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Pflichti I: Verpasste Umsetzung der PKH-Richtlinie 2016/2019, oder: Wir wenden die RiLi an…..

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Der Tag heute bringt dann hier drei Entscheidungen zur Pflichtverteidigung. Und ich eröffne die Berichterstattung mit einem Beschluss des LG Chemnitz, den mir der Kollege J.Neuber aus Freiberg gestern geschickt hat.

Für mich ist der LG Chemnitz, Beschl. v. 30.07.2019 – 5 Qs 316/19 – die erste Entscheidung, die ich kenne, in der die Grundsätze der EU PKH-Richtlinie 2016/2019, die an sich bis zum 25.05.2019 in nationales Recht umzusetzen gewesen wäre, auf einen aktuellen Fall angewendet werden. Da ist die  Rechtsprechung schneller als die Politik.

Das LG führt aus:

„I.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz erhob gegen den Beschwerdeführer am 01.03.2019 Anklage vor dem Amtsgericht Freiberg wegen vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis. Mit Schriftsatz vom 17.04.2019 zeigte sich Rechtsanwalt pp. als Verteidiger des Angeklagten an. Ab dem 02.05.2019 befand sich der Angeklagte in anderer Sache in Haft in der JVA Dresden. Mit Beschluss vom 22.05.2019 wurde das Verfahren vor dem Strafrichter eröffnet und für den 20.06.2019 anberaumt. Mit Schriftsatz vom 19.06.2019 beantragte Rechtsanwalt pp. seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, für diesen Fall würde er sein Wahlmandat niederlegen. Es lägen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. In der Hauptverhandlung vom 20.06.2019 lehnte der Strafrichter die Pflichtverteidigerbestellung ab, da weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch § 140 Abs. Il StPO gegeben seien. Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte durch seinen Verteidiger am 20.07.2019 Beschwerde ein. Es lägen jedenfalls die Voraussetzungen des § 140 Abs. 11 StPO vor, da der Angeklagte in Haft sei und somit gemäß Art. 4 IV i,V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019 einen Rechtsanspruch auf Beiordnung habe. Das Amtsgericht Freiberg half der Beschwerde nicht ab. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Am 11.07.2019 erging ein – nicht rechtskräftiges – Urteil gegen den Angeklagten.

II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Wie der Verteidiger des Angeklagten in der Beschwerdebegründung einräumt, befand sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung seit ca. sieben Wochen in Strafhaft. Damit lagen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch nicht vor.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wäre aber vorliegend gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen. Der Anspruch des Angeklagten ergibt sich insoweit, wie der Verteidiger des Beschwerdeführers zutreffend ausführt, aus Art. 4 Abs. IV Satz 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019. Zwar wurde diese EU-Richtlinie bislang nicht in nationales deutsches Rechts umgesetzt. Die Frist zur Umsetzung ist jedoch zwischenzeitlich, am 05.05.2019, abgelaufen. Ein Entwurf vom 12.06.2019 sieht die Umsetzung der Richtlinie vor.

Damit sind Regelungen der Richtlinie bei der Ermessensentscheidung angemessen zu würdigen und haben in die Entscheidung mit einzufließen.

Daher war der Beschluss vom 20.06.2019 aufzuheben und dem Angeklagten rückwirkend für die erste Instanz nachträglich ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dies ist ausnahmsweise, in vorliegender Konstellation zulässig, obwohl die erste Instanz bereits durch – nicht rechtskräftiges – Urteil beendet wurde, da der Beschwerdeführer noch ein Interesse an der nachträglichen Beiordnung hat.

Auch nach der EU- Richtlinie kann für das weitere Verfahren die Beiordnung wieder aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen einer notwendigen Beiordnung, hier die Haft i.a.S. wieder wegfallen.“

Interessant nicht nur wegen der Anwendung der PKH-Richtlinie (vgl. dazu auch: Gedanken zur nicht erfolgten Umsetzung der PKH-Richtlinie 2016/1919), sondern auch wegen der rückwirkenden Bestellung. Das LG hat sich also nicht – was ja gern getan wird – darauf zurückgezogen, dass eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwaltes nicht (mehr) in Betracht komme.

