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Haft I: Nochmals Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Kein Mittel der Verfahrenssicherung

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Und heute dann ein Tag mit Haftentscheidungen.

Ich beginne hier mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 26.05.2023 – 1 Ws 40/23. Ergangen ist der Beschluss in einem Haftbeschwerdeverfahren gegen einen Haftbefehl u.a. wegen des Tatvorwurfes der bandenmäßigen Beitragsvorenthaltung, des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges sowie der Steuerhinterziehung jeweils in einer Vielzahl von Fällen. Das OLG macht in der Entscheidung interessante Ausführungen zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) und auch zu den Fragen der §§ 121, 122 StPO.

Ich stelle hier wegen des Umfangs der Entscheidung nur die Leitsätze vor und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext zum Selbststudium. Die Leitsätze luten:

1. Die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten. Es sind daher aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen an den Haftgrund und die Qualität des Anlassdeliktes zu stellen.

2. Als die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO kommen nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtsgehaltes in Betracht bzw. solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen, wobei jede einzelne Tat ihrem konkreten Erscheinungsbild nach den erforderlichen Schweregrad aufweisen muss.

3. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die naheliegende Gefahr besteht, er werde noch vor rechtskräftiger Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache weitere gleichartige Taten begehen. Diese Gefahrenprognose erfordert eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, wobei auch Indiztatsachen zu berücksichtigen sind.

4. Betrugstaten nach § 263 StGB können auch dann taugliche Anlasstaten nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darstellen, wenn lediglich aufgrund der in der Baubranche geltenden Beitragspflicht zur Sozialkasse Bau der § 263 StGB hier nicht von dem nicht im Katalog der Anlasstaten genannten spezielleren § 266a StGB verdrängt wird.

5. Die Ruhensvorschrift des § 121 Abs. 3 StPO findet Anwendung auch auf die Frist nach § 122a StPO für den Vollzug einer auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Untersuchungshaft.

StGB I: Angriffe auf Gendern und Homosexualität, oder: Auch ein Pastor darf nicht alles sagen

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Ich mache heute dann einen StGB-Tag, und zwar mit drei ein wenig ungewöhnlichen Entscheidungen, zumindest nichts, was man so täglich liest.

Die Berichterstattung eröffne ich mit dem OLG Bremen, Urt. v. 23.02.2023 – 1 Ss 48/22. Das OLG hat in der Entscheidung umfangreich zur Volksverhetzung (§ 130 StGB) Stellung genommen.Vorgworfen worden ist dem Angeklagten, einem Pastor, ein Eheseminar vor etwa 30 Ehepaaren in seiner Gemeinde gehalten und die Audio-Datei des Eheseminars auf einer Internetplattform online eingestellt habe, wobei er sich wie folgt über Gender und Homosexuelle geäußert habe:

„Der ganze Genderdreck ist ein Angriff auf Gottes Schöpfungsordnung, ist zutiefst teuflisch und satanisch.“

„Ich komme nochmal später drauf, Homosexualität, dass das alles Degenerationsformen von Gesellschaft sind, die ihre Ursache darin haben, in der Gottlosigkeit.“

„Diese Homo-Lobby, dieses teuflische, kommt immer stärker, immer massiver, drängt immer mehr hinein. Das ist so sukzessive, die fressen immer ein Ding, immer mehr weg.“

„Echt, überall laufen diese Verbrecher rum, von diesem Christopher-Street-Day.“

Das AG hat den Pastor zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Das LG hat das Urteil aufgehoben und den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen.Wegen weiterer tatsächlicher Feststellungen verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Das LG hat seine Entscheidung, dass der Angeklagte aus rechtlichen Gründen freizusprechen war, auf den Grundsatz der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gestützt, dass in Bezug auf Äußerungsdelikte eine Strafbarkeit bei mehrdeutigen Äußerungen nur angenommen werden kann, wenn andere straflose Deutungsmöglichkeiten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen sind. Unter Berücksichtigung des Schutzes des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG hat das LG hinsichtlich sämtlicher der dem Angeklagten vorgeworfenen Äußerungen angenommen, dass bei einer umfassenden Gesamtwürdigung ihres Inhalts und des inhaltlichen und situativen Kontextes der Tatbestand einer Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 StGB nicht erfüllt sei, da solche naheliegenden straflosen Auslegungsvarianten bestünden und jedenfalls nicht mit einer tragfähigen Begründung auszuschließen seien. Bezüglich der Äußerung „Verbrecher von diesem Christopher Street Day“ hat das LG zudem bereits verneint, dass damit ein abgrenzbarer Bevölkerungsteil im Sinne des § 130 Abs. 1 StGB bezeichnet würde.

