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StPO I: Akteneinsicht der Verletzten/Nebenklägerin, oder: Wann ist der Untersuchungszweck gefährdet?

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Und heute am letzten Oktobertag – hier in Niedersachsen ist Feiertag – ein wenig StPO.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2023 – 1 Ws 141/23 – zur Akteneinsicht des Verletzten. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeschuldigten vorgeworfen wird, zum Nachteil der Nebenklägerin im Zeitraum vom Januar 2019 bis Ende November 2019 in zehn Fällen eine Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, begangen zu haben. Bei der Geschädigten handelt es sich um die Ehefrau des Angeschuldigten. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Die Geschädigte hat ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt. Das Amtsgericht hat ihr gem. § 406h StPO einen Verletztenbeistand bestellt. Der hat Akteneinsicht beantragt. Die als Verletztenbeistand tätige Rechtsanwältin hat erklärt, sie werde nach Absprache mit der Verletzten dieser weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis geben. Akteneinsicht ist bewilligt worden, allerdings ist deren tatsächliche Gewährung für den Fall der Beschwerdeerhebung bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichtes zurückgestellt worden. Über die Beschwerde hat nun das OLG entschieden. Sie hatte in der Sache keinen Erfolg:

„a) Die Verletzte hat gemäß § 406 e Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten, denn es liegt ein in § 395 StPO genannter Fall vor. Die Verletzte ist laut der Anklage vom 13. April 2023 durch rechtswidrige Taten nach §§ 177 und 223 StGB verletzt, so dass sie sich nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen kann. Es steht lediglich die Entscheidung des Gerichtes über die Befugnis zum Anschluss aus.

b) Es ist nicht zu beanstanden, dass der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer die beantragte Akteneinsicht gewährt und nicht nach § 406 e Abs. 2 StPO abgelehnt hat.

aa) Nach § 406 e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Vorliegend sind bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der Erhebung der öffentlichen Klage ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem Interesse der mutmaßlichen Verletzten und künftigen Nebenklägerin, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeschuldigten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; der den Angeschuldigten betreffende Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält einige Eintragungen bezüglich Vorstrafen sowie Suchvermerke, allerdings wird er ohnehin im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens Gegenstand der mündlichen Erörterung in der Hauptverhandlung. Soweit Zeugen genannt sind, enthält die Akte keine sensiblen Daten, die über die Schilderung der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Straftaten hinausgehen.

bb) Ein Versagungsgrund nach § 406 e Abs. 2 Satz 2 StPO besteht ebenso wenig. Nach dieser Vorschrift kann dem Berechtigten die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann angenommen werden, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Verteidiger insbesondere im Hinblick auf das erstellte aussagepsychologische Gutachten geltend gemacht – die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG, NStZ 2016, 438; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629). Allein die Rolle der Verletzten als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. Beschluss des Senates vom 06. Juli 2020, Az.: 1 Ws 81/20; Hanseatisches OLG Hamburg, NStZ 2015, 105). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH, NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Verletztenbeistand die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Verletzten stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406 d f. StPO entzogen (vgl. BGH, a.a.O.; der Senat a.a.O.; KG, NStZ 2016, 438; KG, Beschluss vom 21. November 2018, Az.: 3 Ws 278/18, juris; OLG Düsseldorf, StV 1991, 202).

Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagekonstellation erscheint die Annahme eines geringen Grades der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung angesichts der von der als Verletzenbeistand tätigen Rechtsanwältin abgegebenen Zusicherung, ihrer Mandantin weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung zu stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis zu geben, und der möglichen Vernehmung der Verletzten als Zeugin zu dieser Frage nicht ermessensfehlerhaft (vgl. der Senat a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.). Der Senat geht davon aus, dass Rechtsanwältin („Name 02“) als erfahrene Vertreterin der Nebenklage mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten, und infolgedessen auch bemüht sein wird, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantin nicht zu reduzieren.

Zwar ist dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen, dass die Einhaltung einer solchen Zusage weder erzwungen noch sanktioniert werden könnte. Die Einhaltung der Verzichtserklärung ist indes für das Tatgericht überprüfbar. Denn es kann und muss die Verletzte als Zeugin befragen. Anders als der Angeschuldigte, später möglicherweise der Angeklagte, ist die Verletzte und künftige Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer erheblichen Strafe rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand der aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere des erstellten aussagepsychologischen Gutachtens dürfte einer erfahrenen Vernehmungsperson, zu denen Strafrichter zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben. Die mögliche Aktenkenntnis der künftigen Zeugin kann hiernach bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH, NJW 2005, 1519). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Verletzten wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.

c) Eine Versagung der Akteneinsicht nach § 406 e Abs. 2 Satz 3 StPO wegen drohender erheblicher Verfahrensverzögerung kommt ersichtlich nicht in Betracht.“

Einstellung wegen Todes im Berufungsverfahren, oder: Mit endgültiger Verurteilung war zu rechnen

Ich komme dann heute im zweiten Posting noch einmal auf den OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.09.2023 – 1 Ws 96/23 – zurück. Über den hatte ich ja gestern schon berichtet (siehe hier:  Pflichti III: Rechtsmittel nach dem Tod des Angeklagten, oder: „Pflichti“-Bestellung“ gilt über den Tod hinaus). Heute geht eum die Erstattungsproblematik.

