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Strafzumessung I: Die Urteilsformel und die Gründe passen nicht zueinander, oder: Durcheinander

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Heute dann ein Strafzumessungstag.

Die erste Entscheidung, die ich vorstelle, der BGH, Beschl. v. 15.07.2020 – 4 StR 242/20 – hängt schon etwas länger in meinem Blogordner und war dort gekennzeichnet mit: „Strafzumessung-Durcheinander“. Und in der Tat, da ist bei der Strafkammer einiges durcheiandergegangen.

Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision hatte hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg.

„2. Der Strafausspruch hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe den tenorierten Strafausspruch nicht tragen.

a) Nach der Urteilsformel im schriftlichen Urteil beträgt die verhängte Freiheitsstrafe drei Jahre und sechs Monate, nach den Urteilsgründen hingegen nur drei Jahre und drei Monate. Am 27. März 2020 hat das Landgericht einen Berichtigungsbeschluss dahingehend erlassen, dass es in den Urteilsgründen bei den Ausführungen zur Strafzumessung „Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten“ heißen müsse. Zur Begründung führt die Strafkammer an, es handele sich angesichts des Tenors und der verkündeten Strafe um ein offensichtliches Schreibversehen.

b) Die in der Urteilsformel genannte Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wird von den Erwägungen zur Strafzumessung in den Urteilsgründen nicht getragen, weil diese eine andere Strafe ausweisen. Worauf dieser Widerspruch beruht, lässt sich dem Urteil selbst nicht entnehmen. Denn es liegt keine Fallgestaltung vor, bei der ohne Weiteres deutlich wird, dass der Tatrichter seine – für sich genommen rechtsfehlerfreien – Ausführungen zur Strafzumessung in Wirklichkeit nicht auf die in den Urteilsgründen, sondern auf die in der Urteilsformel bezeichnete Strafe bezogen hat und dass diese Strafe trotz der anderslautenden Urteilsgründe dem Beratungsergebnis entspricht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2012 – 2 StR 544/11; vom 8. Juni 2011 – 4 StR 196/11; vom 1. September 2010 – 5 StR 262/10).

c) Der hierzu ergangene Berichtigungsbeschluss ist unwirksam, weil das vom Landgericht angeführte Schreibversehen nicht offensichtlich ist. Enthalten die Urteilsgründe – wie hier – rechtlich einwandfreie Strafzumessungserwägungen, kann ein die Strafhöhe betreffender Widerspruch zwischen der Urteilsformel sowie den Gründen des schriftlichen Urteils nicht als offenkundiges, für alle klar zu Tage tretendes Fassungsversehen aufgefasst werden (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 – 1 StR 336/11; Beschluss vom 25. Juni 1992 – 1 StR 631/91; Beschluss vom 18. Juli 1989 – 5 StR 232/89, BGHR StPO § 260 Abs. 1 Urteilstenor 2). Denn es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die dort bezeichnete niedrigere Freiheitsstrafe ohne jeden vernünftigen Zweifel vom Landgericht so nicht verhängt werden sollte.

3. Der Tatrichter muss die Strafe neu festsetzen. Auf der Grundlage des Urteils lässt sich weder ausschließen, dass das Landgericht die in der Urteilsformel genannte Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten hat verhängen wollen, noch dass es die in den Urteilsgründen bezeichnete Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten für angemessen gehalten hat. Die Feststellungen zur Strafzumessung sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie bleiben deshalb bestehen.“

OWi II: Ablehnung eines Beweisantrages ohne Begründung, oder: Das geht auch in Bayern nicht

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Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern, und zwar vom BayObLG. Dort hatte der Betroffene gegen seineVerurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung geltend gemacht, dass das AG einen Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne Begründung abgelehnt hat. Die GStA fand das wohl nicht so schlimm und hatte beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen. Das BayObLG meint hingegen im BayObLG, Beschl. v. 04.12.2020 – 201 ObOWi 1471/20 -, dass das selbst in bayern 🙂 nicht geht:

