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StPO II: Für Schuld-/Strafausspruch nur Strengbeweis, oder: Dienstliche Erklärungen reichen nicht

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Als zweite Entscheidung dann der BGH, Beschl. v. 20.08.2024 – 1 StR 116/24 -, m.E. auch eine Entscheidung, bei der der 1. Strafsenat während der Beratung wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags  verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensbeanstandung, mit der der Angeklagte eine Verletzung des § 261 StPO geltend macht, Erfolg:

„1. Nach den Feststellungen (UA S. 23) und dem referierten Protokoll der Hauptverhandlung (SA Bd. III Bl. 476) hat die Strafkammer die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung „im Rahmen einer dienstlichen Erklärung“ zu Angaben des – sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufenden – Zeugen S. „gehört“, die dieser als Angeklagter in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren mittels Verteidigererklärung gemacht hatte. Das Strafverfahren gegen den Zeugen S. war (nicht rechtskräftig) abgeschlossen; an ihm hatte die Sitzungsvertreterin gleichfalls als Vertreterin der Staatsanwaltschaft mitgewirkt. Nach der genannten Erklärung habe der Zeuge S. mitgeteilt, dass er am Tattag vor allem deshalb mit einer scharfen Schusswaffe unterwegs gewesen sei, weil er am Vortag „von einer Person, von der er wisse, dass diese bewaffnet sei, nicht unerheblich verletzt worden sei“ (UA S. 23). Unter anderem diese Angabe hat die Strafkammer unter Ziffer 6. der Urteilsgründe „Täterschaft des Angeklagten“ im Rahmen der abschließenden „Gesamtwürdigung“ herangezogen zur Begründung ihrer Überzeugung, der Angeklagte habe am Tattag zwei Mal mit scharfer Munition in Richtung der Gruppe um den Zeugen S. geschossen (UA S. 47). Nach dem gleichfalls durch das Verhandlungsprotokoll bewiesenen Revisionsvorbringen ist im Verlauf der Hauptverhandlung über den Inhalt der Erklärung des Zeugen S.  nicht mit Mitteln des Strengbeweises Beweis erhoben worden.

2. Die Verwertung der dienstlichen Erklärung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft verstößt gegen § 261 StPO, weil diese als Beweismittel für die Schuldfrage des Angeklagten nicht in zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist.

a) Feststellungen, die für den Schuld- oder Strafausspruch (möglicherweise) von Bedeutung sein können, können allein nach den Regeln des Strengbeweises getroffen werden. Dienstliche Erklärungen des Richters über seine Erkenntnisse aus anderen Verfahren scheiden im Bereich des Strengbeweises als zulässige Beweismittel aus (vgl. BGH, Urteile vom 22. März 2002 – 4 StR 485/01, BGHSt 47, 270, 272 ff., 274 und vom 9. Dezember 1999 – 5 StR 312/99, BGHSt 45, 354, 356 ff.; Beschlüsse vom 25. April 2012 – 4 StR 30/12 Rn. 6-8 und vom 22. Februar 2012 – 1 StR 349/11 Rn. 36; ferner Urteil vom 16. Dezember 2021 – 3 StR 302/21 Rn. 28-30; jeweils mwN). Für entsprechende dienstliche Erklärungen des Staatsanwalts gilt nichts anderes.

b) Die Angaben über die frühere Einlassung des Zeugen S.  betreffen unmittelbar die Schuldfrage. Sie spiegeln das Spannungsverhältnis des Zeugen zum Angeklagten wider und belegen die Reaktion des Zeugen auf die von ihm angenommene Gefährlichkeit des Angeklagten. Schon für sich genommen kam ihnen damit für die Frage der Täterschaft und Bewaffnung des Angeklagten Bedeutung zu. Erst recht galt dies, wie vom Landgericht erkannt (UA S. 47), mit Blick auf die Motivlage des Angeklagten. Denn nachdem der Zeuge S.         am Vortag auf die Verletzung durch den Angeklagten mit der Ankündigung reagiert hatte, er (der Angeklagte) werde „sterben“ (UA S. 17), hatte der Angeklagte in besonderem Maße Motiv und Anlass, auf die mit scharfer Munition gegen die eigene Person gerichteten Schüsse aus der Gruppe des Zeugen S. in gleichem Maße zu erwidern. Die dienstliche Äußerung beschränkte sich mithin nicht darauf, den Verfahrensbeteiligten Umstände bekanntzugeben, die für den Fortgang des Verfahrens von Bedeutung waren und als solche in zulässiger Weise mit Mitteln des Freibeweises zum Gegenstand der Hauptverhandlung hätten gemacht werden können (vgl. BGH, Urteile vom 22. März 2002 – 4 StR 485/01, BGHSt 47, 270, 272 ff.; vom 9. Dezember 1999 – 5 StR 312/99, BGHSt 45, 354, 356 ff. und vom 28. Januar 1998 – 3 StR 575/96, BGHSt 44, 4, 9 ff.).

c) Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs mitsamt den Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Überzeugung des Landgerichts von der Täterschaft des Angeklagten auf dem Verfahrensfehler beruht. Denn nach den Urteilsgründen wird die Beweiswürdigung gegen den Angeklagten – wenn auch nur ergänzend – auch auf die Erklärung des Zeugen S. in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren gestützt.“

Ich hoffe dann aber doch, dass man in Stuttgart schon mal etwas vom Unmittelbarkeitsgrundsatz gehört hat. Sonst gerne <<Werbemodus an >>  bei Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung nachlesen; bestellen kann man hier <<Werbemodus aus>>.

