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StPO II: Das Kollegialverhältnis bei einem kleinen AG, oder: Wenn niemand für eine Entscheidung mehr bleibt

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Als zweite Entscheidung dann ein Beschluss aus einem familiengerichtlichen Verfahren, also keine StPO 🙂 . Die im OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.03.2022 – 7 AR 165/22 – angesprochenen Fragen zum Kollegialverhältnis können aber auch in Strafverfahren Bedeutung erlangen.

Bem Beschluss liegt ein Scheidungsverfahren zugrunde liegt. In dem ist die Antragsgegnerin Richterin am Amtsgericht in T und mit dem Antragsteller verheiratet. Der letzte gemeinsame Aufenthalt des Ehepaares war in der Gemeinde , die zum Bezirk des Amtsgerichts T gehört. Die Antragsgegnerin lebt dort weiterhin zusammen mit den beiden minderjährigen Kindern.

Das Amtsgericht T ist das kleinste Amtsgericht im Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg. Es sind dort einschließlich des Direktors sowie des Richters am Amtsgerichts als ständiger Vertreter des Direktors insgesamt fünf Richterinnen und Richter beschäftigt.

Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten hat der Antragsteller beim Amtsgericht T einen Scheidungsantrag einreichen lassen. Dieser wurde der Antragsgegnerin zugestellt. Nacheinander haben die weiteren vier Richter des Amtsgerichts T eine Selbstanzeige gemäß §§ 113 Abs. 1 FamFG, § 48 ZPO abgegeben. Der RiAG, der als Letzter die Anzeige nach § 113 Abs. 1 FamFG, § 48 ZPO abgegeben hat, hat das Verfahren dem Oberlandesgericht Nürnberg zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorgelegt.

Das OLG bestimmt das zuständige Gericht – insoweit bitte selbst lesen – und führt zu den Selbstanzeigen aus:

„2. Sämtliche Selbstanzeigen sind begründet.

Ebenso wie ein Ablehnungsgesuch eines Beteiligten ist die Selbstanzeige dann begründet, wenn Umstände, die die Besorgnis der Befangenheit begründen, vorliegen. Die Besorgnis der Befangenheit ist dann zu bejahen, wenn Gründe gegeben sind, die geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Dafür ist erforderlich, aber auch ausreichend, das Vorliegen eines Sachverhaltes, der vom Standpunkt eines vernünftigen Dritten aus bei Betrachtung und Würdigung aller Umstände berechtigten Anlass zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters gibt (Zöller-Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn 9 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Dabei braucht nicht auf die in den Selbstanzeigen jeweils geschilderten persönlichen Beziehungen zwischen der Antragsgegnerin und dem jeweiligen Richter eingegangen werden; denn die berechtigte Besorgnis der Befangenheit besteht im vorliegenden Fall bereits aufgrund des Kollegialverhältnisses zwischen der Antragsgegnerin und den die Selbstanzeigen erstattenden Richtern. Grundsätzlich reicht das bloße Kollegialverhältnis zwischen einem Richter und einem Verfahrensbeteiligten zwar nicht für die Begründung der Befangenheit aus. Etwas anderes gilt jedoch innerhalb eines kleinen Gerichts wie es das Amtsgericht T ist, da bei einem kleinen Gericht eine sehr enge berufliche Zusammenarbeit zwischen allen Richtern des Gerichts naheliegt (BGH NJW-RR 2022, 284; BGH NJW 1957, 1400; Zöller-Vollkommer aaO § 42 Rn 12a m.w.N.; Wieczorek/Schütze-Niemann, ZPO, 3. Aufl., § 42 Rn 16).“

StPO II: Geschäftsverteilungsplan, oder: Ein besonderes Turnussystem für Anklagen des GBA

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 16.06.2021 – StB 25/21 u.  StB 26/21. Ergangen ist diese Entscheidung in einem Staatschutzverfahren beim OLG Düsseldorf. Die Angeklagten haben die Gerichtsbesetzung in der seit dem 19.05.2021 vor dem OLG gegen sie stattfindenden Hauptverhandlung beanstandet. Den Einwänden liegt folgendes Geschehen zugrunde:

„Der Generalbundesanwalt erhob unter dem 27. Januar 2021 gegen die Beschwerdeführer und drei Mitangeklagte Anklage zum Oberlandesgericht insbesondere wegen Straftaten gemäß §§ 129a, 129b StGB. Die Sache wurde nach Eingang am 1. Februar 2021 dem dortigen 6. Strafsenat zugewiesen.