„1. Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Verteidiger beantragte in der Hauptverhandlung vom 17.07.2020 nach Angaben des Verteidigers zur Fahrereigenschaft sowie Vernehmung des Messbeamten als Zeugen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die vorliegende Messung nicht den Vorgaben der Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts ESO 3.0 genügt und daher nicht verwertbar ist. Das Fahrzeug des Betroffenen habe sich fast die ganze Fahrzeuglänge vor der Fotolinie befunden, hätte sich aber nach der Bedienungsanleitung auf Höhe der markierten Fotolinie befinden müssen. Das Amtsgericht lehnte diesen Beweisantrag ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 17.07.2020 per Beschluss mit dem Wortlaut „Der Antrag wird zurückgewiesen.“ ab. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Beweisantrag aufgrund der Aussage des Messbeamten gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zu-rückgewiesen werden konnte. Den Beweisantrag hatte der Verteidiger dem Amtsgericht zusätzlich bereits einen Tag vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich übermittelt.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags er-weist sich als begründet, weil die gerichtliche Ablehnungsentscheidung rechtlicher Überprüfung nicht standhält. Die Ablehnung unbedingter Beweisanträge darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden. Die Ablehnung eines Beweisantrags hat gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 244 Abs. 6 StPO durch einen noch vor Schluss der Beweisaufnahme mit Gründen zu versehenen und mit diesen gemäß § 273 Abs. 1 StPO zu protokollierenden Gerichtsbeschluss zu erfolgen (BGHSt 40, 287, 288; OLG Köln, Beschl. v. 30.01.1970 – 1 Ws [OWi] 9/70 = BeckRs 9998, 109184; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 244 Rn. 82 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 23). Die Begründung soll den Antragsteller davon in Kenntnis setzen, wie das Gericht seinen Antrag beurteilt. Er soll dadurch in die Lage versetzt werden, sein weiteres Verteidigungs- bzw. Prozessverhalten auf die neue Verfahrenssituation rechtzeitig einzustellen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.12.2006 – 3 Ss OWi 1614/06 [unveröffentlicht]). Hier liegt überhaupt keine Begründung der Ablehnung vor, es wurde lediglich der Antrag „zurückgewiesen“. Die willkürliche Ablehnung eines Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückzuführende Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt aber das rechtliche Gehör (BVerfG NJW 1992, 2811). Daran ändert auch die nachträgliche Begründung der Ablehnung des Beweisantrags im Urteil nichts. Denn daraus kann nicht geschlossen werden, aus welchen Gründen der Beweisantrag in der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist.“

Kessel Buntes II: BGH zur insolierten Sperrfrist, oder: Mal etwas für die Verkehrsrechtler

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Die zweite Entscheidung kommt auch vom BGH. Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 20.10.2020 – 4 StR 357/20. Sie ist insbesondere für Verkehrsrechtlecher interessant. Nun ja, so doll ist es nun auch wieder nicht, aber: E ist schön, mal wieder etwas vom BGH zur Sperrfrist (§ 69a StGB) zu lesen. Dem BGH hat die vom LG, das den Angeklagten u.a. wegen Beihilfe zum erpresserischen Menschenraub verurteilt hatte, verhängte Sperrfrist so nicht gefallen:

„2. Hingegen kann die Anordnung der auf zwei Jahre bemessenen isolierten Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis gemäß § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB nicht bestehen bleiben.

Zwar hat das Landgericht die charakterliche Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen insgesamt tragfähig begründet. Der Senat vermag ein Beruhen des Urteils auf der für sich genommen rechtlich nicht unbedenklichen Erwägung auszuschließen, die Anlasstat zeige, „dass der Angeklagte bereit ist, die allgemeine Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen“; insoweit fehlt es an konkreten Feststellungen, die diese tatgerichtliche Wertung tragen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. April 2005 . GSSt 2/04, BGHSt 50, 93, 103).

Es fehlt jedoch an einer Begründung für die Dauer der Sperrfrist. Die Länge der Sperrfrist ist an der voraussichtlichen Dauer der Ungeeignetheit des Täters auszurichten (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2018 – 2 StR 211/18, BGHR StPO § 267 Abs. 6 Satz 1 Darlegungspflicht 1). Der Umfang der erforderlichen Darlegungen dieser Prognoseentscheidung in den Urteilsgründen ist von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig (BGH, Beschluss vom 23. November 2017 – 4 StR 427/17, StV 2018, 414, 415). Angesichts der nicht unerheblichen Dauer der auf zwei Jahre bemessenen Sperrfrist und des Umstands, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft ist, hätte es insoweit näherer Ausführungen bedurft. Hieran fehlt es. Um eine teilweise Zurückverweisung der Sache zur Neufestsetzung der Sperrfrist zu vermeiden und zugleich jedwede Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen, setzt der Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO die Sperrfrist auf das gesetzliche Mindestmaß von sechs Monaten fest (§ 69a Abs. 1 StGB).“