KCanG II: Besitz von Kleinmengen und § 51 BZRG?, oder: Amnestie auch für Besitz von Cannabis in einer JVA?

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen aus der Instanz, nun ja fast 🙂 .

Die erste Entscheidung stammt vom BayObLG. Das hat sich im BayObLG, Beschl. v. 17.07.2024 – 204 StRR 215/24 – noch einmal mit verfahrensrechtlichen Fragen befasst und mit dem „richtigen“ Strafausspruch. Ich stelle hier, da die Begründung des BayObLG – wie immer – recht umfangreich ist, im Wesentlichen nur die Leitsätze ein, die lauten:

    1. Der Schuldspruch eines hinsichtlich Betäubungsmittelstraftaten rechtskräftigen Urteils muss im Revisionsverfahren an die Vorschriften des seit 1.4.2024 geltenden KCanG angepasst werden (§ 2 Abs. 3 StGB, § 354a StPO).
    2. Bei der Beurteilung, welches das mildere von zwei Gesetzen ist, ist zu prüfen, welches anhand des konkreten Falls nach einem Gesamtvergleich des früher und des derzeit geltenden Strafrechts das dem Angeklagten günstigere Ergebnis zulässt, wobei es in erster Linie auf die konkret in Frage kommenden Hauptstrafen ankommt.
    3. Beim Strafausspruch ist zu beachten, dass der Gesetzgeber durch die Schaffung eines eigenen, grundsätzlich milderen Strafrahmenregimes in Bezug auf den Umgang mit Cannabis im Vergleich zu den dem Betäubungsmittelgesetz unterstellten Suchtstoffen deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass Taten, wenn sich diese auf Cannabis beziehen, mit einem geringeren Unwerturteil einhergehen.
    4. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Tatrichter auch in einem Fall, in dem sich die Tat nur teilweise auf Cannabis bezieht, trotz des tateinheitlich hinzutretenden Schuldspruchs wegen eines Vergehens gegen das Konsumcannabisgesetz und der Anwendung desselben Strafrahmens zu einer milderen Strafe gelangt.
    5. Vorstrafen, die den Besitz und Erwerb von Kleinmengen von Cannabis betreffen, der zwischenzeitlich straffrei gestellt ist, unterliegen derzeit nicht dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, da sie erst ab dem 1.1.2025 tilgungsfähig sein werden; ihnen kommt nach wie vor eine Warnfunktion zu.

Zwei Anmerkungen: Wer die Entscheidung liest, wird feststellen, dass das BayObLG auf die auch von ihm angesprochene Frage der „nicht geringen Menge“ kein Wort der eigenen Begründung mehr verwendet, sondern nur feststellt: Die liegt bei 7,5 G und dazu dann nur einige BGH-Entscheidungen anführt. Der „Zug ist als abgefahren“ bzw. davon wird kein Gericht mehr abweichen.

Und: Besonders hinweisen möchte ich auf die o.a. Nr. 5 der Leitsätze. Das muss man derzeit noch im Auge haben.

Und dann als zweite Entscheidung der LG Stralsund, Beschl. v. 29.05.2024 – 23 StVK 114/24 – zur Anwendung der sog. Amnestieregelung auf eine Verurteilung wegen Besitzes von Cannabis in einer JVA während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe. Der Angeklagte war am 23.05.2023 durch das AG wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt word. Hintergrund des Urteils war, dass sich am 15.12.2022, nachdem eine Haftraumkontrolle in der JVA. durchgeführt wurde, in der Kaffeedose des Angeklagten 21,7 g Cannabis in einer Plastikfolie aufgefunden wurden. Der Angeklagte hatte die Drogen in der Haftanstalt erworben. Die Vollstreckung der Strafen ist nach Verbüßung von 2/3 bzw. mehr als 2/3 ausgesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft hat nun aufgrund der Amnestieregelung des Artikel 313 EGStGB zu Cannabisaltfällen den Antrag auf Einstellung der Vollstreckung gestellt.

Die StVK hat abgelehnt: Nach ihrer Auffassung der Kammer ist der Besitz von Cannabis in einer Justizvollzugsanstalt während des Vollzuges einer Freiheitsstrafe nicht von der Amnestieregelung umfasst, so dass ein Erlass dieser Strafe nicht geboten ist. Einzelheiten bitte im verlinkten Volltext nachlesen.

U-Haft II: Wenn sich im Strafausspruch die Straferwartung realisiert, oder. Dennoch Wiederinvollzugsetzung?

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Bei der zweiten vorgestellten Entscheidung handelt es sich um den schon etwas älteren OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.03.2019 – 2 Ws 124/19 – zur erneuten Invollzugsetzung eines Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, den mir der Kollege Loyens aus Nürnberg vor einiger Zeit geschickt hat.