Nach den Ziffern B.12. a., b. und e. der Geschäftsverteilungspläne für die Jahre 2020 und 2021 ist für die Strafsachen, die aufgrund einer Anklage- oder Antragsschrift des Generalbundesanwalts eingehen, ein gesonderter Turnus maßgeblich. Die Sachen erhalten nach der Reihenfolge ihres Eingangs bei der Eingangsgeschäftsstelle eine fortlaufende, aufsteigende Ordnungsbezeichnung sowie den Zusatz „GBA“. Bei gleichzeitigem Eingang entscheidet das Los. Die Geschäftsverteilungspläne für die Jahre 2020 und 2021 weisen dem 6. Strafsenat jeweils die Sachen mit den „Endziffern 1, 3, 5, 7 und 9 GBA“ zu. Soweit jene die „Endziffern 2, 4, 6, 8 und 0 GBA“ tragen, gelangen sie zum 7. Strafsenat.

Ob der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2021 eine Regelung dafür trifft, mit welcher Ordnungsnummer zum neuen Geschäftsjahr begonnen wird – der „1“ oder der Zahl, welche an den letzten Eingang des Vorjahres anknüpft -, teilen die Rügeschriften nicht mit. Vorgelegt wird jedoch die handschriftliche Aufzeichnung einer Stationsreferendarin, die für die Verteidigerin des Angeklagten G. Einblick in die Turnuseingänge genommen hat. Die Notiz zeigt eine Tabelle mit der Überschrift „Turnusliste GBA von 2019 bis 2021 [aufgeführt nur 2021]“. Die Tabelle enthält unter den Spaltenüberschriften drei horizontale Zeilen. Die hiesige Sache ist in der ersten Zeile verzeichnet mit „Datum 27.01.21“, „Uhrzeit 12.30“, „Ordnungsnr. 13“. Zwei nachfolgende Verfahren sind mit Daten aus Februar und Mai 2021 und den Ordnungsnummern 14 und 15 aufgeführt.

Weitere Turnusse sieht der Geschäftsverteilungsplan vor für „diejenigen Strafsachen, die aufgrund einer Anklage- oder Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft eingehen“, und für „sonstige Strafsachen, für die das Oberlandesgericht in Staatsschutzsachen im Sinne von §§ 74a , 120 GVG sowie nach § 120b GVG zur Entscheidung berufen ist und die nicht anderweitig zugewiesen sind“. Der 6. und der 7. Strafsenat nehmen an diesen Turnussen teil.“

Der BGH hat den erhobenen Besetzungseinwand verworfen.:

„aa) Die von den Angeklagten beanstandete Regelung im Geschäftsverteilungsplan des Oberlandesgerichts genügt diesen Anforderungen. Sie verknüpft – wie heute für die Verteilung erstinstanzlicher Verfahren in Strafsachen an den Land- und Oberlandesgerichten vielfach üblich – die Zuständigkeit der Spruchkörper mit dem Kriterium der zeitlichen Reihenfolge des Eingangs beim Gericht (sogenanntes Turnus- oder Rotationsprinzip; vgl. hierzu schon BGH, Urteil vom 17. August 1960 – 2 StR 237/60 , BGHSt 15, 116, 117 f. ; ferner Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 21e Rn. 154 f.). Damit trifft der Geschäftsverteilungsplan im Voraus eine generell-abstrakte Zuständigkeitsregelung der Spruchkörper für alle im Jahr 2021 beim Gericht eingehenden Sachen. Diese werden „blindlings“ auf die am Turnus teilnehmenden Strafsenate verteilt. Der Gefahr der Manipulation durch gerichtsinterne Bedienstete begegnet der Jahresgeschäftsverteilungsplan mit einem Losverfahren für den Fall des zeitgleichen Eingangs.

bb) Zwar ist das Turnussystem nicht völlig frei von der Möglichkeit missbräuchlicher Eingriffe. Da es auf den Zeitpunkt des Eingangs der Verfahren beim Gericht ankommt, steht es theoretisch der Staatsanwaltschaft offen, einzelne Anklagen zurückzuhalten oder vorzuziehen, um so einen bestimmten Spruchkörper bei dem speziellen Verfahren zu umgehen oder die Zuweisung an die bevorzugte Kammer bzw. den gewünschten Senat zu erreichen. Eine Verteilung, die schlechthin jeden potentiellen Einfluss ausschließt und dennoch praktikabel ist, ist allerdings kaum vorstellbar (vgl. MüKoStPO/Schuster, § 21e GVG Rn. 29). Den Erfordernissen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist deshalb Genüge getan, wenn sachfremde Einflüsse der Justizverwaltung oder der Staatsanwaltschaft nach dem Verteilungsmodus nicht ernsthaft zu befürchten sind. Denn allein die abstrakte Möglichkeit eines Missbrauchs macht eine Geschäftsverteilung weder verfassungs- noch gesetzeswidrig ( BVerfG, Beschluss vom 30. März 1965 – 2 BvR 341/60 , BVerfGE 18, 423, 427; BGH, Urteil vom 10. Juli 1963 – VIII ZR 204/61 , BGHZ 40, 91, 98 ; Beschluss vom 2. November 1989 – 1 StR 354/89 , BGHR StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 1 mwN)……“

Rest der doch recht umfangreichen Begründung dann bitte selbst lesen 🙂 .