Das sieht das OLG anders und hat den Freispruch aufgehoben und zurückverwiesen. Ich stelle hier jetzt nicht die gesamte Begründung des OLG ein, sondern beschränke mich auf die (amtlichen) Leitsätze, nämlich:

    1. Auch bei religiös motivierten Äußerungen muss der Schutz aus den Grundrechten der Religionsfreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit zwingend zurücktreten, wenn durch diese Äußerungen die Menschenwürde anderer angegriffen wird, da die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist (Anschluss an BVerfGE 93, 266).
    2. Die aktiven Teilnehmer der Christopher Street Day-Umzüge können als abgrenzbarer Teil der Bevölkerung im Sinne des § 130 Abs. 1 StGB Angriffsobjekt einer Volksverhetzung sein.
    3. Bei Meinungsäußerungsdelikten müssen die Urteilsgründe, um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung der Entscheidung des Tatgerichts zu ermöglichen, den festgestellten konkreten Wortlaut der vorgeworfenen Äußerung wiedergeben, da dieser den Ausgangspunkt für deren Auslegung darstellt. Dieses Erfordernis der Wiedergabe des konkreten Wortlauts gilt auch für Äußerungen im Kontext der vorgeworfenen Äußerung, wenn das Tatgericht diese Kontextpassagen für die Auslegung der vorgeworfenen Äußerung heranzieht oder wenn es nach dem vom Tatgericht wiedergegebenen Gehalt dieser Passagen nahegelegen hätte, auch diese Passagen hierzu heranzuziehen.

U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz nach Urteil, oder: Fehler bei der Protokollerstellung

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Heute dann der zweite „Hafttag“ in 2023, also noch einmal drei Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Untersuchungshaftfragen, insbesondere zum Beschleunigungsgrundsatz bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Haft wegen der Vorwurfs eines BtM-Delikts. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- EUR angeordnet. Der weitere Vollzug der U-Haft wurde angeordnet.

Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt. Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben. Das hat die Kammer abgelehnt. Dagegen dann die Beschwerde zum OLG, die keinen Erfolg hatte. Das OLG hat seine Entscheidung umfassend begründet. Das hier im Einzelnen einzustellen, würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich also auf die Leitsätze, die lauten:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.

2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.

3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.

4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.

Rest dann bitte im verlinkten Volltext lesen.

Unterbringung II: Entlassung aus der Unterbringung, oder: Anhörung in Form der Videokonferenz zulässig?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den OLG Bremen, Beschl. v. 26.04.2022 – 1 Ws 32/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Zulässigkeit der Anhörung eines Verurteilten im Wege der Bild- und Tonübertragung nach § 463e Abs. 1 Satz 3 StPO bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

Der Verurteilte ist nach § 63 StGB untergebracht. Im Verfahren wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige sah eine Vollzugsaussetzung zum derzeitigen Zeitpunkt als verfrüht an. Der Untergebrachte wurde daraufhin zunächst am 26.10.2021 durch die StVK  angehört; der Sachverständige, auf dessen Anhörung der Untergebrachte nicht verzichtet hatte, wurde zu dem Anhörungstermin per Videokonferenz hinzugeschaltet. Es wurde eine ergänzende schriftliche Stellungnahme eingeholt. Am 14.02.2022 wurde der Untergebrachte per Videokonferenz unter Teilnahme seiner Verfahrensbevollmächtigten und des Sachverständigen erneut angehört. Nach dem Protokollvermerk zur Anhörung erklärten sich alle Beteiligten mit deren Durchführung im Wege der Videokonferenz einverstanden. Die Entlassung wurde dann abgelehnt.

