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OWi I: Täteridentifizierung, oder: Urteilsgründe, wenn der Haaransatz nicht erkennbar ist

Heute dann der „OWi-Tag“ der Woche, also drei Entscheidungen zum/aus dem Bußgeldverfahren.

Und den Starter macht der KG, Beschl. v.  26.11.2019 – 3 Ws (B) 350/19 , der noch einmal zu den Anforderungen an die Urteilgründe im Fall der Identifizierung des Betroffenen als Fahrer anhand eines „schlechten“, zumindest nicht so guten Lichtbildes nimmt. Der Betroffene hatte die Verfahrensrüge und die Sachrüge erhoben. Beide hatten keinen Erfolg.

Lassen wir mal die Aufklärungsrüge außen vor. Zur Sachrüge und zu mit der hinischtlich der Beweiswürigung geltend gemachten Rechtsfehler führt das KG aus:

„b) Die dem Schuldspruch zugrunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung stand.

Die Würdigung der Beweise ist Sache des Tatrichters. Das Rechtsbeschwerdegericht hat aber auf die Sachrüge zu prüfen, ob ihm hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind. Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung dann, wenn sie in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist. Dabei brauchen die Schlussfolgerungen des Tatrichters zwar nicht zwingend zu sein. Es genügt grundsätzlich, dass sie möglich sind und er von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Das Gericht muss jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Erfahrungssätze des täglichen Lebens und die Gesetze der Logik beachten. Um dem Rechtsbeschwerdegericht diese Nachprüfung zu ermöglichen, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa lediglich eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen – wenn auch möglicherweise schwerwiegenden – Verdacht zu begründen vermag (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Februar 2014 – 3 Ws (B) 67/14 – m.w.N.). Diesen Maßstäben wird die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gerecht.

Ob ein Lichtbild die Feststellung zulässt, dass der Betroffene der abgebildete Fahrzeugführer ist, hat dem folgend allein der Tatrichter zu entscheiden (BGH NJW 1979, 2318). Der freien Beweiswürdigung durch den Tatrichter sind indessen auch bezüglich der Identifizierung eines Betroffenen Grenzen gesetzt. So kann sich die Überzeugungsbildung hinsichtlich der Identifizierung durch Vergleich mit dem Erscheinungsbild des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen anhand eines unscharfen oder das Gesicht des Fahrers nur zu einem geringen Teil abbildenden Fotos als willkürlich erweisen (vgl. BGH NJW 1996, 1420). Die Urteilsgründe müssen vor diesem Hintergrund so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen (vgl. BGH NJW 1996, 1420). Insoweit reicht die deutlich und zweifelsfrei (BGH NStZ-RR 2016, 178) zum Ausdruck gebrachte Bezugnahme auf das in der Akte befindliche Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG in den Urteilsgründen aus, um dem Rechtsbeschwerdegericht zu ermöglichen, die Abbildung aus eigener Anschauung zu würdigen.

Das Amtsgericht hat diesen Maßstäben entsprechend durch genaue Bezeichnung der Seitenzahl in der Akte das in Bezug genommene Lichtbild zum Inhalt des Urteils gemacht. Ferner hat es sich hinreichend mit der Ergiebigkeit des Fotos auseinandergesetzt und kommt in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu der Überzeugung, dass das Lichtbild den Betroffenen zeigt, was es unter Darlegung und Beschreibung verschiedener Identifikationsmerkmale (wie Gesichtsform, Erscheinungsbild von Nase, Ohren sowie Stirnpartie) begründet. Der Umstand, dass der Haaransatz der auf dem Messfoto abgebildeten Person verdeckt ist, führt nicht zur generellen Ungeeignetheit des Bildes zur Fahreridentifizierung (vgl. Senat, Beschluss vom 6. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 -, juris m.w.N.). Das zum Inhalt der Urteilsurkunde gemachte Lichtbild erweist sich auf dieser Grundlage als zur Identifizierung geeignet, sodass Zweifel dahingehend, dass das Tatgericht anhand dessen einen Vergleich auf Übereinstimmung der darauf abgebildeten Person mit dem äußeren Erscheinungsbild des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen vorzunehmen vermochte, nicht bestehen.“

Also nichts Neues, sondern nur Bestätigung der „Haaransatzentscheidung“ aus 2018, dem KG, Beschl. v. 06.08.2018 – 3 Ws (B) 168/18.