Das AG hatte den Angeklagten verurteilt. Zu den Tatvorwürfen hatte sich der Angeklagte teilweise geständig eingelassen. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte Berufung ein. Nach Ladung des Angeklagten durch das LG meldete sich ein Rechtsanwalt als Verteidiger, beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO und gab an, dass der Angeklagte an einer Depression sowie einer nicht näher bezeichneten Persönlichkeitsstörung leide. Zudem teilte der Verteidiger telefonisch mit, dass sich der Angeklagte in einem Klinikum befände und bei ihm eine schizophrene Erkrankung wohl diagnostiziert werden würde. Es stelle sich möglicherweise die Frage der verminderten Schuldfähigkeit.

Der Rechtsanwalt beantragte sodann, den terminierten Hauptverhandlungstermin aufzuheben und das Verfahren nach § 153a StPO einzustellen. Es bestünden Zweifel an der Verhandlungs- und möglicherweise der Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit. Ein ärztliches Attest, ausgestellt durch das Klinikum zur Verhandlungsunfähigkeit wurde beigefügt. Eine Diagnose beinhaltete die ärztliche Bescheinigung nicht. Das LG hat dann Begutachtung des Angeklagten auf seine Verhandlungs- und Reisefähigkeit in Auftrag gegeben.

Nachdem der Angeklagte im Anschluss daran verstorben war, hat das LG das Verfahren auf Kosten der Landeskasse gemäß § 206a StPO eingestellt. Es hat ausdrücklich von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des früheren Angeklagten auf die Landeskasse abgesehen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Pflichtverteidigers war zwar zulaässig – siehe das gestrige Posting – hatte aber in der Sache keinen Erfolg:

„2. Die sofortige Beschwerde ist jedoch unbegründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme vom 13. Juli 2023 Folgendes ausgeführt:

„Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des verstorbenen Angeklagten auf die Landeskasse abgesehen.

Wann die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben sind, ist in der Rechtsprechung umstritten (vgl. dazu Brandenburgisches Oberlandesgericht a.a.O.). Die Frage kann jedoch offen gelassen werden, da auch nach der engen Auffassung, welche die Durchführung der Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife verlangt, der Anwendungsbereich der Vorschrift eröffnet ist. Das Amtsgericht ist hier nach durchgeführter Hauptverhandlung bereits erstinstanzlich zu einem Schuldspruch des Angeklagten gekommen.

Im Falle der Fortsetzung des Berufungsverfahrens hätte der frühere Angeklagte damit rechnen müssen, dass sein Rechtsmittel verworfen worden wäre. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils bilden eine tragfähige Grundlage für den Schuldspruch und die Rechtsfolgenentscheidung. Rechtsfehler, die zu einer anderen Entscheidung und letztlich zum Freispruch des Angeklagten insgesamt oder einer erheblich milderen Bestrafung und damit zu einer für ihn ganz oder teilweise günstigen Auslagenentscheidung hätten führen können, sind nicht ersichtlich.

Die lediglich ohne ärztliche Unterlagen behauptete psychische Erkrankung des Angeklagten, nämlich einer Depression und einer nicht näher bezeichneten Persönlichkeitsstörung, würden nach Aktenlage nicht zu einer Aufhebung oder Verminderung der Schuldfähigkeit führen. Es fehlt auch an hinreichenden Anknüpfungstatsachen dafür, dass der Angeklagte bereits zur Tatzeit im August 2020 und Januar 2021 derart krankheitsbedingt eingeschränkt war, dass die Anwendung der §§ 20, 21 StGB in Betracht käme. Erstmalig vorgetragen wurden die Krankheitsanzeichen mit Schreiben vom 16.05.2022. Das vom Amtsgericht festgestellte Tatgeschehen und das Einlassungsverhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung sprechen ebenfalls gegen eine Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit.

Das Landgericht hätte die Anwendung des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO im Beschluss begründen müssen (§ 34 StPO).

Eine Zurückverweisung der Sache an das untere Gericht ist trotz der fehlenden Begründung jedoch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 17.04.1996 – 2 Ws 50/96), welche hier nicht ersichtlich sind. Weitere Sachaufklärung ist durch den Tod des Angeklagten nicht möglich.“

Der Senat schließt sich diesen Ausführungen, die der Sach- und Rechtslage entsprechen, an.“

Pflichti III: Rechtsmittel nach dem Tod des Angeklagten, oder: „Pflichti“-Bestellung“ gilt über den Tod hinaus

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Und dann noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.09.2023 – 1 Ws 96/23 – zur Frage, ob die Rechtsmittelbefugnis des (Pflicht)Verteidigers über den Tod des Angeklagten hinaus gilt.