Dagegen die sofortige Beschwerde des Untergebrachten, die Erfolg hatte:

„Mit dem angefochtenen Beschluss vom 15.02.2022 hat die Strafkammer 70 des Landgerichts Bremen als Große Strafvollstreckungskammer im Rahmen der nach § 67e Abs. 1 und 2 StGB gebotenen periodischen Überprüfung während der Vollstreckung einer Unterbringung deren Fortdauer angeordnet und damit zugleich eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 S. 1 StGB wie auch deren Erledigterklärung nach § 67d Abs. 6 S. 1 StGB abgelehnt. Der angefochtene Beschluss des Landgerichts war aufzuheben, da die Entscheidung der Großen Strafvollstreckungskammer an dem Verfahrensfehler einer nicht ordnungsgemäß erfolgten mündlichen Anhörung des Betroffenen leidet, da die mündliche Anhörung nicht in persönlicher Anwesenheit der Beteiligten durchgeführt wurde, sondern im Wege einer Videokonferenz. Dies ist nach der seit dem 01.07.2021 geltenden Neuregelung des § 463e StPO im Fall der Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus grundsätzlich ausgeschlossen und auch nicht bei Vorliegen einer Zustimmung des Untergebrachten zulässig (siehe unter 2.) und es ist vorliegend kein Grund ersichtlich, wonach ausnahmsweise von der demnach erforderlichen Durchführung der mündlichen Anhörung in persönlicher Anwesenheit der Beteiligten abgesehen werden durfte (siehe unter 3.).“

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung verweise ich dann auf den verlinkten Volltext. Hier nur noch die Leitsätze der Entscheidung:

    1. In Fällen der Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist mit der Neuregelung des § 463e Abs. 1 S. 3 StPO seit dem 1. Juli 2021 die Durchführung einer mündlichen Anhörung im Wege einer Videokonferenz grundsätzlich ausgeschlossen.
    2. Der Ausschluss der Durchführung einer mündlichen Anhörung im Wege einer Videokonferenz nach § 463e Abs. 1 S. 3 StPO gilt auch dann, wenn der Untergebrachte dieser Form der Anhörung zugestimmt hat.
    3. Die Durchführung einer mündlichen Anhörung im Wege einer Videokonferenz kann ungeachtet des § 463e Abs. 1 S. 3 StPO auch in den dort geregelten Fällen im Interesse bestmöglicher Sachaufklärung ausnahmsweise dann zulässig bleiben, wenn eine Anhörung in persönlicher Anwesenheit des Untergebrachten nicht erfolgen kann, stattdessen aber zumindest eine Anhörung unter Einsatz von Videokonferenztechnik möglich ist. Eine solche Ausnahme kann aber nicht bereits mit Erwägungen des Infektionsschutzes in Pandemiezeiten, mit der Vermeidung von Flucht- und sonstigen Sicherheitsrisiken für den Fall einer persönlichen Anhörung oder mit dem Ziel einer effizienteren Verfahrensgestaltung begründet werden.
    4. Die Neuregelung des § 463e StPO ändert nichts daran, dass weiterhin in Ausnahmefällen auch bei Entscheidungen über die Fortdauer einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik eine Anhörung durch den beauftragten Richter zulässig sein kann.

Manipulierter Unfall – ein Hauch von Strafrecht, oder: Welche Indizien sprechen gegen einen Unfall?

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Heute im „Kessel Buntes“ zwei zivilrechtliche Entscheidungen, und zwar beide zum Schadensersatz nach (angenommenen) Manipulationen. Über solchen Entscheidungen liegt ja immer auch ein Hauch von Strafrecht 🙂 . Die damit zusammenhängenden Fragen, vor allem die der Unfallmanipulation, haben die Rechtsprechung früher häufiger beschäftigt. In der letzten Zeit tauchen sie m.E. nicht mehr so häufig auf. Beide Entscheidungen befassen sich mit der Beweiswürdigung. I.d.R. liegt hier immer der Schwerpunkt der entsprechenden Entscheidungen.

Zunächst stelle ich den OLG Bremen, Beschl. v. 01.07.2022 – 1 U 24/22 – zu einer Unfallmanipulation vor. Es handelt sich um einen gem. § 522 ZPO ergangenen Beschluss. Das LG hatte die Schadensersatzklage abgewiesen. Dagegen dann die Berufung des Klägers. Das OLG arbeitet sich in seinem Hinweisbeschluss minutiös an der landgerichtlichen Beweiswürdigung, die ein zum Schadensersatz führendes Unfallereignis verneint hatte, ab:

„2. Das Landgericht ist im vorliegenden Fall aufgrund einer zutreffenden Gesamtwürdigung der für und gegen die Annahme eines manipulierten Unfallgeschehens sprechenden Umstände auf der Grundlage der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme zu der Überzeugung gekommen, dass ein manipuliertes Unfallgeschehen vorgelegen hat.

