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OWI II: Geschwindigkeitsmessung mit Poliscan, oder: „zertifiziert“ auch bei Abweichung von der PTB-A 12.05

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Urheber KarleHorn

Mit dem zweiten Posting bleibe ich bei den Geschwindigkeitsmessungen und stelle dazu den  OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13.01.2022 – 1 OWi 2 SsBs 109/21 – vor.

Das AG hat den Betroffenen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die ohne Erfolg blieb. Das OLG hat noch einmal Messsystem PoliScan FM1 Stellung genommen:

„1. Die Rüge, das Amtsgericht habe seiner Entscheidung zu Unrecht die Grundsätze eines standardisierten Messverfahrens zugrunde gelegt, dringt nicht durch.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. nur Beschluss vom 11.02.2020, 1 OWi 2 SsBs 122/19, juris Rn 8), dass Messungen mit dem hier verwendeten Gerätetyp allen Kriterien des standardisierten Messverfahrens entsprechen (hierzu: BGH, Beschluss vom 30.10.1997 – 4 StR 24/97, BGHSt 43, 277). Die von Seiten der Verteidigung gestützt auf ein in einem anderen Bußgeldverfahren eingeholten Privatsachverständigengutachten hiergegen vorgebrachten Zweifel verfangen nicht. Diesen liegt eine – nur vermeintlich unauflösbare – Diskrepanz zwischen der Baumusterprüfbescheinigung betreffend diesen Gerätetyp und den von der Physikalisch-Technischen-Bundesanstalt (PTB) veröffentlichten „Anforderungen Laserscanner-Geschwindigkeitsmessgeräte (stationär, semistationär, transportabel)“ (PTB-A 12.05, Stand April 2019) zugrunde. Zwar trifft es zu, dass in der PTB-A 12.05 unter 1.9.1 (Anzeige oder Ausdruck des Ergebnisses) festgehalten ist: „Der Endwert des Geschwindigkeitsbereichs muss zwischen 200 km/h und 300 km/h liegen“ wohingegen in der Baumusterprüfbescheinigung unter Nr. 2.1 („Mess- und Anzeigebereich“) ein Geschwindigkeitsmessbereich von 10 km/h bis 320 km/h genannt wird. Dass der von der Baumusterprüfbescheinigung zugelassene Messhöchstwert von der in der PTB-A 12.05 angegebenen Obergrenze abweicht, schließt eine Konformität des Geräts mit den grundlegenden Anforderungen des Mess- und Eichrechts aber nicht aus. Die PTB-A 12.05 enthalten (in ihrem hier allein interessierenden ersten Teil) allgemeine Regeln und technische Spezifikationen für Laserscanner-Geschwindigkeitsmessgeräte, um die wesentlichen Anforderungen an die betreffenden Messgeräte nach § 6 MessEG i.V.m. § 7 MessEV näher zu konkretisieren (vgl. S. 2, PTB-A 12.05). Sie sollen Interessierten lediglich eine Einschätzung darüber ermöglichen, ob ein Gerät in diesem Sinne konform ist oder nicht. Maßstab für die Konformitätsbewertung im Rahmen der Bauartprüfung sind demgegenüber aber nicht die Vorgaben der PTB-A 12.05, sondern die grundlegenden Bestimmungen des Mess- und Eichrechts. Ein Gerät, bei dem sich im Rahmen der Bauartprüfung ergeben hat, dass es den Anforderungen des Mess- und Eichrechts entspricht, kann daher auch dann zertifiziert werden, wenn es in einzelnen Punkten von den Vorgaben der PTB-A 12.05 abweicht.“

OWi II: Leivtec kein standardisiertes Messverfahren, oder: Toleranzwert bei der Messung durch Nachfahren

Das zweite Posting des Tages enthält zwei OLG-Entscheidungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung, und zwar zu den Anforderungen an die Urteile in diesen Fällen bzw. zur Berücksichtigung von Toleranzwerten beim Nachfahren.

Zunächst hier der OLG Koblenz, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 OWi 32 SsRs 108/21 –,  zu den Darlegungsanforderungen bei Verurteilungen wegen Geschwindigkeitsverstößen, die mit dem Messgerät Leivtec XV3 ermittelt wurden. Das OLG geht – wie die h.M. in der Rechtsprechung der OLG – anders nur das OLG Schleswig – davon aus, dass derzeit bei dem Messverfahren die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens nicht mehr gegeben sind.

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den OLG Köln, Beschl. v. 03.12.2021 – III-1 RBs 254/21 -, der folgenden (gerichtlichen Leitsatz hat:

Bei der Geschwindigkeitsermittlung durch Nachfahren in einem Fahrzeug mit nicht justiertem Tachometer ist regelmäßig ein erster Toleranzabzug von der abgelesenen Geschwindigkeit von 10% zuzüglich 4 km/h für mögliche Eigenfehler des Tachometers sowie ein weiterer Toleranzabzug zwischen 6 und 12% der abgelesenen Geschwindigkeit erforderlich, um weiteren Fehlerquellen, wie Ablesefehlern sowie solchen Fehlern, die aus Abstandsveränderungen und/oder der Beschaffenheit des Fahrzeugs resultierten zu begegnen (teilweise Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung).