Nach dem Sachverhalt hatte das AG den Angeklagten verurteilt. Dem war ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet. Im Berufungsverfahren verstirbt dann der Angeklagte. Das LG stellt das Verfahren auf Kosten der Landeskasse gemäß § 206a StPO ein. Es sieht ausdrücklich von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des früheren Angeklagten auf die Landeskasse abgesehen. In der entscheidung über die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Pflichtverteidigers nimmt das OLG auch zu dessen Rechtsmittelbefugnis nach dem Tod des Angeklagten Stellung:

„Die Frage, ob der Verteidiger im Falle des Todes des Angeklagten weiterhin zur Einlegung von Rechtsmitteln befugt ist, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung inzwischen überwiegend bejaht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 03.05.2011- 2 Ws 1/11-; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 246; OLG Celle NJW 2002, 3720; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 286; KG NStZ-RR 2008, 295; OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. März 2010, Az.: 1 Ws 113/10, zitiert nach juris; Meyer-Goßner, StPO, 66. Aufl., Vor § 137 Rn. 7). Zur Begründung wird vor allem angeführt, dass zwischen dem Verteidiger und dem Mandanten ein Geschäftsbesorgungsvertrag im Sinne des § 675 BGB besteht. Auf diesen findet § 672 BGB, wonach der Auftrag im Zweifel nicht durch den Tod des Auftraggebers endet, entsprechende Anwendung. Dasselbe gilt – wie hier – im Fall der Pflichtverteidigung (vgl. KG StraFo 2008, 90; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 296; a.A. Hanseatisches Oberlandesgericht, NStZ-RR 2008, 160). Die Pflichtverteidigerbestellung endet im Erkenntnisverfahren grundsätzlich mit dessen rechtskräftigem Abschluss (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 143 Rn. 1 ; KK-Willnow, StPO 9. Aufl., § 143 Rdn. 1, jeweils m.w.N.). Durch den Tod des Angeklagten wird das Verfahren nicht ohne weiteres beendet. Es bedarf dazu vielmehr einer förmlichen Einstellung nach § 206a StPO oder – in der Hauptverhandlung – nach § 260 Abs. 3 StPO (vgl. BGHSt 45, 108). Mit dieser Entscheidung ist zugleich gemäß § 464 StPO auch darüber zu befinden, wer die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des (verstorbenen) Angeklagten zu tragen hat. Insoweit bleibt das Verfahren auch nach dem Tod des Angeklagten anhängig (vgl. BGH aaO). Ebenso wie die Einstellung selbst unterliegen auch die Nebenentscheidungen der Anfechtung (§§ 206 Abs. 2, 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO). Erst mit ihrer Rechtskraft ist das Verfahren endgültig abgeschlossen. Der Pflichtverteidiger muss daher – wie die Staatsanwaltschaft – befugt sein, auch nach dem Tod des Angeklagten auf eine gesetzmäßige Kosten- und Auslagenentscheidungen hinzuwirken und diese erforderlichenfalls durch das Beschwerdegericht überprüfen zu lassen (vgl. OLG Karlsruhe aaO.; KG Berlin, Beschluss vom 14. November 2007 – 1 AR 447/051 Ws 235/07 –, Rn. 6, juris).“

Vereinsrecht II: Verlust der Gemeinnützigkeit??? oder: Kein „actio pro socio“ des Vereinsmitglieds“

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Brandenburg, Urt. v. 11.05.2023 – 5 U 38/23 – wird um den Erlass einer einstweiligen Verfügung gekämpft. Und zwar verlangen die Kläger (Vereinsmitglieder) verlangen von dem Verfügungsbeklagten (dem Verein) im Wege der einstweiligen Verfügung, den Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit der angestellten Geschäftsführerin zu unterlassen, weil sie hierin die Gemeinnützigkeit des Beklagten sowie in der Folge auch ihre Gemeinnützigkeit gefährdet sehen.

Nach dem Sachverhalt beabsichtigten der Vorstand des Beklagten und Frau B. im Herbst 2022, den Geschäftsführervertrag mit dieser vorzeitig zu beenden. Hierzu war zunächst eine Verkürzung der restlichen Vertragslaufzeit bis zum 31.12.2023 gegen Freistellung von der Dienstleistung bei gleichzeitiger Zahlung von Gehaltsbestandteilen beabsichtigt. Hiermit befasste sich der Vorstand des Beklagten zunächst auf seiner Sitzung vom 3.11.2022 und fasste am 23.11.2022 einen dahingehenden Beschluss, den er am 12.12.2022 nochmals bestätigte.

