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Rechtsprechung des BVerfG zur Sicherungsverwahrung gilt auch für sog. Ur-Alt-Fälle

Das OLG Celle, hat in seinem Beschl. v. 30.05.2011 -2 Ws 423/10 die Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung (Urt. v. 4.05.2011, 2 BvR 2365/09 u.a.) auch auf „Uralt-Fälle“ übertragen, in denen die Sicherungsverwahrung vor Inkrafttreten des 2. StrRG vom 04.07.1969 am 01.10.1973 verhängt wurde, also zu einer Zeit, als die Sicherungsverwahrung noch unbefristet galt. Dazu aus dem umfassend begründeten Beschluss.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundgesetzverstoß in seiner aktuellen Entscheidung zur Sicherungsverwahrung jedoch auch auf Art. 20 Abs. 3 GG gestützt und festgestellt, dass der mit der rückwirkend geltenden Vorschrift verbundene Eingriff in das Vertrauen des betroffenen Personenkreises auf ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von 10 Jahren angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht dieses Personenkreises verfassungsrechtlich nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig sei (RN 131, 132). Da das Abstandsgebot nicht gewahrt sei, nähere sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen einem absoluten Vertrauensschutz (RN 139). Im Ergebnis trete der legitime gesetzgeberische Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen in ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von 10 Jahren zurück (RN 156).

Auch der Untergebrachte P. kann sich auf den Vertrauensschutzgrundsatz berufen. Nach Inkrafttreten des 2. StrRG v. 04.07.1969 am 01.10.1973 galt für ihn gemäß § 2 Abs. 6 Satz 2 StGB i.d.F. des 2. StrRG die 10-jährige Befristung der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Zu dem Zeitpunkt, als die Sicherungsverwahrung gegen ihn erstmals vollstreckt wurde (28.03.1976), galt also bereits die Befristung. Zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung 1998 wurde gegen den Verurteilten gerade eine weitere Freiheitsstrafe vollstreckt, 10 Jahre der Maßregel waren am 08.02.2001 verbüßt. Von 1973 bis 1998 durfte der Verurteilte mithin davon ausgehen, dass die gegen ihn ausgesprochene Sicherungsverwahrung nach 10 Jahren beendet ist. Diese enorm lange Zeitspanne von 25 Jahren Maßregelvollzug, Strafvollzug und Bewährungszeit rechtfertigt es, die Vertrauensschutzgesichtpunkte, die das Bundesverfassungsgericht für Anlasstaten aus der Zeit vor 1998 herangezogen hat, auch auf die „Uralt-Fälle“ zu übertragen.“

Pflichtverteidiger die 3: Zeitnahe Beiordnung erforderlich – neues zur rückwirkenden Beiordnung

Das LG Dresden hat sich jetzt in seinem Beschl. v. 06.01.2011 – 3 Qs 174/10 dem OLG Stuttgart (vgl. hier) angeschlossen und geht ebenfalls davon aus, dass der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz des fairen Verfahrens (Artikel 20 Absatz 3 GG) es gebietet, dass über einen Antrag des Verteidigers auf Beiordnung zeitnah entschie­den wird. Geschieht das nicht, führt das zur rückwirkenden Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger. Es bewegt sich also was an der „Front“.

Klartext – Munition im Kampf um die nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung

Im Recht der notwendigen Verteidigung ist die Frage der nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers einer der Hauptstreitpunkte. Häufig/nicht selten werden Anträge rechtzeitig gestellt und dann nicht oder so knapp beschieden, dass ein Rechtsmittel vor Abschluss des Verfahrens nicht mehr möglich ist. Der Bestellung nach Rechtskraft wird dann entgegengehalten: Geht nicht mehr.

In dem Streit bietet jetzt die Entscheidung/Verfügung des OLG Stuttgart v. 28. 6. 2010 – 4 Ss 313/10, die mir der Verteidiger in dem Verfahren hat zukommen lassen, eine mehr als gute Argumentationshilfe. Das OLG sagt:

„Stellt ein/e Rechtsanwalt/in namens eines/r Angeklagten oder Betroffenen einen Antrag auf Bestellung zum/r Pflichtverteidiger/in, so entsteht daraus ein Anspruch auf eine zeitnahe Bescheidung. Das Gericht bzw. der/die Vorsitzende kann dem Antrag stattgeben oder ihn ablehnen. In jedem Fall muss ohne Verzögerung eine Entscheidung getroffen werden. Unterlässt der/die Vorsitzende eine solche Entscheidung und entscheidet dann dennoch den Rechtszug abschließend in der Hauptsache, so kann dies einen Verstoß gegen den Grundsatz des „fair trial“ (Art. 20 Absatz 3 GG, Art. 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK) darstellen.“

Sehr deutlich auch der Hinweis:

„Der Senat ist der Auffassung, dass dadurch ein Verstoß gegen den Grundsatz des „fair-trial“ entstehen kann, der nicht bedenkenlos hingenommen werden kann. Es könnte in manchen Fällen sogar der Verdacht eines willkürlichen Handelns bzw. „Nichthandelns“ auftauchen.“

Man könnte auch sagen: Manipulation.

