentlichkeit über die Einzelheiten des Tatvorwurfs zu unterrichten (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 2018 – 1 StR 481/17, juris Rn. 4). Dem Angeklagten soll durch die Verlesung der Anklage der Tatvorwurf in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht aktuell vor Augen geführt werden, damit klar wird, wogegen er sich verteidigen kann (vgl. LR-StPO/Becker, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Auf die Verlesung kann nicht verzichtet werden; sie hat grundsätzlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme zu erfolgen (LR-StPO/Becker, aaO).

Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für eine Hauptverhandlung nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht (vgl. LR-StPO/Becker, aaO, § 243 Rn. 51). Einschränkungen können sich in dieser besonderen prozessualen Konstellation gegebenenfalls infolge eingetretener Teilrechtskraft oder aufgrund sonstiger Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 2018, aaO). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes das in Teilrechtskraft erwachsene Urteil sowie die Revisionsentscheidung zu verlesen.

b) Gemessen hieran entsprach die vom Vorsitzenden gewählte Vorgehensweise, im Rahmen des Berichts über den bisherigen Verfahrensgang zunächst die Feststellungen aus dem im ersten Rechtsgang ergangenen Urteil vom 21. September 2016 sowie die Revisionsentscheidung des Senats und erst hieran anschließend – anstelle des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft – den Anklagesatz zu verlesen, angesichts der gewählten Reihenfolge sowie des Umstands, dass nicht der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, sondern der Vorsitzende den Anklagesatz verlesen hat, nicht den gesetzlichen Vorgaben.“

Aber:

„Der Senat vermag jedoch auszuschließen, dass das angegriffene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Die gewählte Verfahrensweise beeinträchtigte die der Verlesung des Anklagesatzes zugedachte Funktion, die Angeklagten vor Eintritt in die Beweisaufnahme in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht vollständig über den Tatvorwurf zu informieren, um ihnen eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen, nicht. Auch die Schöffen und die Öffentlichkeit wurden ausreichend über den Gegenstand des Verfahrens informiert.

Soweit die Revisionen darauf hinweisen, dass ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler nicht auszuschließen sei, weil die Schöffen durch die Verlesung des aufgehobenen Urteils und die hierin liegende Vermittlung von Aktenkenntnis zum Nachteil der Angeklagten beeinflusst worden sein könnten, wäre dies keine Folge eines Verfahrensverstoßes gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dass der Vorsitzende (auch) das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil sowie die darauf bezogene Entscheidung des Senats verlesen hat, begegnet unabhängig davon für sich genommen auch keinen rechtlichen Bedenken (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 1976 – 1 StR 9/76, GA 1976, 368).“

Man kann übrigens dem LG Essen nicht vorwerfen, die BGH-Rechtsprechung nicht zu kennen, denn: Das der Entscheidung des BGH zugrunde liegende Urteil stammt vom 17.04.2018, die Entscheidung des 1. Strafsenats in 1 StR 481/17 vom 24.04.2018. Hellseher muss der Richter nicht sein.

Und: <<Werbemodus an>>: Die Entscheidung vom 11.04.2018 findet man natürlich auch in der Neuauflage von „Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl.“ – alles andere wäre schlecht. Die Neuauflage bzw. die daraus vom Verlag zusammen mit anderen Handbüchern von mir aufgelegten Pakete kann man hier bestellen. Und für die Neuauflage gibt es dann auch schon eine erste Rezension (mit Kaufempfhelung 🙂 hier. <<Werbemodus aus>>

StPO II: Verlesung der dienstlichen Äußerung der Ermittlungsrichterin, oder: Freibeweis

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich aus dem StPO-Bereich heute vorstelle, handelt es sich um den (etwas aktuelleren) BGH, Beschl. v. 27.09.2018 – 4 StR 153/18. Gerügt worden war mit der Revision in einem Verfahren wegen Verstößen gegen das BtMG ein Verstoß gegen § 250 StPO durch Verlesung einer dienstlichen Äußerung der Ermittlungsrichterin, die den Angeklagten offenbar im Ermtillungsverfahren vernommen hatte. Die Rüge hat nicht durchgegriffen:

„Die Rüge eines Verstoßes gegen § 250 StPO durch Verlesung der dienstlichen Äußerung der Ermittlungsrichterin ist unbegründet. Zwar reicht ein fehlender Widerspruch gegen die Anordnung einer Verlesung im Regelfall nicht zur Annahme eines Einverständnisses nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 1983 – 1 StR 174/83, NJW 1984, 65, 66). Die dienstliche Erklärung durfte aber im Freibeweisverfahren verlesen werden. Tatsachen, die dem Freibeweis unterliegen, können durch dienstliche Erklärung eines Richters in zulässiger Weise zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden. Dies ist beispielsweise möglich, wenn im Blick auf Verfahrenshindernisse oder Verwertungsverbote allein die äußeren Umstände des Zustandekommens einer Zeugenaussage von Bedeutung sind, ohne dass diese Umstände Auswirkungen auf die Beurteilung des Inhalts der Aussage haben (BGH, Urteil vom 9. Dezember 1999 – 5 StR 312/99, BGHSt 45, 354, 356 f.). So liegt der Fall hier. Die Verlesung diente ersichtlich der Aufklärung der Frage, ob die staatsanwaltschaftliche Vernehmung des Angeklagten vom 9. Februar 2017 im Wege des Vorhalts Bestandteil der ermittlungsrichterlichen Vernehmung geworden ist.