OWi II: SV-Gutachten als Urteilsgrundlage, oder: Und bloße Wiedergabe des Bußgeldbescheides reicht nicht

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Jena, Beschluss vom 21.09.2020 – 1 OLG 151 SsBs 72/20.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung  verurteilt. Der Betroffene hat die Ordnungsgemäßheit der durchgeführten Messung bezweifelt Das AG hatte dann ein SV-Gutachten eingeholt und im Urteil seine Überzeugung von der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung auf die Ausführungen dieses Sachverständigen gestützt. Aber das – wie das OLG in seinem Beschluss ausführt – nicht ausreichend dargelegt. Mal wieder der Dauerbrenner:

„Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ist lückenhaft, weil lediglich das Ergebnis des Gutachtens dargestellt wird.

Stützt der Tatrichter den Schuldspruch – wie vorliegend – auf ein Sachverständigengutachten, so ist in den Urteilsgründen eine verständliche in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung erforderlich (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06. Oktober 2004 – 2 Ss OWi 555/04 -, Rn. 9; Beschluss vom 18. Dezember 2012 – III-1 RBs 166/12-, Rn. 9, juris).

Die Gründe ermöglichen dem Senat vorliegend nicht die Überprüfung, ob die vom Amtsgericht getroffene Feststellung, die durchgeführte Messung sei in jeder Beziehung ordnungsgemäß erfolgt und sei zu einem völlig richtigen Messergebnis gelangt, ohne Rechtsfehler getroffen wurde. Das Urteil führt nur punktuell das Ergebnis des Gutachtens auf, ohne eine geschlossene Darstellung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen. Auch die das aufgeführte Ergebnis des Gutachtens tragende fachliche Begründung wird nicht mitgeteilt. Eine Prüfung der Schlüssigkeit des Gutachtens ist somit nicht möglich.

Die alleinige Mitteilung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens kann zwar u.U. dann ausreichen, wenn der Sachverständige bei der Begutachtung ein weithin standardisiertes Verfahren angewendet hat, es sich um einen renommierten Sachverständigen handelt und wenn von keiner Seite Einwände gegen die der Begutachtung zugrunde liegende Tatsachengrundlage und die Zuverlässigkeit der Begutachtung selbst erhoben werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06. Oktober 2004 – 2 Ss OWi 555/04 -, Rn. 10 m.w.N.). Diese Voraussetzungen, unter denen die Mitteilung des Ergebnisses ausnahmsweise zur Beweisführung ausreicht, liegen hier nicht vor.“

Und nicht nur das, denn:

„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass das Urteil nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 1 StPO eigene Feststellungen zum Tatgeschehen als Grundlage des Schuldspruchs ausweisen muss. Mit der Darstellung der Tat unter Ziff. II des Urteils, eingeleitet mit “dem Betroffenen wird vorgeworfen”, werden eigene Feststellungen des Amtsgerichts nicht belegt. Die bloße Wiedergabe des Bußgeldbescheides ist nicht ausreichend (vgl. Senat, Beschluss vom 30.07.2020, Az. 1 Ss 57/20 für § 267 Abs. 1. Satz 1 StPO; Beschluss vom 10.01.2005 – 1 Ss 239/04 -, Rn. 21 ff., juris).2

Scheint also nicht viel „drin gestanden“ zu haben in dem AG-Urteil.

OWi I: Nachfahren und Messung mit einem Navi im Privat-Pkw, oder: Im Zweifel SV-Gutachten

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Heute ist dann „OWi-Tag“, also bußgeldrechtliche Entscheidungen.