OWI II: Fahreridentifizierung, oder: Verlesung der Datenzeile ist keine Inaugenscheinnahme des Fotos

Bei der zweiten OWi-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 27.02.2020 – III – 5 RBs 63/20. Er „behandelt“  die Verlesung der sog. Datenzeile eines Messfotos und grenzt die von die Inaugenscheinnahme eines Messfotos ab.

Das AG hat den Betroffenenwegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt. Dabei hat es sich wegen der Fahrereigenschaft des Betroffenen auf das Messfoto bezogen. Gegen die Verurteilung die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der mit der Verfahrensrüge geltend gemacht wird, das AG habe sich bei der Urteilsfindung auf ein Lichtbild, nämlich das Messfoto, gestützt, das nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei. Also: Inbegriffsrüge nach § 261 StPO i.V.m. §§ 249 ff. StPO, 77, 77a, 78 OWiG. Die Rüge hat Erfolg:

„Die entsprechenden Rügetatsachen (Nichtinaugenscheinnahme des in den Urteilsgründen in Bezug genommenen Lichtbildes BI. 4 d.A.) sind durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen. Bei der Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. § 273 Rn. 7 m. w. N.), so dass der Nachweis hierüber – bzw. über ihr Fehlen – durch das Hauptverhandlungsprotokoll geführt werden kann.

Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Inaugenscheinnahme – wie vorliegend -, so gilt diese als nicht erfolgt.

Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls wurde lediglich das Datenfeld des Messfotos BI. 4 d. A. durch Bekanntgabe seines wesentlichen Inhalts gemäß § 78 Abs. 1 S. 1 OWiG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 04.02.2020 hierzu unter Verweis auf eine Entscheidung des OLG Zweibrücken (Beschluss vom 28.02.2018 — 1 Owi 2 Ss Bs 106/17) die Ansicht vertritt, dass die Verlesung der Datenzeile die Inaugenscheinnahme des Messfotos ebenso umfassen müsse, wie die Inaugenscheinnahme des Messfotos die Einführung der Datenzeile -in die Hauptverhandlung beinhalte, kann dem nicht gefolgt werden. Das OLG Zweibrücken führt in der zitierten Entscheidung lediglich zutreffend und in Anschluss an die Rechtsprechung des BGH aus, dass, wenn sich ausnahmsweise der gedankliche Inhalt einer Urkunde auf einen Blick erfassen lässt, deren Inaugenscheinnahme auch deren Inhalt zum Gegenstand der Hauptverhandlung macht. Erschließt sich der Text bereits aus einem flüchtigen Betrachten der Urkunde bei der Inaugenscheinnahme, kann dessen Bedeutung nicht ausgeblendet werden und ist dieser mithin Bestandteil der diesbezüglichen Beweisaufnahme (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 28.02.2018 — 1 Owi 2 Ss Bs 106/17 = BeckRS 2018, 3367, beck-online). Umgekehrt kann dies jedoch nicht gelten. Während der Inhalt von Urkunden gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 StPO durch Verlesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, d.h. durch unmittelbares Umsetzen von Schrift- und Zahlenzeiehenin Worte (bzw. in Gedanken in der Ersatzform des Selbstlesens nach § 249 Abs. 2 S. 1 StPO), erfolgt der Augenschein durch sinnliche Wahrnehmung, nämlich Sehen, Hören, Schmecken, Riechen oder Befühlen (vgl. zur Abgrenzung BayObLG, Beschluss vom 06.03.2002 ­1 ObOWi 41/02 = NZV 2002, 379, beck-online). Durch das Erfordernis des Verlesens einer Urkunde in der Hauptverhandlung kommt zum Ausdruck, dass es nicht auf den optischen Eindruck des Schrift- bzw. Ziffernträgers ankommt sondern auf dessen gedanklichen Inhalt, der den Verfahrensbeteiligten durch Verlesung zur Kenntnis gebracht werden soll. Käme es im Einzelfall doch auf den optischen Eindruck an, müsste der Schriftträger zum Gegenstand der Inaugenscheinnahme gemacht werden (BayObLG a.o.a.O.). Die optische Wahrnehmung des den Fahrer zeigenden Lichtbildes, kann — jedenfalls zum Zwecke der Identifizierung des Fahrers — nicht durch die bloße Bekanntgabe durch die Vorsitzende ersetzt werden. Der optische Gesamteindruck muss — anders als die Datenzeile im Rahmen der Inaugenscheinnahme des Gesamtbildes — nicht im Rahmen der Mitteilung der Datenzeile durch die Vorsitzende von den Verfahrensbeteiligten zwingend mit erfasst werden.

Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil auch. Denn das Amtsgericht hat ausdrücklich das Messfoto BI. 4 d. A. zum Beweis der Fahrereigenschaft des Betroffenen zum Tatzeitpunkt herangezogen. Dieses Bild ist auch nicht identisch mit dem Bild auf Bl. 3 d. A., was der Senat aufgrund der zulässig erfolgten Bezugnahme auf beide Bilder in den Urteilsgründen nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 S. 3 StPO, vgl. BI. 5 des Urteils, 3. Abs. am Ende, selbst beurteilen kann. Auf den Bildern im Fallprotokoll, welches in Augenschein genommen wurde, wurden nämlich die Gesichter der Beifahrer durch ein weißes Rechteck unkenntlich gemacht. Auf die fehlende Ähnlichkeit der Beifahrer mit dem Betroffenen hat das Amtsgericht in seinen Ausführungen zu dessen Fahrereigenschaft jedoch ausdrücklich Bezug genommen. Das Amtsgericht hat sich seine Überzeugung daher nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet, so dass das angefochtene Urteil der Aufhebung unterliegt.“

Und: Auf ein Neues 🙂 .

OWi III: Täteridentifizierung anhand eines Lichtbildes, oder: Noch einmal Urteilsanforderungen…

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Und zum Tagesschluss dann noch ein wenig Wiederholung – muss auch mal sein. Und zwar Wiederholung in doppelter Hinsicht: Ich komme nämlich noch einmal auf das OLG Düsseldorf, Beschl. v. 06.12.2019 – IV – 2 RBs 171/19, über das ich schon einmal berichtet habe (vgl. OWi I: Fahrverbot, oder: Auswirkungen von (rechtsstaatswidriger) Verfahrensverzögerung). Insofern „Wiederholung I“. Und „Wiederholung II“: Die Thematik, die das OLG in seinem Beschluss auch noch behandelt hat, ist auch nicht neu.

Es hat nämlich noch einmal zu den Anforderungen an die Urteilsgründe in den Fällen der Fahreridentifizierung anhand eines Lichtbildes von dem dem Betroffenen zur Last gelegten Verkehrsverstoßes. Dazu hat es früher viele Entscheidungen gegeben, die Flut ist inzwischen aber merklich abgeklungen. Daher gut, dass das OLG noch einmal ins Gedächtnis ruft, worauf zu achten ist:

„1. Das angefochtene Urteil genügt nicht den Anforderungen, die von der Rechtsprechung bei der Fahreridentifizierung anhand eines Beweisfotos gestellt werden (vgl. grundlegend: BGHSt 41, 376 = NJW 1996, 1420; statt vieler: Senat NZV 1994, 445; OLG Hamm VRS 92, 27; VRS 93, 349; NStZ-RR 2009, 250; OLG Koblenz NZV 2010, 212, 213). Danach gilt für die Darstellung in den Urteilsgründen folgendes:

Wird in dem Urteil gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auf ein zur Identifizierung generell geeignetes Foto verwiesen, bedarf es im Regelfall keiner näheren Ausführungen. Bestehen allerdings nach Inhalt und Qualität des Fotos Zweifel an seiner Eignung als Grundlage für eine Identifizierung des Fahrers oder fehlt (wie hier) eine eindeutige Bezugnahme, so muss der Tatrichter angeben, aufgrund welcher auf dem Foto erkennbaren Identifizierungsmerkmale er die Überzeugung von der Identität des Betroffenen mit dem abgebildeten Fahrzeugführer gewonnen hat.