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: „Angedachte“ Einstellung ist ohne Bedeutung

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Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Stendal, Beschl. v. 01.10.2018 – 501 Qs (394 Js 6425/18) 62/18 , ist „schöner“ als der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.12.2018 – 2 Ws 698/18 (vgl. dazu Pflichti I: Auswechselung des Pflichtverteidigers, oder: Vertrauensverhältnis ist nicht erforderlich). Er ist schon etwas älter, der Kollege Funk aus Braunschweig hat ihn aber erst vor kurzem übersandt.

Das AG hatte die Bestellung des Kollegen abgelehnt. Anders das LG. Das ordnet wegen „Schwere der Tat“ bei:

„Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Stendal vom 28 Mai 2018 erließ das Amtsgericht Gardelegen gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen eines am 07. Februar 2017 begangenen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmittel. Als Rechtsfolge war eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,00 € vorgesehen.

Unter dem 06. April 2018 hatte die Staatsanwaltschaft Stendal gegen den Angeklagten unter anderem wegen schwerer räuberischer Erpressung mit Waffen Anklage zum Landgericht Stendal erhoben. Die Hauptverhandlung in dieser Sache dauert an.

Gegen den ihm am 03. Juli 2018 zugestellten Strafbefehl hat der Angeklagte mit Schreiben seines Verteidigers vom 06. Juli 2018, beim Amtsgericht taggleich eingegangen, Einspruch erhoben und die Bestellung von Rechtsanwalt pp. als notwendigen Verteidiger beantragt. Hierbei wies er auf das oben dargestellte Verfahren vor dem Landgericht Stendal hin.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht den Beiordnungsantrag zurückgewiesen, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Mit Verfügung vom 30. Juli 2018 hat das Amtsgericht den Angeklagten zu einer Einstellung nach § 154 StPO angehört. Eine Entscheidung hierüber ist nach Aktenlage bisher nicht ergangen.

Gegen den Beschluss vom 25. Juli 2018 hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 09 August 2018 Beschwerde erhoben und erneut auf das gesamtstrafenfähige Verfahren 501 KLs 6/18 vor dem Landgericht Stendal verwiesen.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache der Kammer zur Entscheidung vorgelegt

Die nach § 304 StPO statthafte und ansonsten zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für die Bestellung als Pflichtverteidiger gern. § 140 Abs. 2 StPO waren vorliegend evident gegeben.

Nach § 140 Abs. 2 StPO ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen. wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies gebieten. Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach dem zu erwartenden Rechtsfolgenausspruch. Bei einer Straferwartung von einem Jahr ist hierbei regelmäßig ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Dies gilt auch dann, wenn diese Straferwartung nur aufgrund einer zu bildenden Gesamtstrafe erreicht wird (vgl. zusammenfassend Meyer-Goßner. Strafprozessordnung, 56 Auflage. § 140, Rdn. 23, m.w.N.).

Vorliegend gebietet die Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers Die hier in Rede stehende Tat ist mit der Tat im Verfahren 501 KLs 6/18 gesamtstrafenfähig. Im dortigen Verfahren wird dem Angeklagten ein Verbrechen mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren zur Last gelegt. Im Verurteilungsfalle ist es daher für die Prüfung der Pflichtverteidigerbestellung als hinreichend wahrscheinlich anzusehen, dass die Gesamtstrafe über einem Jahr liegen dürfte, womit nach der oben dargestellten Rechtsprechung die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfüllt sind.

Unerheblich ist, dass es seitens des Amtsgerichts angedacht ist, das Verfahren nach § 154 StPO einzustellen. Eine solche Einstellung ist nach Aktenlage bisher nicht ausgesprochen worden, so dass zum jetzigen Zeitpunkt seitens des Angeklagten noch Verteidigungsbedarf besteht.“

Sicherlich im Hinblick auf die im Verfahren drohende Strafe ein Sonderfall, aber: Die Gesamtstrafe ist von Bedeutung. Und: Schön der Hinweis zur „angedachten Einstellung“.