a) Diese Tatsachenfeststellungen des Gerichts des ersten Rechtszuges hat nach § 529 Nr. 1 ZPO auch das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Solche Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO können sich grundsätzlich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2005 – VIII ZR 266/03, juris Rn. 7, BGHZ 162, 313; Urteil vom 29.06.2016 – VIII ZR 191/15, juris Rn. 26, NJW 2016, 3015). Das Berufungsgericht ist demnach zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet, wenn aus der für dieses Gericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird (vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2016 – VI ZR 403/14, juris Rn. 11, VersR 2016, 1194). Hält es das Berufungsgericht es für denkbar, dass die von der Berufung aufgeworfenen Fragen zu einer anderen Würdigung führen können, besteht Anlass für die Überlegung, ob für die andere Würdigung zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht und deshalb Anlass zu einer Wiederholung der Beweisaufnahme besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, juris Rn. 24, NJW-RR 2017, 75).

b) Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben: Für eine abweichende Würdigung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme besteht keine solche Wahrscheinlichkeit und daher ist auch ein Anlass zu einer Wiederholung oder zu einer Ergänzung der Beweisaufnahme um weitere Feststellungen nicht gegeben. Die Würdigung und Berücksichtigung der für und gegen eine Unfallmanipulation sprechenden Indizien ist im angefochtenen Urteil im Einklang mit den Grundsätzen der obergerichtlichen Rechtsprechung hierzu erfolgt (siehe hierzu die Rechtsprechung des Senats in Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 08.03.2021 – 1 U 48/20, juris Rn. 26 ff. m.w.N.) und die hiergegen erhobenen Angriffe der Berufung sind nicht durchschlagend.

c) Hierzu ist zunächst festzustellen, dass diejenigen vom Landgericht als Indizien für die Annahme einer Unfallmanipulation angesehenen Umstände, gegen die sich die Berufung nicht wendet, auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats in diesem Sinne bewertet wurden: Dies betrifft namentlich die Beteiligung eines Pkw der Oberklasse auf der Klägerseite; die Suggestion einer eindeutigen Haftungslage nach dem geschilderten Unfallgeschehen; die fiktive Abrechnung; die Beteiligung eines Miet-Fahrzeugs auf Verursacherseite, welches dort keinen relevanten Vermögensschaden entstehen lässt; das sofortige Schuldeingeständnis des Schädigers gegenüber der Polizei; die wiederholte Verwicklung des Zeugen pp. in Unfälle mit Mietwagen und eine fehlende plausible Erklärung des Zeugen pp. dafür, mehrere Unfälle mit angemieteten Fahrzeugen verursacht zu haben; sowie die fehlende Anwesenheit des Klägers am Unfallort (siehe hierzu sowie zu den nachstehenden Punkten jeweils die Rechtsprechung des Senats in Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Ergänzend zu den vom Landgericht berücksichtigten Umständen wären im Übrigen auch noch weitere Indizien zugunsten der Annahme einer Unfallmanipulation zu bewerten gewesen, namentlich die nur kurze Zulassungszeit des Geschädigtenfahrzeugs erst kurz vor dem Unfallereignis, dessen Wertminderung durch eine vergleichsweise hohe Laufleistung und die Schadensnatur in Form von seitlichen Schrammschäden.

d) Auch soweit der Kläger einzelne Rügen gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts vornimmt, erweisen sich diese nicht als durchgreifen. Dies gilt zunächst für die Rüge, dass das Landgericht den Umstand nicht berücksichtigt habe, dass im vorliegenden Fall die Polizei eingeschaltet worden sei, was gegen die Annahme einer Unfallmanipulation spreche. Hierbei handelt es sich vielmehr um einen neutralen Umstand; die Hinzuziehung der Polizei muss nicht notwendigerweise der Annahme einer Unfallmanipulation entgegenstehen, insbesondere wenn dies mit einer gegenüber den Polizeibeamten suggerierten eindeutigen Unfallverursachung oder einer klaren Verantwortungsübernahme des vermeintlichen Schädigers einhergeht.