Und den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 18.06.2020 – 201 ObOWi 739/20. Er ist schon etwas älter, aber das BayObLG hat ihn jetzt erst geschickt. Behandelt werden die Anforderungen an die Urteilsgründe, wenn der Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit einem Navigationsgerät im Privatfahrzeug zugrunde lag.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um mindestens 41 km/h verurteilt. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen war die Messung der Geschwindigkeit durch den Zeugen PHM L. erfolgt, der mit seinem Privat-Pkw auf der B 14 in Richtung T. über eine Strecke von etwa 500 Metern mit etwa gleichbleibender Geschwindigkeit den vom Betroffenen geführten Pkw verfolgt hatte, wobei er von seinem Navigationssystem eine Geschwindigkeit von bis zu 195 km/h hatte ablesen können bei in etwa gleich bleibendem Abstand [von] „zwei Streckenbegrenzungspfosten“. In Anbetracht dessen, dass das genaue Ausmaß der Nachfahrstrecke und die exakte Einhaltung des Abstands nicht sicher gewährleistet worden seien hatte das AG einen – nicht näher begründeten – „weiteren“ Toleranzabzug vorgenommen und eine Geschwindigkeitsüberschreitung um wenigstens 41 km/h zugrunde gelegt. Dagegen hatte sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde gewandt, die beim BayObLG Erfolg hatte:

„1. Zwar sind im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine über-trieben hohen Anforderungen zu stellen. Dennoch kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten, denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 71 Rn. 42, 43 m.w.N.). Hinsichtlich der Beweiswürdigung müssen die Urteilsgründe regelmäßig auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt und inwieweit er die Einlassung für widerlegt ansieht. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann (KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 107 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. Rn. 43, 43a m.w.N.).Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.

a) Der Tatrichter stellt fest, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit außer-halb geschlossener Ortschaften mit seinem Pkw um mindestens 41 km/h überschritten habe und statt der zulässigen Geschwindigkeit von 100 km/h wenigstens 141 km/h gefahren sei. Die Messung der Geschwindigkeit sei durch den Zeugen PHM L. erfolgt, der mit seinem Privat-Pkw auf der B 14 in Richtung T. über eine Strecke von etwa 500 Metern mit etwa gleichbleibender Geschwindigkeit den vom Betroffenen geführten Pkw verfolgt habe, wobei er von seinem Navigationssystem eine Geschwindigkeit von bis zu 195 km/h habe ablesen können bei in etwa gleich bleibendem Abstand [von] „zwei Streckenbegrenzungspfosten“. Eine Fahrstrecke von 500 Metern ab kurz nach der Abfahrt nach R. sei mit der vom Zeugen L. genannten Maximalgeschwindigkeit kompatibel. In Anbetracht dessen, dass das genaue Ausmaß der Nachfahrstrecke und die exakte Einhaltung des Abstands nicht sicher gewährleistet worden sind, hat das Gericht einen – nicht näher begründeten – „weiteren“ Toleranzabzug vorgenommen und legt eine Geschwindigkeitsüberschreitung um wenigstens 41 km/h zugrunde.

b) Es ist anerkannt, dass die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit einem Fahr-zeug, das mit einem ungeeichten Tacho ausgestattet ist, grundsätzlich eine genügende Beweisgrundlage für die Annahme eine Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit sein kann. Dies gilt auch dann, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, wenn ein Privatfahrzeug bei der Nachfahrmessung Verwendung findet (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 19.03.2009 – 3 Ss OWi 94/09 bei juris). Wie das Tatgericht zutreffend feststellt, handelt es sich hierbei aber nicht um ein standardisiertes Messverfahren. Maßgebliche Kriterien für die Zuverlässigkeit einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren sind insbesondere die Sichtverhältnisse, eine ausreichende Nachfahrstrecke und ein gleichbleibender Abstand. Ist das nachfolgende Fahrzeug mit einem ungeeichten Tachometer ausgerüstet, berücksichtigt ein Sicherheitsabschlag von 20 % bei guten allgemeinen Sichtverhältnissen grundsätzlich alle zugunsten des Täters in Betracht kommenden Fehlerquellen, wenn der Abstand zum voraus-fahrenden Fahrzeug etwa den halben bis maximal ganzen Tachowert, den das nachfahrende Fahrzeug anzeigt, nicht übersteigt, der Abstand ungefähr gleich bleibt, die Nachfahrstrecke rund das Fünffache des Abstandes beträgt und der Tachometer in kurzen Abständen abgelesen wird. Wenn keine Anhaltspunkte für außergewöhnliche Umstände vorliegen, entfallen i.d.R. 16 % des Abschlages auf mögliche Fehlerquellen der Geschwindigkeitsanzeige des nachfolgenden Fahrzeugs (Tachometerabweichung, Reifenverschleiß, Reifenluftdruck, Reifenfertigungstoleranz, Antriebsschlupf) und 4 % auf eine nicht ausschließbare unbemerkte Abstandsverringerung (BayObLG, Beschl. v. 17.04.1996 – 1 ObOWi 85/96 bei juris). Bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h soll im Regelfall die Mindeststrecke, über die die Geschwindigkeit festgestellt werden muss, 500 Meter betragen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.02.2010 – 2 Ss OWi 77/10 bei juris; KG, Beschl. v. 05.04.2019 – 3 Ws (B) 114/19, BeckRS 2019, 16058). Dies entspricht den Vorgaben der Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren für die polizeiliche Verkehrsüberwachung vom 12.01.2011 (Ergänzende Weisung Nr. 3.2), wonach die Messstrecke bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h nicht kürzer als 500 Meter sein soll, der Nachfahrabstand etwa dem halben bis maximal dem ganzen Tacho-Wert entsprechen soll und auch bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h ca. 100 Meter nicht überschreiten soll. Es muss sichergestellt sein, dass sich der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug zwischen Messbeginn und Messende nicht merklich verringert hat. Deshalb soll der Abstand so gering sein, dass dies durch den nachfolgenden Polizeibeamten zuverlässig beurteilt werden kann.