Am 21.12.2022 erklärten die Kläger zu 1, 3 und 4 den Austritt aus dem Beklagten. Auf Antrag des Beklagten vom 29.12.2022 erteilte das Finanzamt Potsdam dem Beklagten am 14. März 2023 die verbindliche Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO, dass es der Auffassung zustimme, die Vergütungsfortzahlung im Sinne der im Antrag gestellten Regelung bei Freistellung sei nicht gemeinnützigkeitsschädlich. Grundlage der Anfrage war der Entwurf einer Beendigungsvereinbarung mit einer Restlaufzeit unter Freistellung von 6 Monaten ab Zugang der Auskunft des Finanzamts.

Das LG hat dem Beklagten bei Androhung von Ordnungsmitteln untersagt, an Frau A. B. für Zeiträume ab dem 01.01.2023 Zahlungen auf Vergütungen, Nebenleistungen, sonstige Leistungen mit steuerwerten Vorteilen und Abfindungen zu leisten und sie gleichzeitig von arbeits- oder dienstrechtlichen Verpflichtungen freizustellen, oder mit ihr einen Vertrag abzuschließen, mit dem sich der Beklagte hierzu verpflichtet. Dagegen hat der Beklagte Berufung eingelegt, die beim OLG ERfolg hatte:

„Die Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 517, 519, 520 ZPO). Sie hat in der Sache Erfolg.

Jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt, dem Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, haben die Berufungsbeklagten weder einen Verfügungsanspruch noch einen Verfügungsgrund hinreichend schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht.

1. Einen Anspruch der Kläger, von dem Beklagten zu verlangen, den beabsichtigten Aufhebungsvertrag mit der Geschäftsführerin B. nicht abzuschließen, haben die Kläger nicht schlüssig dargelegt.

a) Grundsätzlich obliegt der Abschluss des (Aufhebungs-)Vertrages dem Vorstand im Rahmen seiner Geschäftsführung (§ 27 Abs. 3 BGB) mit Vertretungsmacht für den Verein (§ 26 BGB). Grundsätzlich besteht Gleichlauf zwischen Vertretungsmacht und Geschäftsführungsbefugnis. Die Satzung kann aber die Geschäftsführungsbefugnis so ausgestalten, dass sie hinter der Vertretungsmacht zurückbleibt. Dann ist ein Vorstandsverhalten, das von der Geschäftsführungsbefugnis nicht gedeckt ist, zwar eine wirksame Vertretungshandlung, im Innenverhältnis jedoch eine pflichtwidrige Geschäftsführungsmaßnahme (BeckOK/Schöpflin BGB § 27 Rn. 19).

Die Geschäftsführung des Vorstands für den Verein richtet sich nach den Vorschriften des Auftrags (§§ 27 Abs. 3, 664 bis 670 BGB). Im Verhältnis zum Vorstand ist der Verein durch seine Mitgliederversammlung als Geschäftsherr anzusehen. Wie beim Auftrag kann der Geschäftsherr Weisungen an den Vorstand erteilen. Enthält nicht bereits die Satzung Weisungen an den Vorstand, erfolgen sie also aufgrund Beschlussfassung der Mitgliederversammlung. An solche Weisungen der Mitgliederversammlung ist der Vorstand gebunden (§ BGB § 665); das Weisungsrecht gegenüber einzelnen Vorstandsmitgliedern steht der Mitgliederversammlung als „Auftraggeber“ und nicht dem gesamten Vorstand zu (BGHZ 119 S. 379). Folglich können einzelne Vereinsmitglieder dem Vorstand nicht bestimmte Handlungen auferlegen, sondern allenfalls die Unterlassung und Beseitigung konkreter Satzungsverstöße verlangen sowie in der Mitgliederversammlung Missstände aufzeigen, die Entlastung verweigern oder bei einer Schädigung des Vereins Schadensersatz verlangen (BeckOK/Schöpflin BGB § 27 Rn. 20; MüKoBGB/Leuschner, 9. Aufl. 2021, BGB § 38 Rn. 25).

b) Hat demnach das einzelne Mitglied grundsätzlich gegenüber dem Vorstand keinen Anspruch darauf, dass dieser bestimmte Handlungen vornimmt, kommen Ansprüche allenfalls ausnahmsweise in der Form der action pro socio in Betracht (vgl. hierzu MüKoBGB a.a.O.). Die umstrittene Anwendung dieses Rechtsinstituts im Vereinsrecht kann damit begründet werden, dass ein Rechtsschutz durch die Einhaltung vereinsinterner Zuständigkeiten möglicherweise zu spät eingreift. Verfügt der Verein über kein Aufsichtsorgan, das in der Lage oder willens ist, die Ansprüche geltend zu machen, könnte eine actio pro socio in Betracht kommen (MüKoBGB/Leuschner a.a.O.).