e) Soweit der Kläger weiter rügt, dass das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass das Geschehen sich gegen 22.50 Uhr auf der pp. zugetragen haben soll, die zu dieser Zeit stark frequentiert sei, vermag auch dies keine Zweifel an den Tatsachenfeststellungen des Landgerichts zu begründen. Gegen die Annahme eines gestellten Unfallgeschehens würde es sprechen, wenn bei einem Unfall, der nach Örtlichkeit und Uhrzeit des Geschehens das Vorhandensein solcher Zeugen erwarten lässt, von den Parteien auch tatsächlich solche neutrale Zeugen benannt worden wären, was vorliegend aber gerade nicht der Fall war.

f) Der Kläger kann der Beweiswürdigung des Landgerichts auch nicht durchgreifend entgegenhalten, dass der Kläger bzw. der Zeuge pp. nicht mit dem Zeugen pp. bekannt sei. Der fehlende Nachweis einer Bekanntschaft stellt für sich genommen kein gegen die Annahme einer Unfallmanipulation sprechendes Indiz dar, sondern ist ein lediglich neutraler Umstand, zumal Unfallmanipulationen auch ohne eine direkte Bekanntschaft zwischen den Beteiligten über Dritte organisiert werden können.

g) Zweifel gegenüber der Beweiswürdigung des Landgerichts zeigt der Kläger auch nicht mit seinem Vorbringen auf, dass der Zeuge pp. eine nachvollziehbare Schilderung des Unfalls gegeben und auch eine plausible Erklärung für seine Anwesenheit am Unfallort geboten habe, indem er darauf verwiesen habe, dass er sich am Unfalltag im nördlichen Teil von Bremen aufgehalten und dort ein Date mit einem Bekannten gehabt habe, mit dem er zuvor nur flüchtig geschrieben habe, und dass sich dieses nachher dann verlaufen habe. Die Beschreibung der Umstände der Anwesenheit am Unfallort bleibt damit weiterhin in höchstem Maße vage – insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine wegen des Unfallgeschehens eine genauere Erinnerung zu erwarten gewesen wäre. Auch ist festzustellen, dass nicht nachvollziehbar ist, warum sich der aus dem nördlichen Teil von Bremen kommende Zeuge auf seiner Heimfahrt nach pp. auf der pp. in Höhe pp. befunden haben sollte, um dort – wie er in seiner schriftlichen Unfallanzeige angegeben hat – die Abfahrt nehmen zu wollen.

h) Ebenso begründet es keine Zweifel gegenüber der Beweiswürdigung des Landgerichts, wenn der Kläger vorbringt, dass der Zeuge pp. zwar nur eine vage Unfallschilderung gegeben und er sich nicht mehr daran zu erinnern vermocht habe, warum er am Unfallort gewesen sei, dass aber seine Aussage dadurch beeinflusst gewesen sei, dass er an Klaustrophobie leide. Dafür, dass aus diesen Gründen dem Zeugen eine Aussage nur erschwert möglich gewesen wäre, bietet das richterliche Protokoll seiner Vernehmung keinerlei Anhaltspunkte. Auch seitens des Klägers ist dieser Umstand erstinstanzlich nicht gerügt worden, weswegen er mit diesem Vorbringen in der Berufungsinstanz nicht mehr zu hören ist, §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO, zumal auch dem Berufungsvorbringen des Klägers nicht eine plausible Erklärung dafür zu entnehmen ist, weswegen sich der Zeuge pp. am Unfallort befunden haben soll. Daher bedarf es auch nicht der Einholung der hierzu angebotenen Beweise.

i) Ferner kann der Kläger der Beweiswürdigung des Landgerichts auch nicht durchgreifend entgegenhalten, das klägerische Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt vollkaskoversichert gewesen sei, dass weder der Kläger noch der Zeuge pp. bislang in Vorunfälle verwickelt gewesen sei, dass der Kläger in geordneten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen lebe, einen festen Wohnsitz mit jederzeitiger Erreichbarkeit unterhalte und nicht vorbestraft sei Hierbei handelt es sich vielmehr um neutrale Umstände. Auch eine günstige finanzielle Situation eines Beteiligten ist nicht als Indiz gegen die Annahme einer Unfallmanipulation zu werten, da die Lebenserfahrung nicht belegt, dass Versicherungsbetrug ein in wohlhabenden Kreisen weniger übliches Vergehen darstellen würde.