Im Übrigen wäre auch ein Beruhen des Urteils auf einem etwaigen Verfahrensfehler auszuschließen. Die Strafkammer hat die Einlassung des Angeklagten bei der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung als widerlegt angesehen (UA 39 f.).“

OWI III: Die Datenzeile auf dem Messfoto, oder: Inaugenscheinnahme oder Verlesung?

Die Frage: Muss die Datenzeile auf einem Messfoto gesondert verlesen werden oder reicht die Inaugenscheinnahme, ist in der Rechtsprechung der OLG umstritten. Das OLG Stuttgart geht im OLG Stuttgart, Beschl. v. 04.09.2018 – 6 RB 16 Ss 469/18 – davon aus: Inaugenscheinnahme reicht.

„Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier verwendeten Messgerät PoliScan Speed handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren. Fließen in die Ge­schwindigkeitsmessung — wie hier — Einzelmessungen ein, deren Ortskoordinaten geringfügig außerhalb des von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zuge­lassenen Messbereichs liegen, begründet dies für sich genommen grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, die Messung durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen (OLG Karlsruhe 2 Rb 8 Ss 246/17, Beschluss vom 26. Mai 2017, Leitsatz und Rn. 13 zit. nach juris; vgl. auch OLG Bamberg 3 Ss OWi 976/17, Beschluss vom 24. Juli 2017, Rn. 3 und OLG Zweibrücken 1 OWi 2 Ss Bs 106/17, Beschluss vom 28. Februar 2018, jeweils zit. nach juris).

Soweit die Rechtsbeschwerde der Sache nach rügt, dass die Datenzeile auf dem in Augenschein genommenen Messfoto nicht gesondert — etwa durch Verlesung — in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, trifft dies zwar zu. Die Inaugenscheinnah­me genügt jedoch ausnahmsweise dann, wenn sich auch der gedankliche Inhalt der Urkunde durch einen Blick erfassen lässt (hierzu BGH NStZ 2014, 606 f.; eben­so KG Berlin, NStZ-RR 2016, 27 f.).“

M.E. fraglich, da m.E. nicht der „eine Blick“ reicht.

Verlesung eines Polizeiberichts, oder: Auch zulässig, wenn die Unterschrift fehlt?

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Die zweite Entscheidung, die ich heute vorstelle, betrifft ebenfalls eine „Verlesungsfrage“, und zwar in Zusammenhang mit der Verlesung eine Polizeiberichts (§ 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO). Da war gerügt worden, dass der von dem Polizeibeamten, der ihn angefertigt hatte, nicht unterzeichnet war.

Das stört den BGH im BGH, Beschl. v. 01.08.2018 – 5 StR 330/18 – aber nicht:

„2. Mit der Rüge einer fehlerhaften Einführung des Polizeiberichts vom 16. November 2013 in die Hauptverhandlung kann der Angeklagte aus den durch den Generalbundesanwalt genannten Gründen nicht durchdringen. Zwar war der Bericht von dem Polizeibeamten nicht handschriftlich unterzeichnet. Er beginnt jedoch mit dem Aufdruck: „Sachbearbeiter: A.   PK“ und endet mit „A.   , PK“. Damit ist klar erkennbar, auf wessen Erkenntnissen die in dem Bericht beschriebenen Vorgänge beruhen. Eine besondere (Unterschrifts-)Form der in § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO bezeichneten Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden erfordert die Vorschrift nicht (vgl. LR-Stuckenberg, 26. Aufl., § 256 Rn. 40 mwN). Dass ein bloßer Entwurf in Rede stand, kann ausgeschlossen werden.“

OWi I: Unzulässige Verlesung von Zeugenangaben, oder: Tatzeugen sind keine Ermittlungsbeamte

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Heute dann noch einmal ein wenig OWi-/Bußgeldverfahren. Ich bin da noch auf ein paar Entscheidungen in meinem Blogordner gestoßen, die „raus müssen“. Das ist zunächst der OLG Bamberg, Beschl. v. 28.12.2017 – 3 Ss OWi 1842/17, also schon ganz schön alt.

Er enthält eine erfolgreiche Beschwerde beim OLG Bamberg! Grund: Unzulässige Verlesung der Angaben von Tatzeugen:

„Die ordnungsgemäß (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 77a Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 OWiG ist, wovon auch die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Stellungnahme vom 11.12.2017 ausgeht, begründet. Die auf § 77a Abs. 1 OWiG gestützte Verlesung der schriftlichen Aussagen der Tatzeugen, die keine Ermittlungsbeamten i.S.d. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO waren, hätte nach § 77a Abs. 4 Satz 1 OWiG der Zustimmung des  in der Hauptverhandlung anwesenden Verteidigers des Betroffenen bedurft. Eine solche Zustimmung ist von diesem ausdrücklich verweigert worden, was auch sein stillschweigend erklärtes Einverständnis mit der Verlesung ausschließt. Das Amtsgericht hat auch keinen in § 77a Abs- 4 Satz 2 OWiG genannten Verlesungsgrund herangezogen.

Auf diesem Verfahrensfehler kann das Urteil auch beruhen, denn die Überzeugungsbildung des Amtsgerichts wird auf die verlesenen Angaben der Tatzeugen gestützt.“