Bei der Beschreibung von Identifizierungsmerkmalen genügt der Hinweis auf „Übereinstimmungen“ nicht, vielmehr ist mit beschreibenden Adjektiven zu veranschaulichen, worin die Übereinstimmungen bestehen. Daran fehlt es hier.

Dieses Versäumnis wird auch nicht dadurch geheilt, dass das Amtsgericht die Ausführungen der anthropologischen Sachverständigen, wonach der Betroffene mit der Person auf dem Messfoto „sehr wahrscheinlich“ identisch ist, für überzeugend und nachvollziehbar erachtet hat. Denn das Tatgericht hat in Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (vgl. BGH NJW 2000, 1350; OLG Oldenburg NZV 2009, 52; OLG Jena BeckRS 2011, 17914; OLG Celle NZV 2013, 47). Dazu gehört die Beschreibung der charakteristischen Identifizierungsmerkmale. Vorliegend hat das Amtsgericht lediglich verschiedene Regionen des Gesichtes und Kopfes aufgelistet, ohne die deskriptiven Merkmale darzulegen, anhand derer die anthropologische Sachverständige zu ihrer Beurteilung der Identitätswahrscheinlichkeit („sehr wahrscheinlich“) gelangt ist.

Um dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung anhand eines eigenen optischen Eindrucks zu ermöglichen, ist es zudem ratsam, in dem Urteil nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auf das (vergrößerte) Messfoto und das Vergleichsfoto zu verweisen.“

Zeuge I: Misslungene „Täteridentifizierung“, oder: Lückenhafte Beweiswürdigung

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Der heutige Tag ist dann mal Entscheidungen gewidmet, die alle – zumindest entfernt – mit Zeugen und deren (Nicht)Vernehmung und/oder auch Beweiswürdigung zu tun haben.

Den Opener mache ich mit dem KG, Beschl. v. 02.09.2019 – (2) 121 Ss 87/19 (26/19) -, in dem das KG eine lückenhafte Beweiswürdigung des LG gerügt hat. Der Angeklagte ist u.a. auch wegen Raubes verurteilt worden. Insoweit hatte er Berufung eingelegt, die vom LG verworfen worden ist. Das KG hebt diese Verurteilung auf.

Es legt noch einmal die Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung dar. Diesen Anforderungen genügt das landgerichtliche Urteil nach seiner Auffassung nicht. Denn:

„Hinsichtlich Täterschaft des Angeklagten geht die Kammer ausweislich der Urteilsgründe zunächst durchaus nachvollziehbar davon aus, dass sich der Täter in der Laube des Geschädigten ausgekannt haben müsse und nur die Verwandtschaft des Geschädigten sowie die Mitarbeiter des Pflegedienstes „K.“ Zugang zu der Laube gehabt hätten. Mithin gehöre der Angeklagte zu dem engen Kreis von Personen, die als Täter grundsätzlich in Betracht kämen (neben ihm mindestens noch der Enkel des Opfers, der auch für den Pflegedienst arbeitet, und der frühere Pflegedienstmitarbeiter „J.“). Sodann heißt es wörtlich (UA S. 13): „Die Kammer hält es für fernliegend, dass ein Verwandter des Geschädigten angesichts des brutalen Vorgehens die Tat begangen hat. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass der Geschädigte einen nahen Verwandten an der Stimme oder der Statur wiedererkannt hätte.“

Danach bleibt offen und wird im Urteil auch nicht thematisiert, warum der Geschädigte den Angeklagten, den er nach den Urteilsfeststellungen vergleichs­weise gut kannte, weil er von ihm regelmäßig gepflegt wurde, nicht erkannt und als Täter direkt identifiziert hat. Vielmehr heißt es dazu im Urteil (UA S. 13): „In seiner polizeilichen Vernehmung vom 3. März 2015 gab der Geschädigte nämlich an, dass es sich bei dem Täter um einen circa 1,70 bis 1,75 Meter großen, schlanken und dunkel gekleideten Mann gehandelt habe, dessen Alter er auf 30 Jahre schätze.“