j) Auch die weitere Rüge des Klägers erweist sich nicht als durchschlagend gegenüber der Beweiswürdigung, dass aus technischer Sicht keine Bedenken gegen den klägerseits behaupteten Unfallablauf bestünden und dass nicht nachgewiesen sei, dass die Leitplanke tatsächlich nicht beschädigt worden sei. Dabei ist zutreffend, dass die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Unfallgeschehens ein Indiz darstellt, dass gegen die Annahme einer Unfallmanipulation spricht. Hierbei handelt es sich aber lediglich um ein einzelnes Indiz, welches die Annahme einer Unfallmanipulation nicht ausschließt, sondern welches lediglich in die Gesamtwürdigung einzustellen ist. Nach Bewertung des Senats ist auch unter Berücksichtigung dieses Umstands aber davon auszugehen, dass die Vielzahl der einzelnen für die Annahme einer Unfallmanipulation sprechenden Umstände weiterhin die Überzeugungsbildung trägt, dass im vorliegenden Fall das vermeintliche Unfallgeschehen auf einer Manipulation beruht. Dabei bedarf es auch keiner ergänzenden Befragung des Sachverständigen zur Frage der Plausibilität und Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens: Es kann vielmehr unterstellt werden, dass sich hieraus ergeben würde, dass das Unfallgeschehen nach der Darstellung des Klägers tatsächlich plausibel ist und dass bei einem entsprechenden Hergang, wenn er nicht durch Manipulation eingeleitet worden wäre, eine Vermeidbarkeit nicht gegeben wäre. Ungeachtet dessen würde das Indiz der Plausibilität und Nachvollziehbarkeit eine anderweitige Bewertung in der Gesamtwürdigung nicht tragen.

k) Dasselbe gilt sodann für die Rüge, dass das Landgericht den Umstand nicht korrekt in die Gesamtwürdigung einbezogen habe, dass eine nicht unerhebliche Gefahr von Verletzung der beteiligten Fahrer bestanden habe und dass sich aus einer ergänzenden Befragung ergeben hätte, dass bei dem Unfallgeschehen ein noch schwerwiegenderes Verletzungsrisiko der beteiligten Fahrzeugführer bestanden hätte als zunächst angenommen. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass ein typisches Indiz, das gegen die Annahme eines gestellten Unfallgeschehens spricht, der Umstand ist, dass bei dem Unfall eine konkrete erhebliche Verletzungsgefahr bestand. Dies gilt aber vor allem dann, wenn diese Verletzungsgefahr nicht lediglich als unbeabsichtigte Nebenfolge eines nicht wie geplant verlaufenen gestellten Unfallgeschehens entstanden ist, sondern vielmehr nach der Art der Kollision ohne weiteres zu befürchten war. Letzteres ist auch vom Kläger nicht behauptet. Insgesamt verbliebe es im Ergebnis auch insoweit dabei, dass nach Bewertung des Senats auch unter Berücksichtigung dieses Umstands davon auszugehen bliebe, dass die Vielzahl der weiteren anderen für die Annahme einer Unfallmanipulation sprechenden Umstände weiterhin die Überzeugungsbildung tragen, dass im vorliegenden Fall das vermeintliche Unfallgeschehen auf einer Manipulation beruht. Dabei bedarf es auch keiner ergänzenden Befragung des Sachverständigen zur Frage des Verletzungsrisikos im Rahmen des Unfallgeschehens: Auch wenn sich hieraus ein gesteigertes Verletzungsrisiko für den Fall des Reifenschadens mit vollständigem Druckverlust oder einem Achsschaden ergeben würde, ist bereits nichts dazu vorgetragen, dass diese Verletzungsgefahr als ohne weiteres zu erwartende Kollisionsfolge anzusehen wäre, so dass dieses Indiz im vorliegenden Fall eine anderweitige Bewertung in der Gesamtwürdigung nicht tragen würde.

l) Soweit der Kläger schließlich rügt, dass sich die Beweiswürdigung fehlerhaft lediglich in der bloßen Addition von Umständen erschöpfe, bei der auch entlastende Umstände nicht berücksichtigt worden seien, kann auch dies Zweifel an der Beweiswürdigung des Landgerichts im vorstehenden Sinne nicht begründen. Wie vorstehend ausgeführt, begründen die vom Kläger vorgebrachten entlastenden Umstände keine anderweitige Bewertung. Das Landgericht hat erkennbar die wesentlichen Umstände berücksichtigt und es hat erkennen lassen, welche Umstände es für seine Überzeugungsbildung als maßgeblich ansieht, dies genügt den Anforderungen an die Führung des Indizienbeweises.“