Das LG hatte mit Beschluss vom 21.06.2018 die Untersuchungshaft angeordnet und mit Beschluss vom 14.9.2018 diesen Haftbefehl unter den Auflagen außer Vollzug gesetzt, dass der Angeklagte unverzüglich in pp. unverzüglich Wohnung nimmt, er dem Landgericht unverzüglich jeden Wohnungswechsel mitteilt und sich jeweils mittwochs bei der Polizeiinspektion Nürnberg-West meldet. Ihm wurde aufgegeben, gerichtlichen, polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vorladungen Folge zu leisten und seinen Reisepass beim Landgericht zu hinterlegen.

Der Kollege war dann auch im (Hauptverhandlungs)Fortsetzungstermin am 08.02.2019 erschienen. In dieser Sitzung wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stellte in Ihrem Plädoyer den Antrag, den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten zu verurteilen, von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB jedoch abzusehen. Der Verteidiger beantragte Freispruch und stellte den Antrag, den Haftbefehl aufzuheben und den Angeklagten zu entschädigen.

Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen und Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung auf 14.2.2019 bestimmt. Ausweislich des Sitzungsprotokolls war der Angeklagte zu diesem Termin mit seinem Verteidiger erschienen. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Des Weiteren hat das Landgericht am 14.2.2019 den Haftbefehl der Kammer vom 21.6.2018 nach Maßgabe des Urteils vom 14.2.2019 wieder in Vollzug gesetzt und sämtliche Beschränkungen bezüglich der Vollstreckung der Untersuchungshaft gemäß § 119 StPO aufgehoben, weil wegen der verhängten erheblichen Freiheitsstrafe ein „übersteigerter Fluchtanreiz“ bestehe und der Angeklagte einen „familiären Bezug zum Ausland“ habe. Im Übrigen werde zur Fluchtgefahr auf die Haftbefehlsbegründung vom 21.6.2018 Bezug genommen.

Dagegen dann die Beschwerde des Angeklagten, die  in der Sache Erfolg beim OLG Erfolg hatte.

Das OLG legt seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BVerfG im BVerfG, Beschl. v. 01.02.2006 – BvR 2056/05 zugrunde. Und dann:

„3. Neu hervorgetretene Umstände können unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung (vgl. auch BVerfG NStZ 2007, 379 = StV 2008, 25) nach Erlass des Haftverschonungsbeschlusses vom 14.9.2018 bis zur Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls mit Beschluss vom 14.2.2019 jedoch nicht angenommen werden. Es sind keine nachträglich eingetretenen oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordenen Umstände ersichtlich, die die Begründung des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern würden, dass nach Sachlage keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären.

Der dem Angeklagten im Haftbefehl vom 21.6.2018 zur Last gelegte Sachverhalt entspricht dem, der sowohl von der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift vom 27.4.2018 (ab Bl. 697 d.A. dort unter „B) Gemeinsame Straftaten von … und …“ = Bl. 707 bis 705 d.A.) und vom Landgericht im Urteil vom 14.2.2019 zu Grunde gelegt wurde. Allein auf der Grundlage des Haftbefehle und der Anklage, die noch von unerlaubtem „Handeltreiben“ mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen (in einem Fall mit unerlaubten Erwerb, im weiteren Fall mit unerlaubtem Besitz) ausgehen, bestand bei einem Strafrahmen von jeweils einem Jahr bis zu 15 Jahren unter Berücksichtigung der sieben Vorstrafen des Angeklagten, davon zwei wegen einschlägiger Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (vgl. Anklage vom 27.4.2018 zum wesentlichen. Ergebnis der Ermittlungen Bl. 709/710 d.A.) eine realistische Straferwartung von mehreren Jahren Freiheitsstrafe.

Auch wenn die Verteidigung für den Angeklagten in der Sitzung vom 8.2.2019 auf Freispruch plädiert hat, bestand für den Angeklagten spätestens seit dem in dieser Sitzung durch die Staatsanwaltschaft gestellten Verurteilungsantrags eine konkrete Strafdrohung von einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten. Selbst dieser – im Vergleich zur späteren Verurteilung höhere Strafantrag – hat den Angeklagten nicht zu einer Flucht bewegt, sonst hätte er sich der am 14.2.2019 fortgesetzten Hauptverhandlung, in der die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten erfolgte, nicht gestellt. Gelegenheit zu einer Flucht hätte in der Zwischenzeit jedenfalls bestanden. Aufgrund dieses Umstande liegt es näher, dass sich der Angeklagte nach dem Hauptverhandlungstermin vom 8.2.2019 bis zum Fortsetzungstermin am 14.2.2019 trotz des gestellten Antrags auf Freispruch der Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs des Strafverfahrens durchaus bewusst war und er dennoch den Auflagen des Haftverschonungsbeschlusses nachkam.

Die vom Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) als „sehr hoch“ angesetzte Schwelle für eine Widerrufseentscheidung wird vorliegend nicht erreicht.“