Es bewegt sich also endlich was. Und das OLG gibt die Richtung vor: Nämlich in Richtung der nachträglichen Bestellung

Neues aus Hamm zur Vorlagepflicht an den BGH bei Sicherungsverwahrung

In seinem Beschl. v. 22.07.2010 – III-4 Ws 180/10 hat das OLG Hamm seine Rechtsauffassung aus seiner grundlegenden Entscheidung in III-4 Ws 157/10 bestätigt. Danach ist die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009, die seit dem 10.05.2010 rechtskräftig ist, dahin auszulegen, dass der Wegfall der 10-Jahres-Frist in § 67 d Abs. 1 a.F. keine Rückwirkung haben darf, so dass auf Straftaten, die vor dem 31.01.1998 begangen wurden, die alte Norm Anwendung finden muss und die Sicherungsverwahrung ggf. für erledigt zu erklären ist. Insoweit also nichts Neues aus Hamm, aber:

Das OLG hat zugleich auch zur Vorlagepflicht an den BGH Stellung genommen und darauf hingewiesen:

„Der Senat ist auch nicht verpflichtet, die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Zum einen befindet sich die Änderung des § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG noch im Gesetz­gebungsverfahren. Eine Verkündung ist bislang nicht erfolgt. Selbst wenn das Ge­setz in Kraft getreten wäre, bestünde eine Vorlagepflicht des Senats nicht. Zwar weicht der Senat mit seiner Entscheidung von Rechtsansichten der Oberlandesge­richte Celle, Stuttgart, Koblenz und Nürnberg ab. Jedoch wird die Rechtsauffassung des Senats gestützt von der Entscheidung des 4. Senats des Bundesgerichtshofs vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09). In einem solchen Fall besteht eine Vorlagepflicht des Senats nicht (vgl. KK-Hanich, 6. Aufl., 2008, § 121 GVG Rn. 26).“

Insoweit also doch etwas Neues aus Hamm. Interessant, dass der Senat damit schon mal vorab etwas zur Auslegung des neuen § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG, der heute in Kraft tritt, gesagt hat (vgl. dazu auch hier).

Sicherungsverwahrte bleiben drin (II) – gut so, meint Herr Busemann

Heute ist ja schon in mehreren Blogs über die Entscheidung des BVerfG zur Fortdauer der Sicherungsverwahrung für einen Sexualstraftäter berichtet worden (vgl. hier, hier und hier). Zu dieser Entscheidung (vgl. hier) meldet sich dann natürlich auch die Politik zu Wort. Vorneweg der JM Busemann aus Niedersachsen. In seiner PM heißt es:

„Das höchste deutsche Gericht gibt uns mit dieser Entscheidung einen wichtigen Hinweis für die gesetzliche Neuregelung der Sicherungsverwahrung“, hat der Niedersächsische Justizminister Bernd Busemann den am Dienstag (13.07.2010) vom Bundesverfassungsgericht veröffentlichten Beschluss vom 30. Juni 2010 begrüßt.

Dabei ging es um einen Antrag auf einstweilige Anordnung der Entlassung eines wegen Missbrauchs von Kindern und Vergewaltigung vorbestraften Sexualstraftäters aus der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung. Weil das Bundesverfassungsgericht erneut das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit höher bewertete als das Interesse des Sicherungsverwahrten an seiner persönlichen Freiheit, wurde der Antrag abgewiesen. Der als gefährlich eingestufte Sexualstraftäter bleibt in Verwahrung.

„Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung erneut nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichen Gewalttätern ist Verpflichtung des Staates. Deshalb ist es weder richtig noch nachzuvollziehen, warum ohne Not auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung verzichtet werden sollte“, sagte Busemann. Für die Rechtspolitik müsse es vielmehr darum gehen, bestehende Schutzlücken zu schließen. „Die Sicherheit der Bevölkerung muss den höchsten Stellenwert haben „, machte Busemann deutlich.“

In meinen Augen reiner Populismus. Ich sehe auch nicht ganz, wo man in den paar Zeilen die Hinweise für den Gesetzgeber sieht.

Und: Wie heißt es so schön in einem Kommentar zu meinem Posting:

„Vielleicht hat das BVerfG die Entscheidung des EGMR nicht verstanden: Sicherungsverwahrung ist als Strafe im Sinne der Konvention anzusehen, für die das Rückwirkungsverbot gilt. Eine Folgenabwägung oder Verhältnismäßigkeitserwägungen sind daher überhaupt nicht zulässig und schon vom Ansatz her falsch.“

Vielleicht hat Herr Busemann die Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 auch nicht verstanden. Würde mich nicht überraschen.