OWi I: Kleine Rechtsprechungsübersicht zu Messungen, oder: Verwertung, Überprüfbarkeit, Rechtsbeschwerde

So, ich knüpfe dann an den gestrigen „Verkehrsrechtstag“ an und stelle heute OWi-Entscheidungen vor.

Im ersten Posting stelle ich einige Entscheidungen vor, die mit Messungen zu tun haben. Ich beschränke mich insoweit auf die jeweiligen Leitsätze, und zwar:

Widerspricht der Verteidiger des Betroffenen der Verwertung eines Messergebnisses wegen nicht ausreichend erfolgter Speicherung von Messdaten, muss dieser Widerspruch beschieden werden. Anderenfalls liegt eine Versagung rechtlichen Gehörs vor.

Die Rüge der Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO) durch Nichtüberlassung von Messunterlagen ist nur dann ausreichend begründet, wenn nicht nur vorgetragen wird, dass die Unterlagen bereits vorgerichtlich angefordert wurden sowie die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragt wurde, sondern auch, was sich aus den angeforderten Unterlagen, wenn sie übersandt worden wären, ergeben hätte oder, wenn dieser Vortrag mangels Kenntnis nicht möglich ist, was der Betroffene noch nach Erlass des Urteils versucht hat, um an die Unterlagen zu gelangen und somit diesen Vortrag zu vervollständigen.

Der Senat hält daran fest, dass die Verwertbarkeit der Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens nicht von dessen nachträglicher Überprüfbarkeit anhand von aufzuzeichnenden, zu speichernden und an den Betroffenen auf Verlangen herauszugebenden (Roh-)Messdaten abhängig ist, und durch die fehlende Reproduzierbarkeit der zum einzelnen Messwert führenden Berechnung weder der Anspruch auf ein faires Verfahren noch der auf eine effektive Verteidigung berührt wird.

OWi I: Anspruch auf Einsicht in Wartungsunterlagen, oder: Kleiner Lichtblick vom VerfGH Rheinland-Pfalz

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Und dann am vorletzten oder bei dem ein oder anderen sicher auch letzten Arbeitstag vor Weihnachten noch ein OWi-Tag.

Den beginne ich mit dem VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.12.2021 – VGH B 46/21, über den ja auch schon der Kollege Gratz in seinem Blog berichtet hat. Es geht noch einmal – wie lange eigentlich schon und wie lange noch? – um die Herausgabe von Unterlagen zu einem Messgerät. Der Kollege hatte das bei der Verwaltungsbehörde beantragt, aber nicht alle Unterlagen bekommen. Das war dann im Verfahren geltend gemacht worden. Ohne Erfolg. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde beim VerfGH Rheinland-Pfalz.

Die Entscheidung ist – wie häufig die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen – ein wenig zu lang, um sie hier vollständig einzustellen. Ich begnüge mich also mit (meinem) Leitsatz:

Bei einer Verteidigung gegen einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung sind dem Betroffenen u. a. die Unterlagen zu Wartungen oder Reparaturen an dem verwendeten Messgerät, die zum Teil auch als „Lebensakte“ bezeichnet werden, vorzulegen.

und folgender Passage:

„a) Diese Voraussetzungen erfüllt das Einsichtsbegehren hinsichtlich der Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen. Der Beschwerdeführer hat durch seine Bevollmächtigte bereits mit dem an die Bußgeldstelle gerichteten Antrag vom 3. April 2020 umfangreich vortragen lassen, warum aus seiner Sicht die Einsichtnahme in die Wartungs- und Reparaturunterlagen des konkreten Messgerätes erforderlich sei. So führe zum einen nicht jeder Eingriff an dem Messgerät zum Erlöschen der Eichung. Zum anderen könnten sich auch aus nach der streitgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung erfolgten Reparaturen Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Messgerätes zum Tatzeitpunkt ergeben.

b) Die Frage, welche Information zur Aufklärung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgerätes beitragen kann, lässt sich nicht abstrakt-generell beantworten, sondern ist abhängig von dem konkreten Dokument und dem Umfang der begehrten Einsichtnahme. Für die in Rede stehenden Wartungs- und Reparaturunterlagen stellt in zeitlicher Hinsicht der Eichzeitraum die maßgebliche Grenze für das berechtigte Informationsbegehren des Betroffenen dar (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27. April 2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20 -, juris Rn. 29; Krenberger, NZV 2021, 209 [210]). Reparaturen oder Wartungen vor der letzten Eichung weisen keinen Zusammenhang mit der konkreten Messung auf; sie sind durch die Eichung gleichsam überholt. Für diese Zeiten besteht daher noch nicht einmal eine theoretische Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Gerätes am Tage der streitgegenständlichen Messung zu erhalten. Etwas anderes gilt für den Zeitraum nach der letzten Eichung. Dabei kann dahinstehen, ob messrelevante Eingriffe in das Geschwindigkeitsmessgerät regelmäßig dessen Neueichung zur Folge haben und die im Messprotokoll vermerkte Unversehrtheit des Eichsiegels daher ein aussagekräftiges Indiz gegen zwischen der Eichung und der Messung vorgenommene Eingriffe darstellt (vgl. hierzu OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20 -, juris Rn. 64). Jedenfalls für die Zeit nach der konkreten Geschwindigkeitsmessung liegen vergleichbare Informationen nicht vor, weil das Messprotokoll keine Aussagen über in der Zukunft notwendig werdende Wartungen und Reparaturen treffen kann. Nicht ausreichend – weil nicht den gesamten maßgeblichen Zeitraum abdeckend – ist insoweit ein möglicher Hinweis des Messbeamten auf dem Messprotokoll, wonach seit Beginn der Eichfrist keine Reparaturen und Wartungen an dem Messgerät durchgeführt worden seien. Liegen demgegenüber keine Reparatur- und Wartungsunterlagen vor, weil nach der letzten Eichung und nach der streitgegenständlichen Messung keine Wartungen oder Reparaturen an dem Messgerät durchgeführt worden sind, kann von der Bußgeldbehörde schon faktisch lediglich eine Erklärung hierüber gefordert werden (vgl. auch Ropertz, NZV 2021, 500 [502]).