Zu einer Sehschwäche des Geschädigten, einer Maskierung des Täters oder schlechten Sichtverhältnissen am Tatort finden sich im Urteil keine Feststellungen. Insoweit weist die Beweiswürdigung einen revisionsrechtlich beachtlichen Mangel auf, weil sie in einem zentralen Punkt unklar und lückenhaft ist. Dies hat sich auch zu Lasten des Angeklagten ausgewirkt, denn dass der Geschädigte den Angeklagten nicht als Täter (wieder-)erkannt hat, ist unter den gegebenen Umständen ein erheblich entlastender Aspekt, mit dem sich die Kammer hätte auseinandersetzen müssen.

Die von der Strafkammer ausführlich erörterten Aspekte, die gegen die Glaub­haftigkeit des von dem Angeklagten vorgebrachten Alibis sprechen, führen nicht zu einer tragfähigen Tatsachengrundlage für eine Verurteilung. Der Angeklagte ist nicht gehalten, sein Alibi zu beweisen; er hat das Recht, einen Alibibeweis anzutreten. Misslingt dieser Beweis, so fällt damit eine ihm zustehende Verteidigungsmöglichkeit weg. Dies bedeutet, dass gegebenenfalls eine schon anderweit gewonnene Überzeugung des Tatrichters nicht erschüttert wird. Der Fehlschlag kann jedoch für sich allein, das heißt ohne Rücksicht auf seine Gründe und Begleitumstände, noch kein Beweisanzeichen dafür sein, dass der Angeklagte der Täter ist. Dabei handelt es sich um die Anwendung eines allgemeinen, über die Fälle des Alibivorbringens hinausreichenden Grundsatzes, der besagt, dass eine für widerlegt erachtete Behauptung des Angeklagten nicht ohne weiteres ein Täterschaftsindiz abgibt (st. Rspr., vgl. BGHSt 41, 153 mwN; BGH StV 1985, 356; 1986, 286; 1986, 369; BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 5 und Beweiskraft 3).“

Urteil III: Fahreridentifizierung, oder: „sehr wahrscheinlich Fahrer“ ist zu wenig

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Die dritte Entscheidung, die ich heute vorstelle, kommt aus dem Bußgeldverfahren. Es ist der OLG Oldenburg, Beschl. v. 05.08.2019 – 2 Ss (OWi) 220/19, den mir der Kollege Egbers aus Lingen überlassen hat. Auch er hat ein „Dauerbrennerthema“ zum Inhalt, nämlich die Anforderungen an die Urteilsgründe bei der Identifizierung des Betroffenen anhand eines vom Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Der Verurteilung hat u.a. auch ein Sachverständigengutachten zugrunde gelegt. Die Sachverständige hat es (aber nur) als „sehr wahrscheinlich“ angesehen, dass der Betroffene Fahrer gewesen ist. Das reicht dem OLG nicht:

„Die Feststellungen zur Fahreridentität halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Das Amtsgericht hat ausgeführt, dass an der Fahrereigenschaft kein Zweifel bestehe. Bei einem Vergleich des bei der Geschwindigkeitsmessung gefertigten Lichtbildes mit dem Betroffenen im Rahmen der Hauptverhandlung hätten durch das Gericht keinerlei abweichende Merkmale festgestellt werden können. Die vom Gericht beigezogene Sachverständige komme in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass eine Identität zwischen der abgebildeten Person mit dem Betroffenen sehr wahrscheinlich sei. Das Gericht habe das Gutachten nachvollzogen und mache es sich vollinhaltlich zu eigen.