c) Aufgrund dieser Besonderheiten wäre eine actio pro socio ausnahmsweise nur dann gegeben, wenn ein satzungs- oder gesetzwidriger Zustand durch die Mitgliederversammlung, insbesondere die Anfechtung rechtswidriger Beschlüsse der Versammlung, nicht mehr rechtzeitig repariert werden könnte. Sie führt nicht zu konkreten Handlungsansprüchen, sondern allenfalls zu Unterlassungs- oder Schadensersatzpflichten (OLG Köln Urteil vom 31. Januar 2020, Az. 6 U 187/19 = NZG 2020, 555 Rn. 15). Zudem kommt sie wegen des Ausnahmecharakters nicht bei jeder beabsichtigten Handlung des Vorstands in Betracht. Vielmehr ist entscheidend, ob Rechte der Vereinsmitglieder beeinträchtigt sind, weil durch die zu treffende Entscheidung der Vereinszweck aushöhlt wird. Hierzu gehört ein behaupteter drohender Verlust der steuerlich anerkannten Gemeinnützigkeit (§ 63 Abs. 1 AO) jedoch nicht. Insoweit ist zwischen Vereinszweck und der finanziellen Auswirkung eines konkreten Geschäfts zu unterscheiden. Die behauptete Gefahr des Verlustes der Gemeinnützigkeit ändert nichts daran, dass die Satzung selbst und der danach von dem Verein verfolgte Zweck nicht geändert werden. Gleiches gilt für die satzungsgemäßen Rechte der Mitglieder, die unverändert bestehen bleiben. Demgegenüber ist die Frage, ob das konkrete Handeln des Vorstandes dem Ziel der Gemeinnützigkeit entspricht, lediglich eine Frage der Steuerbegünstigung (OLG Celle Beschluss vom 12. Dezember 2017, Az. 20 W 20/17).

d) Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Kläger bereits nicht schlüssig dargelegt, dass die Voraussetzungen für eine actio pro socio vorliegen, so dass es auf die Frage der Anwendung dieses Rechtsinstituts auf das Vereinsrecht letztlich nicht ankommt.

aa) Die von den Klägern befürchtete finanzielle Auswirkung durch den Abschluss der Beendigungsvereinbarung mit Frau B. stellt von vornherein keinen den Vereinszweck des Beklagten aushöhlenden Satzungsverstoß dar, der in Umgehung der verbandsinternen Zuständigkeiten die Annahme einer actio pro socio rechtfertigen könnte. Es liegt demgemäß allein bei der Mitgliederversammlung, hier also der Landeskonferenz, die Vor- und Nachteile einer solchen Vereinbarung gegeneinander abzuwägen und gegebenenfalls den Vorstand anzuweisen (vgl. auch OLG Celle a.a.O.).

bb) Jedenfalls für den maßgeblichen Zeitpunkt, dem Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, ist nicht ersichtlich, dass die Kläger ausnahmsweise Rechte im Wege der actio pro socio geltend machen müssen, weil die Einhaltung vereinsinterner Zuständigkeiten zu spät greifen würde. Weder im erstinstanzlichen Verfahren noch auf den entsprechenden Berufungsangriff haben sie bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu dieser Voraussetzung vorgetragen.

Aus den eingereichten Unterlagen, insbesondere der Satzung des Beklagten, ergibt sich, dass die Einberufung einer außerordentlichen Mitgliederversammlung, die einzig zu entsprechenden Weisungen gegenüber dem Vorstand berufen wäre, durch ein Drittel der Vereinsmitglieder verlangt werden kann (§ 8 Abs. 2 der Satzung; vgl. § 37 BGB). Vortrag, ob sie dieses Quorum nicht erreichen und bereits deshalb der vereinsinterne Entscheidungsprozess verschlossen ist, fehlt. Auch im Hinblick auf die Einberufungsfrist von 4 Wochen (§ 8 Abs. 2 S. 1 der Satzung) ist nicht ersichtlich, dass sie jedenfalls bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einer Entscheidung der Mitgliederversammlung entgegen gestanden hätte. Hierbei kann offen bleiben, ob die unzutreffende Verweisung in § 8 Abs. 2 S. 2 der Satzung ebenfalls zur Einhaltung der Vier-Wochen-Frist verpflichtet. War den Klägern jedenfalls bei ihrem Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung am 19. Dezember 2022 die Absicht des Vorstandes bekannt, den verfahrensgegenständlichen Beendigungsvertrag abzuschließen, wäre ihr Verlangen auf Einberufung einer Landeskonferenz zeitgleich möglich gewesen. Sie haben bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung am 27. April 2023 nicht vorgetragen, dass ihr Rechtsschutz durch ein solches Verlangen und die damit verbundene Einhaltung vereinsinterner Zuständigkeiten gleichwohl zu spät eingreifen würde. Letztlich gehen sie auch mit ihrem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 3. Mai 2023 davon aus, dass die Einberufung einer Landeskonferenz (Mitgliederversammlung) zu Ende März 2023 hätte erfolgen können.