Geschäftsverteilung, oder: Bloß keine Mauschelei

© Corgarashu – Fotolia.com

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Die Änderung des Geschäftsverteilungsplanes für das laufende Jahr im laufenden Jahr und damit der Zuständigkeiten, die durch eine Änderung der Zuweisung von Verfahren zwangsläufig die Folge ist, ist immer gefährlich für die Tatgerichte, i.d.R. die Landgerichte. Denn der BGH misst dem sich aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden Recht auf den gesetzlichen Richter große Bedeutung zu und ist, was das Vorliegen der Voraussetzungen für eine solche Änderung angeht, sehr streng; jeder bloße Anschein von Mauschelei ist zu vermeiden. Das zeigt noch einmal der BGH, Beschl. v. 04.05.2016 – 3 StR 385/15, der ein Verfahren beim LG Düsseldorf betrifft. Die umfangreichen Ausführungen des BGH lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  • Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung (vgl. dazu § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG) kann ggf. nverfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann.
  • Das Beschleunigungsgebot lässt jedoch das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr hat der Angeklagte einen Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden.
  • Jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, muss geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Daran fehlt es regelmäßig, wenn nach einer Überlastungsanzeige in der Mitte des Geschäftsjahres lediglich ein einziges Verfahren auf eine andere Strafkammer übertragen wird.

Das gilt unabhängig davon, ob ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren umverteilt werden.

Als Verteidiger muss man in diesen Fällen immer die Besetzungsrüge im Auge behalten (§ 222b StPO), sonst wird es nichts mit der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO.

Es meldet sich im „Besetzungschaos“ beim BGH der 4. Strafsenat – Wir sind richtig besetzt

Ist es eine Meldung wert? Nun ja, zur Abrundung: Im Besetzungsstreit/-chaos beim BG hat sich nun auch der 4. Strafsenat gemeldet. Er stellt im BGH, Beschl. v. 11.01.2012 – 4 StR 523/11 – ergänzend fest: Wir sind richtig besetzt:

1. Der Senat ist mit Vorsitzendem Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann, Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck sowie den Richtern am Bundesgerichtshof Cierniak, Dr. Mutzbauer und Bender vorschriftsmäßig besetzt. Das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG) ist gewahrt.
Das Präsidium des Bundesgerichtshofs hat in Wahrnehmung der ihm nach § 21e Absatz 1 Satz 1 GVG obliegenden Aufgabe dem Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann – zusätzlich zum Vorsitz im 4. Strafsenat – den Vorsitz im 2. Strafsenat zugewiesen und bestimmt, dass im Kollisionsfall die Tätigkeit im 2. Strafsenat vorgeht. Es hat diese Regelung in willkürfreier Auslegung des § 21f Absatz 2 Satz 1 GVG und unter Berücksichtigung der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 13. September 2005 – VI ZR 137/04, NJW 2006, 154; BSG, Beschluss vom 29. November 2006 – B 6 KA 34/06 B, NJW 2007, 2717; BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 – 3 C 4/85, NJW 1986, 1366) getroffen. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann nimmt die Aufgabe als Vorsitzender des 4. Strafsenats weiterhin in dem vom Gesetz vorausgesetzten und in der Sache gebotenen Umfang wahr. Nach der senatsinternen Geschäftsverteilung des 4. Strafsenats steht er allen Spruchgruppen als Vorsitzender vor. Im Übrigen ergibt sich die Besetzung mit der Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck sowie den Richtern am Bundesgerichtshof Cierniak, Dr. Mutzbauer und Bender aus Nr. 7 der senatsinternen Geschäftsverteilung vom 27. Dezember 2011 in Verbindung mit der senatsinternen Geschäftsverteilung vom 14. Dezember 2010.
Ein Fall der Divergenz zu der Entscheidung des 2. Strafsenats vom 11. Januar 2012 – 2 StR 346/11 – liegt nicht vor, weil der 2. Strafsenat in einem späteren Urteil vom vom gleichen Tag – 2 StR 482/11 – diese Rechtsprechung aufgegeben hat.“

Klingt so ein bisschen wie das Flöten im Walde….