„Prozesskostenhilfe“ im Bußgeldverfahren?, oder: Darüber muss das AG entscheiden

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Und zum Tagesschluss dann noch der Hinweis auf den OLG Bamberg, Beschl. v. 25.10.2017 – 2 Ss OWi 1399/17, dem folgender Sachverhalt zugrunde gelegen hat:

„Das AG verurteilte den nicht durch einen Verteidiger vertretenen, in der Hauptverhandlung anwesenden Betr. am 07.07.2017 wegen unbefugter Hilfeleistung in Steuersachen zu einer Geldbuße von 150 €. Ausweislich des Protokolls wurde dem Betr. nach der Urteilsverkündung mündlich sowie durch Aushändigung des Vordrucks ‚OWi 22‘ eine Rechtsmittelbelehrung erteilt. Mit am selben Tage eingegangenem Schreiben vom 14.07.2017 teilte der Betr. mit, dass er die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantrage und für das Verfahren Prozesskostenhilfe (PKH) beantrage. Soweit und sobald diese bewilligt worden sei, werde er dem Gericht einen beizuordnenden Rechtsanwalt benennen und der beigeordnete Rechtsanwalt einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde „stellen“. Vom Vorwurf der unerlaubten Steuerberatung sei er freizusprechen. Die Begründung für das „summarische PKH-Prüfverfahren“ werde er bis zum 14.08.2017 bei Gericht einreichen. Unter dem 31.07.2017 verfügte die Tatrichterin die förmliche Zustellung des Urteils an den Betr., welche am 02.08.2017 erfolgte. Mit Telefax-Nachricht vom 14.08.2017 übermittelte der Betr. dem AG zur „Begründung für das summarische PKH-Prüfverfahren“ umfangreiche Ausführungen zur Sache, in denen er sich gegen seine Verurteilung wendet und auch eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht moniert. Das AG hat über den Antrag auf Bewilligung von PKH nicht entschieden, sondern unter dem 16.08.2017 die Akten dem Rechtsbeschwerdegericht zur Entscheidung über den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde vorgelegt. Die GenStA beantragt, die Zulassungsrechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, da das Rechtsmittel zwar form- und fristgerecht eingelegt, nicht aber formgerecht begründet worden sei. In seiner hierzu abgegebene Stellungnahme vom 06.10.2017 macht der Betr. im Wesentlichen geltend, er habe bisher lediglich einen PKH-Antrag gestellt, der nicht den formalen Begründungserfordernissen eines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde genügen müsse, und über den nicht entschieden sei. Im Übrigen sei eine Zulassungsrechtsbeschwerde von ihm bisher noch gar nicht eingelegt worden; vielmehr sollte eine solche erst nach PKH-Bewilligung durch den beigeordnete Rechtsanwalt – ggf. im Zusammenhang mit einem Wiedereinsetzungsantrag – erhoben werden.“

Das OLG hat die Akten ohne eigene Sachentscheidung zur Nachholung einer Entscheidung über das unerledigte Beiordnungsgesuch an das AG zurückgegeben.

Und wie fast immer reicht beim OLG Bamberg der Leitsatz, um zu verstehen, was das OLG entschieden hat:

„Ein mit der (Zulassungs-) Rechtsbeschwerde eingelegter Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist als Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers auszulegen, über den das Tatgericht zu entscheiden hat. Hat das Tatgericht noch nicht über diesen Antrag entschieden, beruht die Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist nicht auf einem Verschulden des Betroffenen i.S.v. § 44 I 1 StPO; die Nachholung der versäumten Handlung durch Einreichung einer Rechtsbeschwerdebegründungsschrift ist dem Betroffenen erst zumutbar, wenn über seinen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers entschieden ist. Das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren erfordert daher die Rückgabe der Sache an das Amtsgericht zur weiteren Sachbehandlung, weil mangels Nachholung der versäumten Handlung Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist – vorerst – nicht gewährt werden kann (§ 45 II 2 StPO).

„Wie? nur ne Geldstrafe?“ – „Dann brauchst du keinen Pflichtverteidiger mehr….

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Und als zweite Entscheidung heute dann den KG, Beschl. v. 20.12.2017 – 2 Ws 194/17. Leider keine Gebührenentscheidung, im Moment habe ich keine im Blogordner. Es handelt sich vielmehr um eine Pflichtverteidigerentscheidung, und zwar zur Zulässigkeit der Zurücknahme der Pflichtverteidigerbestellung. Der Angeklagte hatte beim AG einen Pflichtverteidiger. Im Berufungsverfahren gegen das amtsgerichtliche Urteil hat das LG dann die Pflichtverteidigerbestellung im Hinblick auf die verbleibende Maximalstraferwartung aufgehoben. Dagegen die Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat in ihrer Stellungnahme hierzu ausgeführt:

„Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gilt grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es – abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 Satz 1, 143 StPO – insbesondere dann bei der Bestellung bleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung ändert (vgl. BGHSt 7, 69, 71; OLG Düsseldorf NStZ 2011, 653 und StV 1995, 117, 118; KG StV 2016, 485; wistra 2016, 423; Beschlüsse vom 28. Februar 2017 – 5 Ws 50/17 -, 28. Oktober 2016 – 3 Ws 575/16 – und 10. September 2013 – 4 Ws 116/13 -). Denn der Eintritt einer Änderung ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern ist es grundsätzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andere Beurteilung ersetzen will oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des Vorderrichters nicht zu teilen vermag (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Dies gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. BGH a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 21. Oktober 1983 – 1 Ws 734-736/83, 1 Ws 842/83 – juris; KG a.a.O.).

Nicht schutzwürdig ist das Vertrauen des Angeklagten auf die einmal getroffene positive Entscheidung des Gerichts, wenn sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; KG Beschlüsse vom 28. Oktober 2016 – 3 Ws 575/16 – und 10. September 2013 – 4 Ws 116/13 -). Dem steht es gleich, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat; denn auch in diesem Fall kann sich ein schützenswertes Vertrauen in den Bestand der Entscheidung nicht bilden (vgl. KG a.a.O.).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes im vorliegenden Fall die Aufrechterhaltung der vom Amtsgericht beschlossenen Bestellung nicht. Denn es haben sich jedenfalls die maßgeblichen Umstände wesentlich geändert.

Das Amtsgericht hat dem Angeklagten zwar unter Nennung des § 140 Abs. 2 StPO, jedoch ohne weitere Begründung einen Rechtsanwalt beigeordnet. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich aus den prozessualen Umständen, dass Grund für die Beiordnung offensichtlich die Schwere der Tat in Form des drohenden Widerrufs der Aussetzung einer Freiheitsstrafe von acht Monaten und des dadurch in Verbindung mit der im vorliegenden Verfahren in Betracht kommenden Freiheitsstrafe möglichen Gesamtstrafenübels von mindestens einem Jahr war.

Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte erstinstanzlich lediglich zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt worden ist und ihm somit als alleiniger Berufungsführer wegen des Verschlechterungsverbots des § 331 Abs. 1 StPO keine Freiheitsstrafe und damit auch unter Berücksichtigung eines möglichen Bewährungswiderrufs kein Gesamtstrafenübel von mindestens einem Jahr mehr droht, gebietet die Schwere der Tat keine Pflichtverteidigerbestellung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO. Soweit die Verteidigung darauf abstellt, dass die maximal mögliche Geldstrafe von 120 Tagessätzen als 120 Tage Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden könnte, kann dieser Gesichtspunkt zur Begründung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO nicht herangezogen werden. Auch wenn für die Beurteilung der Schwere der Tat das drohende Gesamtstrafenübel maßgeblich ist und neben der Rechtsfolgenentscheidung auch die sonstigen schwerwiegenden Nachteile zu berücksichtigten sind, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gegenwärtigen hat, so ist im Falle der Verhängung einer Geldstrafe grundsätzlich nicht per se davon auszugehen, dass die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe droht. Denn bei der Verhängung einer Geldstrafe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters die Höhe des Tagessatzes, vgl. § 40 Abs. 2 StPO, um so unter anderem sicherzustellen, dass der Verurteilte, gegebenenfalls durch die Gewährung von Zahlungserleichterungen gemäß § 42 StGB, wirtschaftlich in der Lage ist, die Geldstrafe tatsächlich zu tilgen. Besondere Umstände, die nicht im Einflussbereich des Angeklagten liegen und die es als zwingend erscheinen lassen, dass im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe von maximal 120 Tagessätzen diese Strafe tatsächlich als 120 Tage Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wird, sind nicht ersichtlich.“