c) Die Feststellungen des Tatgerichts und die dahingehende Beweiswürdigung zu der vom Betroffenen mindestens gefahrenen Geschwindigkeit erweisen sich als lückenhaft, weil nicht dargelegt wird, dass sämtliche vorgenannte Voraussetzungen für eine Nachfahrmessung gegeben sind. Es besteht zudem Grund zu der Besorgnis, dass der Tatrichter nicht ausreichend beachtet hat, dass vorliegend die Geschwindigkeit des nachfolgenden Fahrzeugs nicht von einem Tachometer, sondern von einem Navigationssystem abgelesen worden ist, und deshalb unklar bleibt, ob auch eventuelle Messungenauigkeiten bei der Geschwindigkeitsermittlung durch das Navigationsgerät Berücksichtigung gefunden haben.

aa) Den Feststellungen des Tatgerichts lässt sich vorliegend nicht entnehmen, wie häufig der Zeuge während der Nachfahrmessung die Geschwindigkeitsanzeige beobachtet hat bzw. welche Geschwindigkeit der Betroffene während der Nachfahrmessung wenigstens eingehalten hat. Es ist vielmehr zu besorgen, dass der Zeuge nur kurzfristig eine Geschwindigkeit von 195 km/h beobachtet hat, da im Urteil davon die Rede ist, dass es sich um die Maximalgeschwindigkeit von bis zu 195 km/h gehandelt habe. Bei der Nachfahrenmessung kann aber nur die Geschwindigkeit zugrunde gelegt werden, die der Betroffene für die Dauer der Messung über die Nachfahrstrecke bei (in etwa) konstantem Abstand wenigstens eingehalten hat.

bb) Zudem bleibt unklar, ob die vom Tatgericht berücksichtigte Toleranz ausreichend ist. Die genannten Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren für die polizeiliche Verkehrsüberwachung setzen voraus, dass ein Fahrzeug mit einem ungeeichten Tachometer ausgerüstet ist. Vorliegend wurde jedoch die Geschwindigkeit von einem Navigationsgerät abgelesen. Im tatrichterlichen Urteil finden sich keine Feststellungen zur Art dieses Navigationsgerätes bzw. zur Ermittlung der Geschwindigkeit durch dieses Gerät. Die Generalstaats-anwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 19.05.2020 Folgendes ausgeführt:

„Vorliegend hat das Amtsgericht zur Kompensation einer möglichen geringfügigen Unterschreitung der Messstrecke von 500 m und einer nicht exakten Einhaltung des Nachfahrabstands von der festgestellten „Maximalgeschwindigkeit“ von 195 km/h 54 km/h abgezogen und somit einen Toleranzabzug von rechnerisch 27 % angenommen. Allerdings hat das Amtsgericht bei der Bemessung der anzunehmenden Toleranz nicht erkennbar bedacht, dass die Messung vorliegend nicht mit einem serien-mäßig verbauten ungeeichten Tacho vorgenommen wurde, sondern mithilfe eines Navigationsgeräts, wobei Feststellungen zu dem verwendeten Typ und dessen Funktionsweise vollständig fehlen. Hierauf kann jedoch nicht verzichtet werden. Denn der Tatrichter muss in jedem Fall der Messung mit einem ungeeichten Gerät darlegen, welche mögliche geräteinternen Fehler und welche externen Fehlerquellen er berücksichtigt hat (vgl. zum Nachweis eines Rotlichtverstoßes mittels ungeeichter Stoppuhr BayObLG, Beschl. v. 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 bei juris Rn. 7). Davon, dass die Genauigkeit eines Navigationsgerätes stets dem eines Tachos entspricht oder diese sogar übersteigt, konnte das Tatgericht nicht ohne Weiteres ausgehen. Denn während bei einem serienmäßig verbauten Tacho anzunehmen ist, dass er den sich aus § 57 Abs. 2 StVZO i.V.m. Ziff. 4.3 und 4.4 im Anhang II zur Richtlinie 75/443/EWG des Rates vom 26. Juni 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Rückwärtsgang und das Geschwindigkeitsmessgerät in Kraftfahrzeugen ergebenden technischen Anforderungen genügt, die aus Gründen der Verkehrssicherheit sicherstellen, dass die angezeigte Geschwindigkeit stets ober-halb der tatsächlich gemessenen Geschwindigkeit liegt, bestehen solche (sich im Rahmen der Nachfahrmessung zugunsten des Betroffenen auswirkende) einheitlichen Mindestanforderungen für ein Navigationsgerät nicht. Insbesondere dann, wenn das Navigationsgerät nicht mit dem Wegstreckenzähler des Fahrzeugs verbunden ist, sondern zur Ermittlung von Position und Geschwindigkeit auf das GPS-Signal zu-rückgreift, dürfte die Zuverlässigkeit zudem auch von der Qualität der empfangenen Daten abhängen. Nachdem nähere Feststellungen zu dem verwendeten Navigations-gerät vollständig fehlen, kann das Rechtsbeschwerdegericht nicht prüfen, ob der schon wegen anderer Unsicherheiten erhöhte Toleranzwert ausreicht, zumal dieser sich ersichtlich an dem Schwellenwert von 41 km/h für einen Verstoß nach laufender Nr. 11.3.7 der Tabelle 1 zum BKat orientiert.“

„Der Senat schließt sich diesen zutreffenden Ausführungen nach eigener Überprüfung an. Vor diesem Hintergrund wäre das Amtsgericht gehalten gewesen, Feststellungen zur Art des zum Einsatz gekommenen Navigationsgerätes sowie zu der Frage zu treffen, wie zuverlässig der von diesem Navigationsgerät angezeigte Geschwindigkeitswert mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit übereinstimmt und welcher Sicherheitsabschlag ausreichend erscheint, um etwaige Messungenauigkeiten und sonstige Fehlerquellen auszugleichen (vgl. hierzu im Einzelnen BayObLG, Beschl. v. 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 = StraFo 2020, 25 = VerkMitt 2020, Nr 2 = ZfSch 2020, 173 = OLGSt MessEV § 1 Nr 1). Der Senat geht davon aus, dass insoweit die Zuziehung eines messtechnischen Sachverständigen geboten gewesen wäre (vgl. hierzu auch OLG Köln, Beschl. v. 29.08.2018 – 1 RBs 212/18 = BeckRS 2018, 27567 = VerkMitt 2019, Nr 3 [für den Fall der Geschwindigkeitsanzeige des nachfolgenden Fahrzeugs über eine Dash-Cam]).“

Wenn man es liest fragt man sich, welche Anstrengungen, Polizeibeamte eigentlich noch alle unternehmen wollen, um einen Geschwindigkeitsverstoß festzustellen?

Und/Aber: Als Verteidiger sollte man den Hinweis des OLG nicht übersehen: Im Zweifel wird man ohne einen Sachverständigen nicht auskommen. Darauf sollte man angesichts der Tendenz bei den AG, Beweisanträge möglichst abzulehnen, bei Antragstellung hinweisen.