Ist folglich bereits aus dem Vortrag der Kläger nicht ersichtlich, dass sie ausnahmsweise zur Wahrung ihrer Rechte unter Umgehung der vereinsinternen Regelungen auf eine actio pro socio angewiesen sind, fehlt es an einem Anspruch, den Beklagten resp. dessen Vorstand zu einem Unterlassen zu verpflichten.“

StPO I: Unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung, oder: Hohe Anforderungen an die Begründung

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Heute dann StPO-Entscheidungen. Die kommen aber nicht vom BGH, sondern „aus der Instanz“.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.08.2023 – 2 OLG 53 Ss 80/22 – zu den mit der unterjährigen Änderung des Geschäftsverteilungsplans zusammenhängenden Fragen.

Der – erfolgreichen Verfahrensrüge des Angeklagten liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

„Die beim Landgericht am 4. August 2020 eingegangene Berufungssache wurde gemäß dem geltenden Geschäftsverteilungsplan (Vorschaltliste IV) zunächst der 8. Strafkammer zugewiesen (28 Ns 26/20) und von dem zuständigen Vorsitzenden dieser Strafkammer weiter gefördert. Unter dem 2. Dezember 2020 vermerkte der Vorsitzende, dass eine Terminierung im Jahr 2020 nicht mehr möglich und für Januar/Februar 2021 nicht zielführend sei, weil die 8. Strafkammer zum 1. Januar 2021 von einem anderen Vorsitzenden übernommen werden solle, der mitgeteilt habe, in seinem (anderen) Dezernat bereits bis Mitte März 2021 terminiert zu haben.

Durch Beschluss vom 29. März 2021 hat das Präsidium des Landgerichts den Vorsitz der 8. Strafkammer dem zum 1. April 2021 den Dienst beim Landgericht antretenden Vorsitzenden Richter am Landgericht pp. mit 20 % Arbeitskraftanteil zugewiesen und „angesichts der Neuübernahme des Vorsitzes (…) sowie des daraus resultierenden Erfordernisses eines Belastungsausgleichs zwischen der 8., der 7. und der 5. Strafkammer (…) eine Neuverteilung der Eingänge und eine Übernahme von Beständen“ angeordnet. Der Jahresgeschäftsverteilungsplan 2021 wurde mit Wirkung zum 1. April 2021 u.a. insoweit geändert, als der 7. Strafkammer der zum 31. März 2021 bei der 8. Strafkammer anhängige Bestand und der 8. Strafkammer lediglich näher bestimmte Neueingänge zugeteilt wurden.

Die vorliegende Berufungssache wurde sodann bis zur Urteilsverkündung von der gemäß dem geänderten Geschäftsverteilungsplan nunmehr zuständigen 7. Strafkammer geführt (27 Ns 23/21).

Zum Erfordernis eines Belastungsausgleiches hat die Präsidentin des Landgerichts die Verteidigung mit Schreiben vom 23. März 2022 darüber informiert, dass das Protokoll der Präsidiumssitzung vom 29. März 2021 mit Ausnahme der Beschlussfassung keine weiteren Erläuterungen in dieser Sache enthalte. Den Präsidiumsmitgliedern sei mit Anschreiben vom 19. März 2021 mitgeteilt worden, dass bei dem Vorschlag zu den kleinen Strafkammern die Übernahme des Vorsitzes der 8. Strafkammer mit 20 % Arbeitskraftanteil des Vorsitzenden zugrunde gelegt worden sei und die Verschiebungen zur Zuständigkeit zwischen der 7. und 8. Strafkammer aus „der dann folgenden Überlast der 8. Strafkammer“ resultierten. Die weiteren Veränderungen in der 7. Strafkammer ergäben sich aus dem Belastungsausgleich (Neueingänge) im Vergleich zur 5. Strafkammer.“

Dem OLG reicht das so nicht. Wegen der Zulässigkeit verweise ich auf den verlinkten Volltext. zur Begründetheit führt das OLG aus:

2. Die Verfahrensrüge ist zulässig und begründet.

b) Die Rüge dringt auch in der Sache durch, weil der Präsidiumsbeschluss die Gründe für die Erforderlichkeit einer Übertragung des Berufungsverfahrens — zusammen mit den weiteren bei der zunächst mit der Sache befassten Strafkammer anhängigen Verfahren — auf eine andere Strafkammer nicht im erforderlichen Umfang dokumentiert hat und dadurch nicht hinreichend prüfbar ist, ob dem Angeklagten der gesetzliche Richter entzogen wurde (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

Eine unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans, mit der bereits anhängige Verfahren übertragen werden, ist allein dann zulässig, wenn nur so dem Beschleunigungsgebot angemessen Rechnung getragen werden kann (BGH, Beschl. v. 12. Mai 2015 — 3 StR 569/14, NJW 2015, 2597). Dass dies der Fall war, vermag der Senat aufgrund der vorliegenden Dokumentation nicht zu erkennen.