Der Senat macht sich diese zutreffenden Ausführungen zu Eigen. Die bei jeder Verurteilung zu Geldstrafe abstrakt stets bestehende Möglichkeit der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe prägt als vom Verurteilten regelmäßig abwendbarer Nachteil das Gesamtstrafübel nicht derart nachhaltig, dass eine grundsätzliche Berücksichtigung der Geldstrafe als gleichsam „verkappte Freiheitsstrafe“ bei der Prognose, ob Freiheitsentzug von mindestens einem Jahr droht, geboten wäre.“

Strafbefehlsverfahren, oder: Gilt die Pflichtverteidigerbestellung auch für die Hauptverhandlung?

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Die Frage, welchen Umfang eine nach § 408b StPO erfolgte Beiordnung eines Rechtanwalts als Pflichtverteidiger hat, ist in der Rechtsprechung der OLG nicht unbestritten. Teilweise wird davon ausgegangen, dass sie nur bis zur Einlegung eines Einspruchs gilt, teilweise wird aber auch vertreten, dass die Bestellung darüber hinaus fortwirkt. In dem Streit hat sich jetzt auch das OLG Oldenburg zu Wort gemeldet, und zwar mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.06.2017 – 1 Ss 96/17.

Das AG hat den Angeklagten  wegen „unbefugter Ingebrauchnahme eines Fahrzeugs“ zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Zuvor hatte es gegen den Angeklagten einen ebenfalls auf diese Rechtsfolgen lautenden Strafbefehl erlassen und ihm durch Beschluss „gemäß § 408b Strafprozessordnung für das Strafbefehlsverfahren“ Rechtsanwalt pp. zum Verteidiger bestellt. Nachdem der Angeklagte gegen den Strafbefehl durch Rechtsanwalt pp. rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte, beraumte das AG Termin zur Hauptverhandlung an. Als der Verteidiger, der zu dem Termin nicht geladen worden war, Akteneinsicht beantragte, teilte ihm das AG mit, dass seiner Auffassung nach die Bestellung zum Pflichtverteidiger nach § 408b StPO nur bis zur Einspruchseinlegung, nicht aber für die auf den Einspruch folgende Hauptverhandlung gelte. Ein Fall notwendiger Beiordnung nach § 140 StPO liege nach Auffassung des Gerichts ebenfalls nicht vor. Das Wahlmandat sei für den – vorliegend eingetretenen – Fall der Bestellung als Pflichtverteidiger nach § 408b StPO ausdrücklich niedergelegt worden. Der gegen diese Feststellung gerichteten, mit einem Terminsaufhebungsantrag verbundenen Beschwerde des Angeklagten half das AG nicht ab; eine Vorlage an das Beschwerdegericht erfolgte in der Folgezeit nicht.

Bei dieser Sachlage hat der Angeklagte nach Auffassung des OLG zu Recht einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 i.V.m. § 408b Satz 1 StPO gerügt. Denn – so der Leitsatz der OLG-Entscheidung:

„Die Bestellung eines Verteidigers im Strafbefehlsverfahren gemäß § 408b StPO wirkt über die Einlegung des Einspruchs hinaus jedenfalls bis zur Einlegung des Rechtsmittels gegen das auf den Einspruch hin ergangene amtsgerichtliche Urteil fort.“

M.E. grundsätzlich zutreffend. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Entscheidung des OLG zutreffend ist. Denn, wenn man einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO annehmen will, setzt das ja voraus, dass es sich um einen Fall der sog. notwendigen Verteidigung handelt. Hier hatte man es aber nur mit einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten auf Bewährung zu tun. Also geht der Weg über § 338 Nr. 5 StPO m.E. nur, wenn man annehmen will, dass es sich bei § 408b StPO um einen gesetzlich geregelten Fall der „notwendigen Verteidigung“ handelt, der fortbesteht.

Unabhängig von der Frage, hat die OLG-Entscheidung aber auch gebührenrechtliche Auswirkungen. Denn folgt man dem OLG und der insoweit h.M., dann entsteht auch die Terminsgebühr für den (Pflicht)Verteidiger als gesetzliche Gebühr.