Diese Ausführungen entsprechen nicht den Grundsätzen, die der Senat im Zusammenhang mit der Identifizierung von Fahrzeugführern aufgestellt hat. Er hat im Beschluss vom 12. Oktober 2011 (2SsBs 241/11) folgendes ausgeführt:

„Ausweislich der Urteilsgründe ist davon auszugehen, dass das Amtsgericht seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen allein auf das Sachverständigengutachten gestützt hat. Stützt das Amtsgericht seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen jedoch ausschließlich auf das Gutachten, wird dieses den Grundsätzen, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1995 (BGHSt 41, 377 ff) und dem folgend der Senat in seinem Beschluss vom 30.09.2008, (DAR 2009, 43 ff.) aufgestellt hat, nicht gerecht:

Aus dem Umstand, dass das Amtsgericht Anlass gesehen hat, ein Sachverständigengutachten einzuholen, ergibt sich, dass es das Lichtbild zur Identifizierung des Betroffenen offensichtlich nur als eingeschränkt geeignet angesehen hat. Ausweislich der Urteilsgründe hat der Sachverständige die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Betroffene Fahrer gewesen sei, als „höchstwahrscheinlich“ angesehen. Dies ist zwar ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, jedoch weniger als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Auch wenn der Vergleich des Fotos mit dem Betroffenen für sich allein deshalb nicht den Schluss auf die Fahrereigenschaft zulässt, kann eine Gesamtwürdigung aller Umstände, der sich aus dem Foto ergebenen Anhaltspunkte sowie weiterer Indizien, etwa der Haltereigenschaft, der Fahrtstrecke oder -zeit gleichwohl zur Überführung des Betroffenen ausreichen (vgl. BGH a.a.O.). Der Senat hat in der oben genannten Entscheidung ausgeführt, dass eine seitens eines Sachverständigen festgestellte hohe Identitätswahrscheinlichkeit eine Verurteilung nicht allein trage, wenn das Foto eine mindere Qualität aufweise. Ein Rückschluss auf den Fahrer erfordere zumindest die zusätzliche Feststellung, dass der Betroffene entweder Halter des PKW sei oder in einer solchen Beziehung zum Halter des PKW stehe, dass ein Zugriff auf den PKW zu der fraglichen Zeit nicht auszuschließen sei“.

Zwar hat das Amtsgericht dargelegt, dass es keinen Zweifel an der Täterschaft des Betroffenen habe. Andererseits führt das Amtsgericht aus, dass es das Gutachten der Sachverständigen nachvollzogen habe und es sich voll inhaltlich zu eigen mache, wobei die Sachverständige die Identitätswahrscheinlichkeit allerdings mit (nur) „sehr wahrscheinlich“ eingestuft hatte.

Das Amtsgericht hat jedoch keine weiteren Gesichtspunkte aufgeführt, die für eine Fahrereigenschaft des Betroffenen sprechen. Dass jemand „sehr wahrscheinlich“ eine Straftat oder wie hier eine Ordnungswidrigkeit begangen hat, rechtfertigt eine Verurteilung jedoch nicht.

Der Senat hatte in der Vergangenheit in denjenigen Fällen, in denen zu erwarten war, dass das Amtsgericht die im Beschluss über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde erteilten Hinweise zukünftig berücksichtigen werde, von der Zulassung der Rechtsbeschwerde abgesehen. An dieser Rechtsprechung sieht er sich jedoch durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27.10.2015 – 2 BvR 3071/14, BeckRs 2016, 40852 gehindert. Dort hat das Bundesverfassungsgericht beanstandet, dass das Oberlandesgericht eine Rechtsbeschwerde nicht ohne weiteres mit der Begründung als unzulässig habe verwerfen dürfen, dass die Entscheidung auf einem Fehler im Einzelfall beruhe, sich das Gericht nicht bewusst über die obergerichtliche Rechtsprechung hinweggesetzt habe und den Fehler angesichts der Ausführungen des Oberlandesgerichts nicht wiederholen werde. Da die Annahme des Oberlandesgerichts, es habe sich nur um einen Fehler im Einzelfall gehandelt, keine andere Grundlage als die Vermutung habe, dass sich das Gericht durch die Ausführungen des Oberlandesgerichts belehren lassen werden, werde der Zulassungsgrund der Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in einer Weise ausgelegt und angewendet, die jede Vorhersehbarkeit zunichtemache und die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde weitgehend leerlaufen lasse.

Der Senat konnte es deshalb nicht allein mit einem Hinweis auf seine entgegenstehende Rechtsprechung bewenden lassen.“

„Sehr wahrscheinlich“ Fahrer ist also zu wenig. Ich denke, dass ist zutreffend 🙂 .