aa) Das Präsidium darf die getroffenen Regelungen zur Geschäftsverteilung ausnahmsweise auch während des laufenden Geschäftsjahres ändern, wenn dies wegen der Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird und nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit erreicht werden kann (§ 21 e Abs. 3 Satz 1 GVG); das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter ist dabei mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen; § 21e Abs. 3 GVG lässt eine Änderung der Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren zu, sofern dies geeignet ist, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen; Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben (BGHSt 58, 268, 270f.; BVerfG NJW 2005, 2689, 2690). Die betreffende Präsidiumsentscheidung unterliegt in der Revisionsinstanz insoweit nicht lediglich einer Willkürkontrolle, sondern ist auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (BGH, Beschl. v. 10. Juli 2013 — 2 StR 160/13, NStZ 2014, 226; Urt. v. 21. Mai 2015 4 StR 577/14, NStZ-RR 2015, 288 Beschl. v. 17. Januar 2023 — 2 StR 87/22, zit. nach Juris Rdnr. 41 mwN).

Da die Übertragung einer bereits anhängige Strafsache auf einen anderen Spruchkörper erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich birgt, bedarf es insbesondere in diesen Fällen einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, damit überprüfbar ist, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die nur ausnahmsweise zulässige Änderung der Geschäftsverteilung vorlagen, wobei die Begründung so detailliert sein muss, dass eine Prüfung der Rechtmäßigkeit möglich ist (vgl. BVerfG NJW 2005, 2689; BGH, Beschl. v. 17. Januar 2023, aaO.; Karlsruher Kommentar/Diemer-StPO, 9. Aufl. § 21e GVG Rdnr. 15 mwN.). Sowohl der Grund für die Entlastung an sich („ob“) als auch das Erfordern für die konkrete Ausgestaltung der Entlastungsmaßnahme („wie) müssen stets im Beschluss des Präsidiums, einer darin in Bezug genommenen Überlastungsanzeige oder einem Protokoll der entsprechenden Präsidiumssitzung festgehalten werden (Karlsruher Kommentar, aaO. mwN.).

bb) Den danach geltenden Anforderungen wird der Präsidiumsbeschluss vom 29. März 2021 nicht gerecht, denn weder die Beschlussfassung noch das Protokoll der Präsidiumssitzung weisen eine näher dokumentierte Begründung dafür auf, warum infolge der mit dem Dienstantritt des Vorsitzenden Richters am Landgericht pp. vorgesehenen Neubesetzung der 8. Strafkammer ein „Belastungsausgleich“ zwischen den kleinen Strafkammern und mit Blick auf das Beschleunigungsgebot eine Übernahme des (gesamten) Bestandes durch die 7. Strafkammer zwingend erforderlich gewesen sein soll.

Eine ausreichende Begründung für die unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung lässt sich auch der vom Senat erbetenen ergänzenden Stellungnahme der Präsidentin des Landgerichts vom 28. November 2022 zu den Gründen der Beschlussfassung des Präsidiums nicht entnehmen.

(a) Obgleich die Gründe für eine Umverteilung der Geschäfte grundsätzlich schon im Zeitpunkt der Präsidiumsentscheidung dokumentiert sein müssen (vgl. BGH, Urt. v. 9. April 2009 — 3 StR 376/08, NJW 2010, 625, 627; Urt. v. 21. Mai 2015 — 4 StR 577/14, NStZ-RR 2015, 288; BeckOK GVG/Graf, § 21e Rdnr. 21), ist eine Behebung von Begründungsmängeln noch im Revisionsverfahren möglich, da die zu einer Besetzungsrüge vorgetragenen Umstände grundsätzlich einer Überprüfung durch das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises zugänglich sind und die Einschränkung, dass Mängel der Begründung nur noch bis zur Entscheidung über einen Besetzungseinwand erhoben werden können, nicht gelten, wenn das Landgericht nicht erstinstanzlich, sondern als Berufungsgericht mit der Sache befasst war und somit das für den Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO geregelte Verfahren nicht zum Tragen kommt (vgl. zur Prüfung der Besetzungsrüge in der Revisionsinstanz nach altem Recht: BGH, Urt. v. 25 September 1975 — 1 StR 199/75, zit. nach Juris). Auch ist eine erläuternde Stellungnahme des Landgerichtspräsidenten zum erhobenen Besetzungseinwand nicht grundsätzlich ungeeignet, um dem Revisionsgericht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Präsidiumsbeschlusses nach den durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten verfassungsrechtlichen Kriterien zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschl. v. 25. März 2015 — 5 StR 70/15, BeckRS 2015, 07394, Rdnr. 12).