c) Auch wenn die Erwägungen des Beschwerdeführers in seinem Antrag auf Einsichtnahme in die Reparatur- und Wartungsunterlagen nur eine bloß theoretische Aufklärungschance zu begründen vermögen, ist ihre Eignung zur Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigung nach den vorstehenden Erwägungen nicht schlechthin ausgeschlossen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris Rn. 57). Damit ist die von Verfassungs wegen geforderte Relevanz der seit der Eichung vorliegenden Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für die Verteidigung zu bejahen. Für eine restriktivere Handhabung des Einsichtsrechts in vorhandene Unterlagen – etwa die Forderung, die Relevanz der begehrten Information müsse „auf der Hand liegen“ (so OLG Zweibrücken, Beschluss vom 4. Mai 2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 -, juris Rn. 12) – ist mit Blick auf Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV kein Raum. Eine solche Einschränkung würde den unterschiedlichen Anforderungen nicht gerecht, die die Verfassung an die Amtsermittlung der Gerichte einerseits und den Informationszugang des Betroffen andererseits stellt (vgl. auch Staub/Lerch/Krumm, DAR 2021, 125). Während eine bloß theoretisch bestehende Aufklärungschance – zumal in Massenverfahren – keine Aufklärungspflicht des Gerichts begründet, erlaubt sie es dem Betroffenen, bei der Bußgeldbehörde (oder für diese tätige Stellen) vorhandene Informationen für eigene Überprüfungen und die Suche nach Entlastungsmomenten zu erhalten, sofern ein ordnungsgemäßer Einsichtsantrag gestellt wurde und keine gegenläufigen verfassungsrechtlichen Güter (etwa Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, schützenswerte Interessen Dritter) entgegenstehen (vgl. auch Sandherr, DAR 2021, 69 [70 f.]). Liegen die zulässigerweise begehrten Informationen bei der Bußgeldstelle (oder bei der ihr zuarbeitenden Polizeidienststelle) vor, hat sie dem Betroffenen auf Antrag Einsicht hierein zu gewähren. Daher überspannt es die Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen, ihn in dieser Konstellation darauf zu verweisen, sich zunächst um eine Herausgabe der Unterlagen bei dem Gerätehersteller oder der mit der konkreten Messung betrauten Polizeidienststelle zu bemühen (vgl. auch Krenberger, NZV 2021, 209 [210]).“

Ein kleiner Lichtblick in dem „Unterlagenkampf“

OWi I: Nochmals Leivtec XV 3 nicht standardisiert, oder: Einstellung und Wiederaufnahme

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Heute am letzten Novembertag kommen dann OWi-Entscheidungen.

Zunächst drei Entscheidungen zu Leivtec XV3, und zwar:

Da der Abschlussbericht der PTB in der Fassung vom 09.062021 nicht eindeutig erkennen lässt, unter welchen Messbedingungen sich Messwertabweichungen zu Ungunsten bzw. ausschließlich zu Gunsten Betroffener auswirken können, besteht nach einer im Vordringen befindlichen Ansicht in der obergerichtlichen Rechtsprechung bei dem Messgerät Leivtec XV § keine hinreichende Gewähr mehr, für die Annahme eines standardisierten Messverfahrens und für die Zuverlässigkeit der erzielten Messerergebnisse. Konsequenz des Nichtvorliegens eines standardisierten Messverfahrens ist, dass sich das Amtsgericht im Einzelfall mittels sachverständiger Hilfe von der Richtigkeit der Messung überzeugen muss. Daher ist jedenfalls in den Fällen, in denen das Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Verurteilung führt, gegen die lediglich ein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 OWiG gegeben ist, schon aus prozessökonomischen Gründen die Einstellung des Verfahrens sachgerecht.

Spätestens mit der Stellungnahme der PTB vom 9.6.2021 ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Messverfahren Leivtec XV 3 nicht mehr um ein standardisiertes Messverfahren im Sinn der Rechtsprechung des BGH handelt und somit neue Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO, § 85 OWiG vorliegen, die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen.