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Pflichti III: „Wahlpflichtverteidiger“ fehlt in der HV, oder: Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts?

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Und zum Schluss der heutigen „Pflichtverteidigungsreihe“ dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 16. 02. 2021 – III – 5 RVs 3/21. Thematik: Rechtsmittelverzicht in Abwesenheit des „Wahlpflichtverteidigers“.

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In der Hauptverhandlung war der vom Angeklagten gewählte Pflichtverteidiger nicht anwesend. Das AG  hat daher – gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten – diesem einen Sicherungsverteidiger beigeordnet. Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung erklärt der Angeklagte dann, dass er auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil verzichtet. Später dann die Sprungrevision, die Erfolg hatte:

„1. Die form- und fristgerecht erhobene Revision des Angeklagten ist trotz des von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 StPO) zulässig, da dieser wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam ist. .

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelverzicht wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam, wenn er auf einer vom Gericht zu verantwortenden unzulässigen Einwirkung mit: solchen Beeinflussungsmitteln beruht, die nicht von § 136a StPO verboten sind (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19, Rn. 22, 23, juris; BGH, Urteil vorn 21.04.1999 – 5 StR 714/98, juris). Eine derartige Einwirkung kommt insbesondere, dann in Betracht, wenn dem Angeklagten vom Gericht, eine Erklärung über den Rechtsmittelverzicht abverlangt wird, ohne ihm zunächst Gelegenheit zu geben, sich dazu erst nach einer Beratung mit -seinem Verteidiger zu äußern, der Rechtsmittelverzicht mithin praktisch unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers erwirkt wird (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3-StR 214/19 -,Rn. 30 – 31, juris; BGH, Urteil vom 17:09.1963 – 1 StR 301/63,.juris).

Ausgehend von diesem Maßstab ist vorliegend eine unzulässige Beeinflussung seitens des Gerichts anzunehmen. Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des erstinstanzlichen Richters ist der Angeklagte nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich von ihm danach befragt worden, ob er auf Rechtsmittel verzichten wollte. Gelegenheit, diese Fragestellung vor Abgabe der betreffenden Erklärung mit, dem von ihm gewählten, und im Hauptverhandlungstermin nicht anwesenden Pflichtverteidiger zu erörtern, ist ihm hierbei nicht eingeräumt worden. Der Angeklagte konnte vielmehr ausschließlich Rücksprache, mit dem weiteren Verteidiger nehmen. Diese Beratungsmöglichkeit ist indes nicht ausreichend, da die Bestellung von pp. zum sogenannten Sicherungsverteidiger (§ 144 StPO) nicht nur gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten; sondern auch verfahrensfehlerhaft erfolgte. Bleibt – wie vorliegend – der Verteidiger im Falle der notwendigen Verteidigung in der Hauptverhandlung aus, ist dem Angeklagten vor der Bestellung eines neuen Verteidigers Gelegenheit zu geben, einen Vorschlag zu unterbreiten. Dieses Vorschlagsrecht dient dem Recht des Angeklagten auf den Verteidiger seines Vertrauens-sowie der effektiven Verteidigung und gilt-unabhängig davon, ob – wie vorliegend – die Bestellung auf § 144, StPO oder – wie an sich zutreffend – auf § 145 StPO gestützt wird (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2014, § 145 StPO Rn. 8; Krawczyk, in: BeckscherOK, Stand: 01.10:2020, § 145 StPO Rn. 6). Einer Entscheidung, ob überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines neuen Verteidigers gegeben wären, bedurfte es daher nicht. Denn bei beiden Vorgehensweisen besteht aus den genannten Gründen zunächst ein Auswahlrecht des Angeklagten (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, a.a.O., § 145 StPO Rn. 8). Da dieses Auswahlrecht seitens des Gerichts übergangen wurde, ist dem Angeklagten die Möglichkeit genommen worden, die Frage des Rechtsmittelverzichts mit dem Verteidiger seines Vertrauens zu beraten. Die unzureichende Beratungsmöglichkeit ist daher-durch die Justiz zu vertreten, so dass ein Rechtsmittelverzicht nicht vorliegt.

2. Die Revision ist ferner begründet, weil der Angeklagte durch die gegen seinen Willen erfolgte Beiordnung des Sicherungsverteidigers Rechtsanwalt pp.in erheblicher Weise in seinen Verteidigungsrechten (§ 338 Nr. 8 StPO) eingeschränkt worden ist.

a) Die diesbezügliche Verfahrensrüge des Angeklagten genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs.-2 Satz 2 StPO und ist damit zulässig erhoben.

b) Sie hat ferner auch in der Sache Erfolg. Hierbei kann erneut offenbleiben, ob die tatbestandlichen Vorrausetzungen der §§ 144, 145 StPO für die Bestellung eines weiteren Verteidigers gegeben waren. Denn durch die Missachtung des Auswahlrechtes des Angeklagten wäre dieser nicht hinreichend verteidigt. Insofern wird auf die Ausführungen zur Unzulässigkeit des Rechtsmittelverzichts verwiesen.“

OWi III: Die Urteilsunterschrift des Richters, oder: Wenn das OLG rätselt, wer wohl unterschrieben hat

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Und dann zum Schluss des Tages hier noch der OLG Hamm, Beschl. v. 11.05.2021 – 4 RBs 124/21, der mal wieder zu den Anforderungen an eine richterliche Unterschrift unter einem schriftlichen Urteil (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO) Stellung nehmen musste.

Hier hatte die Amtsrichterin in einem Bußgeldverfahren zwar das Urteil unterschrieben, aber so ganz viel Mühe hatte sie sich damit nicht gemacht. Jedenfalls hat dem OLG ihr“Unterschrift“ nicht gereicht mit der Folge, dass das Urteil aufgehoben worden ist:

„1. Das angefochtene Urteil weist einen auf die Sachrüge hin beachtlichen, durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf, weil es keine den Anforderungen des § 275 Abs. 2 S. 1 StPO i.V.m. § 71 OWiG genügende Unterschrift der erkennenden Richterin enthält und es damit an einer Prüfungsgrundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht fehlt.

Gegenstand der rechtsbeschwerdegerichtlichen Überprüfung in sachlich-rechtlicher Hinsicht sind allein die schriftlichen Entscheidungsgründe, wie sie sich aus der gemäß § 275 StPO mit der Unterschrift des Richters zu den Akten gebrachten Urteilsurkunde ergeben. Das Fehlen einer individualisierbaren richterlichen Unterschrift ist hierbei – abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall des Fehlens nur einer richterlichen Unterschrift bei der Entscheidung durch ein Kollegialgericht – dem völligen Fehlen der Urteilsgründe gleichzustellen und führt bereits auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils, wenn nach Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO die Unterschrift auch nicht mehr nachgeholt werden kann.

So liegt der Fall hier, da die Unterzeichnung des vorliegend angefochtenen Urteils nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung an eine Unterschrift gestellt werden.

Der erkennende Richter hat das von ihm verfasste schriftliche Urteil zu unterschreiben (§ 275 Abs. 2 S. 1 StPO), was einen die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden individuellen Schriftzug erfordert, der sich nicht nur als Namenskürzel (Paraphe) darstellt, sondern charakteristische Merkmale einer Unterschrift mit vollem Namen aufweist und die Nachahmung durch einen Dritten zumindest erschwert. Dazu bedarf es nicht der Lesbarkeit des Schriftgebildes; ausreichend ist vielmehr, dass jemand, der den Namen des Unterzeichnenden und dessen Unterschrift kennt, den Namen aus dem Schriftbild herauslesen kann. Das setzt allerdings voraus, dass mindestens einzelne Buchstaben zu erkennen sind, weil es sonst am Merkmal einer Schrift überhaupt fehlt. Diese Grenze individueller Charakteristik ist insbesondere bei der Verwendung bloßer geometrischer Formen oder einfacher (gerader oder nahezu gerader) Linien eindeutig überschritten, die in keinem erkennbaren Bezug zu den Buchstaben des Namens stehen (st. höchstrichterliche und obergerichtliche Rspr., vgl. nur: OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2016 – III-1 RVs 94/16 – juris m.w.N.).

Das vorliegende Urteil weist am Ende ein händisches Zeichen auf, welches etwa einer im 45 Grad-Winkel nach links unten zeigenden Pfeilspitze ähnelt. Wenn man überhaupt in dieses Zeichen Buchstaben hineininterpretieren wollte, so könnte es sich um ein gekipptes „V“ als Großbuchstabe, ein gekipptes „L“ als Großbuchstabe oder ein „C“ als Großbuchstabe handeln. „V“ und „C“ kommen überhaupt nicht imn Namen der im Rubrum genannten Richterin vor, ein „L“ jedenfalls nicht am Namensanfang als Großbuchstabe. Jemand, der den Namen der erkennenden Richterin kennt, kann aus dem Zeichen weder den Namen noch einzelne zum Namen gehörende Buchstaben herauslesen.“

Etwas mehr Sorgfalt auch an der Stelle ……

StPO III: Wenn vom AG an das LG verwiesen wird, oder: In der Regel Bindungswirkung

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Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 16.03.2021 – 4 (s) Sbd I – 3/21 – zur Bindungswirkung einer Verweisung nach § 270 StPO vom AG an das LG.

Das AG hatte an das LG verwiesen, weil es in einem bei ihm anhängigen Verfahren von einem versuchten Tötungsdelikt ausgegangen ist. Dabei bleibt es – sagt das OLG:

„2. Das Landgericht – Jugendkammer – Essen ist für die Verhandlung und Entscheidung der vorliegenden Sache zuständig.

a) Das Landgericht Essen ist aufgrund des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Bottrop nach § 270 StPO zuständig, da die Sache aufgrund des Beschlusses unmittelbar bei ihm rechtshängig geworden ist und es daher an diesen gebunden ist (zu vgl. Senatsbeschluss vom 23.02.2017 – 4 (s) Sbd I – 1/17 m.w.N.).

b) Die Bindungswirkung entfällt nicht bei formeller oder materieller Fehlerhaftigkeit des Verweisungsbeschlusses, sondern erst dann, wenn der Verweisungsbeschluss willkürlich ist, also die Verweisung mit Grundsätzen rechtsstaatlicher Ordnung, insbesondere dem des gesetzlichen Richters, in offensichtlichem Widerspruch steht, d.h., wenn sie widersprüchlich, unverständlich oder offensichtlich unhaltbar ist (zu vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2009 – 3 StR 439/08 -, m.w.N., zitiert nach juris). Die Willkür kann insbesondere darin begründet liegen, dass das verweisende Gericht die Bedeutung und Tragweite der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des gesetzlichen Richters grundlegend verkannt hat oder wenn das Gericht die Sache ohne Vernehmung des Angeklagten und Beweisaufnahme – also bei gegenüber dem Eröffnungszeitpunkt unverändertem Tatsachen stand – verweist und es sich nicht um einen Fall der sog. „korrigierenden Verweisung“ handelt (zu vgl. Senatsbeschluss vom 23.02.2017 – 4 (s) Sbd I – 1/17 m.w.N.). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (zu vgl. BVerfG Beschl. v. 23.3.2020 – 2 BvR 1615/16, BeckRS 2020, 7407 Rn. 43, beck-online).

c) Die vom Amtsgericht Bottrop ausgesprochene Verweisung kann unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe nicht als willkürlich angesehen werden, da die Umstände, die die Annahme eines versuchten Tötungsdeliktes und damit die Zuständigkeit des Landgerichts nach § 41 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 74 Abs. 2 GVG begründen können, von ihm nicht lediglich vermutet werden.

Das Amtsgericht ist nach durchgeführter Beweisaufnahme insbesondere nach der Vernehmung des Geschädigten D zu der Erkenntnis gelangt, dass im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Gewaltanwendung – die objektiv durch die eingetretene Schädelfraktur belegt wird – ein mindestens bedingter Tötungsvorsatz anzunehmen ist. Bedingt vorsätzlich handelt, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Willenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (zu vgl. BGH, Urteil vom 15.01.2020 – 2 StR 304/19, beck-online; BGH, Beschluss vom 30. Juli 2019 – 2 StR 122/19, juris Rn. 15; Urteil vom 24. April 2019 – 2 StR 377/18, juris Rn. 11; BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 – 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37; vom 11. Oktober 2016 – 1 StR 248/16, NStZ 2017, 25; vom 14. August 2014 – 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267, jew. mwN). Gemessen an diesen Maßstäben, erweist sich die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes nach der begonnenen Beweisaufnahme unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks des Geschädigten nicht als bloße Vermutung.

Soweit das Amtsgericht zudem aufgrund der Angaben des Zeugen D zu der Erkenntnis gelangt ist, ein strafbefreiender Rücktritt sei aufgrund des Eintreffens der Polizei nicht mehr möglich gewesen, so stellt dies gleichsam eine auf sachfremden Erwägungen beruhende Annahme nicht dar. Verfestigt sich in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht der hinreichende Tatverdacht eines in die Zuständigkeit des Landgerichts fallenden Verbrechens, so ist die Sache an die zuständige Schwurgerichts bzw. Jugendkammer zu verweisen (zu vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 26.02.1996, – Ss 486/95, Beck online).“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt der Senat sich nach eigener Prüfung an.“

 

Zustellung II: Gemeinschaftseinrichtung, oder: Wohnen ohne Übernachten?

Die zweite Entscheidung, der OLG Hamm, Beschl.  v. 13.04.2021 – 5 Ws 102/21 und 103/21 – behandelt ebenfalls den Begriff der Wohnung, und zwar in Zusammenhang mit der Zustellung in einer „Gemeinschaftseinrichtung“ (§ 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Die Frage: Kann ein Obdachloser in einer  Gemeinschaftseinrichtung auch dann „wohnen“, wenn diese keine Übernachtungsmöglichkeit anbietet. Das OLG Hamm hat die Frage- wie schon vor einiger Zeit das OLG Köln – bejaht:

„1. Entgegen der Auffassung des Verteidigers ist eine ordnungsgemäße Ersatzzustellung nach § 37 StPO i. V. m. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO erfolgt. Diese hat zur Folge, dass die Entscheidung dem Empfänger wirksam zugestellt ist, auch wenn er davon persönlich keine Kenntnis erlangt. Für den Beginn der Rechtsmittelfrist ist allein der Tag der Ersatzzustellung maßgebend (Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 37 Rn. 17).

Bei der von dem Verurteilten angegebenen Adresse handelt es sich um ein Postfach der Wohnungslosenhilfe der D in H. Der angefochtene Beschluss wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 11. Februar 2021 einem zum Empfang berechtigten Vertreter der Gemeinschaftseinrichtung übergeben. Bei der Einrichtung der D handelt es sich um eine vom Gesetz gemeinte Gemeinschaftseinrichtung, wozu grundsätzlich auch Obdachlosenunterkünfte zählen (OLG Köln, Beschluss vom 12.6.2018 – 1 RVs 107/18, BeckRS 2018, 13378; MüKo-StPO/Valerius, § 37 Rn. 27- beck-online).

Einer wirksamen Ersatzzustellung steht nicht entgegen, dass sich der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt bereits seit dem 02. Februar 2021 in der Therapieeinrichtung „Q“ in L aufgehalten hat. Eine wirksame Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt nicht voraus, dass der Verurteilte bzw. der Adressat auch tatsächlich in der Gemeinschaftseinrichtung wohnt.

Der Begriff der Wohnung im Sinne des Zustellungsrechts ist geprägt durch das Interesse des Zustellungsveranlassers an zeitnaher Kenntnisnahme des Inhalts des zuzustellenden Schriftstücks durch den Zustellungsempfänger bei gleichzeitiger Wahrung der Belange des Adressaten. Diese gebieten es, im Ausgangspunkt auf die tatsächlichen Verhältnisse, d. h. dessen räumlichen Lebensmittelpunkt abzustellen. Nicht maßgebend ist daher der Wohnsitzbegriff des § 7 BGB. Für die Erfüllung des Begriffs „Wohnen“ ist es zwar typisch, nicht aber unabdingbar, dass der Zustellungsempfänger an der angegebenen Anschrift auch übernachtet (OLG Köln a. a. O.).

Sieht – wie hier – die Gemeinschaftseinrichtung eine Übernachtungsmöglichkeit nicht vor, kann der Zustellungsadressat dort gleichwohl seinen Lebensmittelpunkt im vorstehend gekennzeichneten Sinne haben.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier zunächst von Bedeutung, dass die D unter der o. g. Adresse ausweislich der frei zugänglichen Internetseite die postalische Erreichbarkeit für Ämter und Behörden als eine ihrer Leistungen für Wohnungslose anbietet.

Ausweislich des Berichts des Bewährungshelfers vom 04. Dezember 2020 hat der wohnungslose Verurteilte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Gelsenkirchen am 03. Dezember 2020 die Adresse „I-Straße ## in ##### H“ als seine postalische Erreichbarkeit ohne Einschränkung benannt, wobei er sich ausweislich der Feststellungen in dem Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen zu diesem Zeitpunkt bei einem Bekannten in H aufgehalten hat. Zuvor war der wohnungslose Verurteilte monatelang weder für den Bewährungshelfer noch für das Gericht (postalisch) erreichbar und hielt sich zuletzt zur Entgiftung in der J-Stiftung in F auf. Der Verteidiger führt insoweit in seinem Schriftsatz vom 26. März 2021 aus, dass der Verurteilte die postalische Adresse mangels Wohnsitz bereits vor einiger Zeit eingerichtet hatte. Dem Bericht des Bewährungshelfers ist zudem zu entnehmen, dass der Verurteilte bereits die Kostenzusage für die Therapie in der „Q“ in L hatte, er also davon ausgehen konnte, sich demnächst für mehrere Wochen dort aufzuhalten. Trotz häufig wechselnder Aufenthaltsorte hat der Verurteilte danach stets diese Adresse behalten. Infolgedessen ist auch nicht ersichtlich, dass er mit dem Antritt der Therapie am 02. Februar 2021 seinen im obigen Sinne gekennzeichneten Lebensmittelpunkt nicht mehr unter der o.g. angegebenen Anschrift hatte bzw. haben wollte, denn dann wäre mit einer Auflösung der Postanschrift zu rechnen gewesen. Eine anderslautende Mitteilung hinsichtlich seiner postalischen Erreichbarkeit ist nicht erfolgt. Zudem hatte der Verurteilte diese Adresse offensichtlich gerade deshalb eingerichtet, um trotz seiner Wohnungslosigkeit postalisch erreichbar zu sein.“

StrEG II: Telefonkontakt zum Verteidiger während der Durchsuchung, oder: Entschädigung?

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Hamm. Das hat im OLG Hamm, Urt. v. 29.01.2021 – I-11 U 41/20 – zur Zulässigkeit und Begründetheit einer Feststellungklage, mit der ein Entschädigungsanspruch aus § 2 StrEG für aus Anlass einer strafprozessualen Durchsuchung entstandene Verteidigerkosten geltend gemacht wird. Der Beschuldigtre hatte während der Durchsuchung zu seinem Verteidiger telefonischen Kontakt aufgenommen. Nach Einstellung des Verfahrens macht er die entstandenen Kosten gegen die Landeskasse geltend, die sich natürlich heftig wehrt.

Hier dann nur die Ausführungen des OLG zur Begründetheit:

„2. In der Sache ist die Feststellungsklage nur teilweise begründet.

Der Feststellungsantrag ist allein insoweit begründet, als dass in ihm als Minus das Begehren des Klägers enthalten ist, die grundsätzliche Verpflichtung des beklagten Landes festzustellen, ihn von den zu seinen Lasten durch die Durchsuchungsmaßnahme vom 24.10.2017 verursachten Verteidigerkosten freizustellen, wobei sich die Freistellungsverpflichtung des beklagten Landes auf die nach dem RVG abrechenbaren Gebühren und Auslagen beschränkt und auch hinsichtlich dieser, soweit mit ihnen nicht nur die Verteidigung des Klägers gegen die Durchsuchungsmaßnahme sondern auch dessen sonstige Verteidigung in dem Ermittlungsverfahren 355 Js 1/17 (126) StA Bochum abgegolten wird oder würde, nur auf den Anteil, der dem Anteil der Verteidigung gegen die Durchsuchungsmaßnahme an der gesamten Verteidigung des Klägers in dem Ermittlungsverfahrens 355 Js 1/17 (126) StA Bochum entspricht. Allein insoweit ist das Feststellungsbegehren des Klägers dem Grunde nach aus §§ 2 und 7 StrEG begründet. Wegen seines darüber hinausgehenden Feststellungsbegehrens ist die Klage unbegründet.

a) Aufgrund der vom Amtsgericht Bochum mit Beschluss vom 24.07.2018 (64 GS 2430/18 (355 Js 1/7) getroffenen Grundentscheidung, welche seit dem 09.08.2018 rechtskräftig ist, steht mit Bindungswirkung für den Senat fest, dass der Kläger für die am 24.10.2017 bei ihm durchgeführte Durchsuchungsmaßnahme, die gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG eine andere Strafverfolgungsmaßnahme i.S.d. § 2 Abs. 1 StrEG darstellt, für etwaige von ihm durch den Vollzug der Strafverfolgungsmaßnahme erlittene Vermögensschäden aus der Staatskasse zu entschädigen ist (vgl. Meyer, a.a.O. Vorbem. §§ 10-13 Rn. 5).

Aus den bereits oben unter C. 1. B) cc) (3) dargelegten Gründen ist vom Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dargelegt und nachgewiesen worden, dass durch die während der Durchsuchungsmaßnahme erfolgte telefonische Kontaktierung von Rechtsanwalt P zu seinen Lasten infolge der Durchsuchungsmaßnahme Verteidigerkosten entstanden sind. Diese stellen einen nach § 7 StrEG erstattungsfähigen Vermögensschaden dar, weil das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren am 04.04.2018 von der Staatsanwaltschaft Bochum nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde und die Kostenvorschriften der Strafprozessordnung für diesen Fall die Möglichkeit einer prozessualen Erstattung dieser Auslagen nicht vorsehen (BGH, Urteil vom 11.11.1976, III ZR 17/76 – Rz. 12 juris).

Allerdings kann der Kläger nach den §§ 2 und 7 StrEG für seine Verteidigerkosten vom beklagten Land nur eine Entschädigung bis zur Höhe der gesetzlichen Gebühren und Auslagen verlangen. Eine etwaig vereinbarte höhere Anwaltsvergütung ist nach diesen Vorschriften nicht zu entschädigen (BGH, a.a.O. – Rz. 36 bis 38). Auch die gesetzlichen Gebühren und Auslagen können vom Kläger, soweit mit ihnen nicht nur die vom Verteidiger im Zusammenhang mit der Durchsuchungsmaßnahme entfalteten Tätigkeiten, sondern zugleich auch die von ihm vor und/oder nach der Durchsuchungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren 355 Js 1/17 (126) StA Bochum entfalteten Tätigkeiten pauschal abgegolten werden, nicht in voller Höhe erstattet verlangt werden. Für diese Gebühren und Auslagen, zu denen auch die vom Kläger auf Seite 5 der Berufungsbegründung vom 17.04.2020 genannten Gebührentatbestände und Auslagen gehören dürften, steht dem Kläger allein eine anteilige Entschädigung zu, die dem Anteil der Verteidigung gegen die Durchsuchungsmaßnahme an der gesamten Verteidigung des Klägers in dem Ermittlungsverfahren 355 Js 1/17 (126) StA Bochum durch P entspricht (BGH, a.a.O. – Rz. 39). Entsprechend war der Feststellungsausspruch inhaltlich zu beschränken.

b) Das darüber hinausgehende Feststellungsbegehren des Klägers ist unbegründet.

Dem Kläger steht gegen das beklagte Land weder ein weitergehender Entschädigungs- oder Schadensersatzanspruch wegen der ihm durch die Durchsuchungsmaßnahme bereits entstandenen Verteidigerkosten, noch ein Entschädigungs- oder Schadensersatzanspruch wegen „noch entstehenden Verteidigungsauslagen“ und „sonstigen Vermögensschäden“ zu.

Hinsichtlich der dem Kläger durch die Durchsuchungsmaßnahme bereits entstandenen Verteidigerkosten ist die Entschädigungspflicht des beklagten Landes aus §§ 2 und 7 StrEG aus den bereits vorstehend unter Ziffer 1 genannten Grunde dem Grunde nach auf dem im Urteilstenor bezeichneten Umfang beschränkt. Ein Entschädigungsanspruch aus § 2 und 7 StrEG wegen der im Feststellungsantrag des Klägers genannten „noch entstehenden Verteidigungsauslagen“ und „sonstigen Vermögensschäden“ scheitert hingegen bereits daran, dass solche vom Kläger im Justizverwaltungsverfahren nicht geltend gemacht wurden und es damit ihrer wegen bereits an der für die Zulässigkeit des Betragsverfahrens erforderlichen Durchführung des Justizverwaltungsverfahrens fehlt (vgl. dazu: Meyer, a.a.O. § 13 Rn. 15).

Dem Kläger stehen insoweit auch keine weitergehenden Ansprüche aus den von ihm mit der Berufung ausdrücklich weiterverfolgten, aber nicht näher bezeichneten „konkurrierenden“ Anspruchsgrundlagen zu. Als solche käme vorliegend allenfalls § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Betracht. Allerdings scheitert ein Amtshaftungsanspruch vorliegend bereits an dem Fehlen einer haftungsbegründenden Amtspflichtverletzung des beklagten Landes. Denn es ist weder vom Kläger dargelegt worden, noch sonst ersichtlich, weshalb die bei ihm am 24.10.2017 durchgeführte Durchsuchungsmaßnahme rechtswidrig und damit amtspflichtwidrig sein sollte. Eine Amtspflichtverletzung des beklagten Landes könnte vorliegend allenfalls darin zu sehen sein, dass die von der Generalstaatsanwältin in Hamm im Justizverwaltungsverfahren vertretene Rechtsauffassung, dass in dem Entschädigungsverfahren nach dem StrEG nur ein bezifferter Vermögensschaden ersetzt verlangt werden könne, aus den vorstehend dargelegten Gründen jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend gewesen ist. Allerdings fehlt es an jeglichem näheren Vortrag des Klägers dazu, ob und auf welche Weise ihm durch diese denkbare Amtspflichtverletzung „Verteidigungsauslagen“ oder derzeit für ihn noch nicht bezifferbare „sonstige Vermögensschäden“ entstanden sein sollen.“