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JGG-Verfahren – wie weit/lange reicht die Pflichtverteidigerbestellung?

© pedrolieb -Fotolia.com

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Ist der Rechtsanwalt erst mal zum Pflichtverteidiger bestellt worden,was ja häufig schon schwer genug ist zu erreichen, dann stellt sich nicht selten später die (Anschluss)Frage: Wie lange gilt die Pflichtverteidigerbestellung eigentlich bzw. welche Verfahrensvorgänge, die ggf. nach dem Urteil liegen, werden von ihr auch noch umfasst. Die Frage kann gerade auch in JGG-Verfahren eine Rolle spielen, wenn der Mandant zwar zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist, das Gericht sich jedoch die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung vorbehalten hat. Es schließt sich dann (später) ja noch das Verfahren nach § 57 JGG an. Die Frage, die sich dann für den Pflichtverteidiger des Erkenntnisverfahrens stellt: Gilt die Pflichtverteidigerbestellung fort oder muss ich sie neu beantragen? Letzteres hatte ein Verteidiger im Bezirk des OLG Hamm (vorsorglich) getan bzw. um Feststellung der Fortwirkung nachgesucht. Das OLG Hamm teilte ihm im OLG Hamm, Beschl. v.  11.05.2015 – 3 Ws 275/15 – mit: Gilt fort, daher ist dein Antrag gegenstandslos:

„Der Antrag auf Beiordnung des Verteidigers ist gegenstandslos, da eine das Hauptverfahren betreffende Verteidigerbestellung im Verfahren über die Aussetzung der Jugendstrafe gemäß § 57 JGG fortwirkt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. März 1998 – 3 Ws 53/98, StV 1998, 348; vgl. entsprechend zu nachträglichen Gesamtstrafenbildungen KG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 – 2 Ws 521/10, NStZ-RR 2011, 86 f.; OLG Köln, Beschluss vom 22. März 2010 – 2 Ws 168/10, juris Rn. 9 m.w.N.).

Ein Rechtsschutzbedürfnis für die hilfsweise begehrte Feststellung, dass die Bestellung fortwirke, ist weder dargelegt noch ersichtlich.“

Nun, richtig. Der letzte Satz ist m.E. überflüssig. Denn konkuldent ist damit ja festgestellt, dass die Bestellung aus dem Hauptverfahren fortwirkt.

Ein Blick in die Akte hilft, oder: Amtsrichter mit Erinnerungsproblemen

© Cyril Comtat - Fotolia.com

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Ein kleines Schmankler vom OLG Hamm eröffnet den heutigen Tag, nämlich der OLG Hamm, Beschl. v.17.06.2016 – 1 RBs 92/16. Es geht mal wieder um eine Verwerfungsentscheidungnach § 74 Abs. 2 OWiG. Das AG hat den Einspruch des Betroffenen verworfen, weil er (unentschuldigt) nicht in der Hauptverhandlung erschienen war, dabei aber übersehen, dass der Betroffene vom AG selbst gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in Hauptverhandlung entbunden worden war. Tja, und das war es dann. Denn:

„Die Rechtsbeschwerde hat mit der vorgenannten, ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge vorläufig Erfolg. Sie führt zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Dortmund. Denn der Betroffene war – was anscheinend bei Erlass der angefochtenen Entscheidung übersehen worden ist – durch Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 04.02.2016 gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der bereits zu diesem Zeitpunkt auf den 01.03.2016 bestimmten Hauptverhandlung entbunden worden, so dass die Voraussetzungen für eine Verwerfung seines Einspruchs gemäß § 74 Abs. 2 OWiG nicht gegeben waren. Für eine Verwerfung des Einspruchs, weil (auch) der Verteidiger der Hauptverhandlung ferngeblieben ist, gibt § 74 Abs. 2 OWiG ohnehin keine Rechtsgrundlage (vgl. OLG Köln, NZV 2004, 655, juris).“

Als ich eine Überschrift für das Posting gesucht habe, fielen mir: „Was schert micht mein Geschwätz von gestern“, oder: „Denn ich weiß nicht mehr, was ich getan habe“, aber auch: „Vielleicht mal einen Blick in die Akte werfen, das hilft, Fehler zu vermeiden.“ Jedenfalls scheint der Amtsrichter Erinnerungsprobleme zu haben

 

Nochmals: Auch Auslandstaten führen zum Bewährungswiderruf…..

© rcx - Fotolia.com

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Und zum Abschluss des Tages dann noch mal einen OLG-Beschluss zur Frage, ob eine Auslandstat Grundlage für einen Bewährungswiderruf sein kann. Das OLG Hamm sagt im OLG Hamm, Beschl. v. 10.05.2016 – 3 Ws 157/16: Ja (so auch schon der OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.02.2016 – 1 Ws 5/16 und dazu Aufgepasst: Auch Auslandstaten führen zum Bewährungswiderruf..).

Und weil es so eindeutig ist dann hier nur die Leitsätze der Entscheidung des OLG Hamm, das auch zur Frage des Vertrauensschutzes Stellung nimmt:

  1. Die Verurteilung durch ein österreichisches Gericht aufgrund von in Österreich begangener Straftaten kann den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung im Inland rechtfertigen.
  2. Die Herausbildung des Vertrauens, der Widerruf einer Strafaussetzung werde unterbleiben, ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein sich entwickelnder Prozess, in dessen Verlauf der Verurteilte auch die Bearbeitungszeiten in der Justiz berücksichigen muss.
  3. Ein Zeitablauf von nur sechs Monaten zwischen dem Ablauf der Bewährungszeit und der Entscheidung über den Widerruf kann einen Vertrauenstatbestand noch nicht begründen.

Wenn es im Auto laut wird, fährt man vorsätzlich zu schnell?

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Die Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Geschwinduiigkeitsüberschreitung ist tödlich für das Absehen vom Fahrverbot. Man muss also als Verteidiger versuchen, die Verurteilung wegen Vorsatzes zu vermeiden. Aber so einfach ist das nicht, vor allem nachdem die OLG zunehmend das Maß der Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit „relativ“ bestimmen und davon ausgehen, dass ab einer 40%-igen Überschreitung von Vorsatz auszugehen ist. So auch das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 10.05.2016 – 4 RBs 91/16, zwar nur in einem Zusatz, aber immerhin:

„Ergänzend zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft merkt der Senat an, dass die Verurteilung wegen vorsätzlichen Geschwindigkeitsverstoßes keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung handelt vorsätzlich, wer die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und bewusst dagegen verstoßen hat. Der Grad der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit kann ein starkes Indiz für vorsätzliches Handeln sein, wobei es auf das Verhältnis zwischen der gefahrenen und der vorgeschriebenen Geschwindigkeit ankommt. Es ist von dem Erfahrungssatz auszugehen, dass einem Fahrzeugführer die erhebliche Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit aufgrund der Fahrgeräusche und der vorüberziehenden Umgebung jedenfalls dann nicht verborgen bleibt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit  um mehr als 40 % überschritten wird (KG Berlin, Beschl. v. 25.03. 2015 – 3 Ws (B) 19/15, 3 Ws (B) 19/15162 Ss 4/15 –, Rn. 5 – juris m.w.N.; vgl. auch: OLG Hamm NZV 2007, 263 und Krenberger jurisPR-VerkR 15/2015 Anm. 3). So verhält es sich hier. Dem Betroffenen war die innerörtliche Geschwindigkeit aufgrund der im angefochtenen Urteil festgestellten Beschilderung bekannt. Er überschritt die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h – ein anderes Fahrzeug überholend – sogar um deutlich mehr als 50%. Näherer Feststellungen zum Fahrzeugtyp bedarf es – entgegen der Rechtsbeschwerde – nicht, da eine derartige Geschwindigkeitsüberschreitung immer anhand der o.g. Merkmale erkennbar ist.2

Ob allerdings der Ansatz, „dass einem Fahrzeugführer die erhebliche Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit aufgrund der Fahrgeräusche und der vorüberziehenden Umgebung jedenfalls dann nicht verborgen bleibt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit  um mehr als 40 % überschritten wird“ zutrifft, wird man m.E. diskutieren können. Denn da dürfte es sicherlich auch auf den gefahrenen Pkw ankommen.

Sexueller Missbrauch (s)eines Kindes – minder schwerer Fall?

© alphaspirit - Fotolia.com

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Das AG Warendorf hat einen Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, seiner Stieftochter, in den Jahren 1996 – 1999 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das OLG Hamm hat die Verurteilung im OLG Hamm, Beschl. v. 05.04.2016 – 4 RVs 30/16 – aufgehoben. Ihm passt die Beweiswürdigung nicht, sie ist ihm angesichts der „Aussage-gegen-Aussage-Situation“ zu knapp. Und: In der „Segelanweisung“ gibt es m.E. ganz interessante Anmerkungen zur Strafzumessung, nämlich zur Frage des minder schweren Falles:

„b) Es bedarf – jedenfalls wenn das neue Tatgericht zu vergleichbaren Feststellungen kommt wie das frühere Tatgericht – einer näheren Erörterung des Vorliegens eines minder schweren Falles i.S.v. § 176 Abs. 1 2. Halbsatz StGB i.d.F. vom 10.03.1987 bzw. i.S.v. § 176a Abs. 3 StGB i.d.F. v. 26.01.1998 auch ohne eines ausdrücklich in der Hauptverhandlung gestellten Antrages i.S.v. § 267 Abs. 3 S. 2 StPO. Der Aus-nahmestrafrahmen eines minder schweren Falles bedarf zwar keiner ausdrücklichen Erwähnung, wenn seine Nichtanwendung nach Maßgabe aller Umstände auf der Hand liegt (BGH NStZ-RR 2010, 57 f.). Andererseits bedarf es aus materiellrechtlichen Gründen der Erörterung des Vorliegens eines minder schweren Falles, wenn die gesamten strafzumessungsrelevanten Umstände die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens nahelegen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2002 – 1 StR 548/01 –juris; BGH, Beschl. v. 06.01.2004 – 5 StR 517/03 – juris; BGH NStZ-RR 2012, 308). Dies ist hier – auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen – der Fall. Danach liegen erhebliche strafmildernde Umstände vor:

Der Angeklagte ist nicht vorbestraft.

Die Taten liegen sehr lange zurück. Eine lange Zeitspanne zwischen Tat und Ver-urteilung ist in der Regel ein bestimmender Strafzumessungsgerichtspunkt, ohne, dass es auf die Dauer des Strafverfahrens ankommt (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; zeitlicher Abstand dort: 9 ½ Jahre; BGH NStZ-RR 1999, 108; zeitlicher Abstand dort: 5 ¾ Jahre). Eine Erörterung dieses Umstands ist bei einem zeitlichen Abstand zwischen Taten und Verurteilung von hier inzwischen rund 20 bzw. 17 Jahren unerlässlich. Dabei ist insbesondere zu sehen, dass die Strafe ? die bisherigen Feststellungen zu Grunde gelegt – keinerlei spezialpräventive Wirkungen entfaltet, da der Angeklagte auch ohne Bestrafung weder vorher noch nachher wieder straffällig geworden ist. Da das staatsanwaltschaftliche Aktenzeichen des vorliegenden Verfahrens bereits aus dem Jahre 2012 stammt, drängt sich im vorliegenden Fall zudem die Erörterung einer langen (wenn auch ggf. noch nicht rechtsstaatswidrigen) Verfahrensdauer auf.

Demgegenüber liegen kaum (ordnungsgemäß festgestellte) straferschwerende Umstände vor:

Sollte die Zeugin tatsächlich noch „schwerwiegend unter den Folgen der Taten“ leiden, so bedarf es auch hierzu näherer Feststellungen. Im angefochtenen Urteil ist lediglich festgestellt, dass ihr seinerzeit „das Ganze auch gefallen habe“; zu spätere Beeinträchtigungen aufgrund der Taten ist gar nichts festgestellt.

Will das neue Tatgericht auch „immer wieder“ vorgekommene „sexuelle Übergriffe“ zwischen den beiden Taten strafschärfend berücksichtigen, bedarf es hierzu näherer Feststellungen.

Es erscheint auch zweifelhaft, ob das „schleichende“ Überschreiten der Grenzen zum sexuellen Missbrauch ein strafschärfender Gesichtspunkt ist. Es erschließt sich – jedenfalls ohne nähere Begründung – nicht, warum das schleichende Überschrei-ten schlimmer sein soll, als ein plötzlicher Übergriff.“