(b) Nach der ergänzenden Stellungnahme der Präsidentin des Landgerichts zu den vom Präsidium erwogenen Gründen der Beschlussfassung hätte die vorgesehene Besetzung der 8. Strafkammer unter Einsatz des Vorsitzenden Richters am Landgericht pp. mit einem Arbeitskraftanteil von nur 20 % — gegenüber der bis dahin geltenden Besetzung mit einem Arbeitskraftanteil des für die Kammer bislang zuständigen Vorsitzenden von 40% — „bei gleichbleibenden Zuständigkeiten (…) dazu geführt, dass eine erhebliche Überlast sowohl des Richters als auch des Spruchkörpers vorgelegen hätte. Insbesondere die dort bereits anhängigen Verfahren hätten nicht in einem angemessenen Zeitraum und damit nicht mit der erforderlichen Effizienz bearbeitet werden können“. Angesichts der Bestände in der 7. Strafkammer (37 Verfahren) und der 8. Strafkammer (33 Verfahren) und der bisherigen Besetzung beider Kammern mit einem Vorsitzenden mit jeweils 40-prozentigem Arbeitskraftanteil sei dem Präsidium vorgeschlagen worden, die Bestände in der — fortan mit einem Vorsitzenden mit 80-prozentigem Arbeitskraftanteil zu besetzenden — 7. Strafkammer zu konzentrieren und der von Herrn     geleiteten 8. Strafkammer ausschließlich Neueingang zuzuweisen.

(c) Dieser Begründung für die Änderung der Geschäftsverteilung lässt sich bereits nicht entnehmen, warum überhaupt infolge des Dienstantritts des Vorsitzenden Richters am Landgericht pp. und dessen vorgesehenem Einsatz als Vorsitzender der 8. Strafkammer eine Entlastung des Spruchkörpers durch eine unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung geboten und erforderlich gewesen sein soll („ob“ der Entlastungsmaßnahme). Insbesondere ist nicht dargetan, warum die bislang geltende Besetzung durch einen Vorsitzenden mit 40 Arbeitskraftanteil nicht beibehalten werden konnte, sondern der Arbeitskraftanteil des Vorsitzenden der 8. Strafkammer nunmehr auf 20 % verringert werden musste. Hierzu teilt die Präsidentin des Landgerichts mit, es sei vorgeschlagen worden, dass Herr    pp. den Vorsitz der Strafvollstreckungskammer mit 80 % seiner Arbeitskraft übernehme, weil der bisherige Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer, der dort mit 20 % seiner Arbeitskraft eingesetzt war, bereits seit längerem darum gebeten habe, wieder ausschließlich im Zivilbereich eingesetzt zu werden, und dass „Beisitzer aus der Kammer ausschieden“. Dass diese weitreichenden, die Belastungssituation der 8. Strafkammer erst auslösenden Besetzungsänderungen innerhalb des laufenden Geschäftsjahres zur Gewährleistung der Effizienz der Verfahrensabläufe zwingend erforderlich waren, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Zu etwaigen Besonderheiten, die bei Dienstantritt eines Vorsitzenden Richters am Landgericht und dessen womöglich erstmaligem Einsatz als Strafkammervorsitzenden unter Umständen vorlagen und die im Einzelfall geeignet sein könnten, eine unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung zu rechtfertigen (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 12. April 1978 — 3 StR 58/78, NJW 1978, 1444, 1445), verhalten sich weder die Dokumentation des Präsidiums, noch die  ergänzende Stellungnahme der Präsidentin des Landgerichts.

Darüber hinaus ist auch nicht dargelegt, weshalb aufgrund der — durch die Verringerung des Arbeitskraftanteils des Vorsitzenden erst verursachten — Belastung der 8. Strafkammer eine Verlagerung von bereits im Bestand der Kammer befindlicher Verfahren auf einen anderen Spruchkörper erforderlich und nicht mehr bis zum folgenden Geschäftsjahr aufschiebbar gewesen sein soll, nur hierdurch eine hinreichend beschleunigte Bearbeitung der bereits anhängigen Sachen gewährleistet gewesen sei und eine Anpassung des Geschäftsanfalls durch eine weitergehende Verringerung der Zuständigkeit für Neueingänge (als naheliegende Alternative) nicht ausgereicht habe (Dokumentationsmangel zum „wie“ der Entlastung). Die Präsidentin des Landgerichts hat hierzu lediglich ausgeführt, dass dem Präsidium vorgeschlagen worden sei, „die Bestände in einer Kammer zu konzentrieren“, was dazu geführt habe, dass „die von Herrn    geleitete Kammer ausschließlich für Neueingänge zuständig sein sollte, was unter Berücksichtigung der Arbeitskraftanteile sowohl in der Strafvollstreckungs-als auch in der Strafkammer vertretbar erschien“. Warum die damit vorgesehene „Bündelung der Bestandsverfahren“ in der Zuständigkeit der 7. Strafkammer und die damit verbundene unterjährige Umverteilung bereits anhängiger Verfahren notwendig und geeignet gewesen sein soll, um die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen, wird damit nicht nachvollziehbar dokumentiert; namentlich, ob nur auf diese Weise zu gewährleisten war, die Bestandsverfahren der 8. Strafkammer zeitnah zu fördern und in angemessener Zeit zu verhandeln bzw. abzuschließen.“