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Kaskokürzung wegen Trunkenheit?, oder: Wer muss die Wildschweinrotte beweisen?

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Und als zweites Posting des Tages dann eine Entscheidung des OLG Brandenbrug mit (verkehrs)Versicherungsrechtlichem Einschlag. Das OLG hat im OLG Brandenburg, Urt. v. 08.01.2020 – 11 U 197/18 -über eine Leistungskürzung in der Kaskoversicherungbei wegen wegen relativer Fahruntüchtigkeit entschieden.

Die Beklagte hat sich nach einem Verkehrsunfall, der unstreitig einen wirtschaftlichen Totalschaden an dem Pkw des Klägers zur Folge hatte, auf die sog. Trunkenheitsklausel in de. AKB berufen. Die BAK des Klägers hatte zu einem Wert von 0,49 ‰ geführt. Ausfallerscheinungen gab es nicht.  Der Kläger hat das Abkommen von der Fahrbahn mit einer plötzlich aus dem Waldgebiet, durch das die von ihm befahrene Straße führte, von links kommenden Wildschweinrotte, die nach rechts über die Straße auf die daneben befindliche Wiese lief, erklärt. Darum wurde gestritten.Das LG hatte die Klage abgewiesen, das OLG hat ihr dann stattgegeben:

„1. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass das versicherte Fahrzeug bei einem Unfall nach dem Verständnis von Abschn. A.2.5.2 AKB einen sogenannten wirtschaftlichen Totalschaden erlitten hat, indem es von der Fahrbahn abkam, daneben noch einige Meter weiter fuhr, zu einem unmittelbar angrenzenden Waldgebiet gehörende Bäume zu Boden stieß und schließlich an einem Baum zum Stehen gekommen ist (LGU 4), wobei es schwer beschädigt wurde (vgl. dazu auch die Lichtbildmappe der Polizei in der beigezogenen Akte der Zentralen Bußgeldstelle, dort Bl. 8 ff.). Damit sind gemäß Abschn. A.2.5 AKB die Voraussetzungen für einen Leistungsfall in der Vollkaskoversicherung gegeben. Ein Recht, ihre Versicherungsleistung zu kürzen, hat die Beklagte unter den hier gegebenen Umständen laut Abschn. A. 2.21.1 Satz 3 AKB lediglich dann, wenn der Versicherungsfall vom Kläger infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel grob fahrlässig herbeigeführt wurde; diese Regelung schränkt § 81 Abs. 2 VVG – in zulässiger Weise (arg. e c. § 87 VVG) – zugunsten des Versicherungsnehmers ein. Die sogenannte Trunkenheitsklausel im Abschn. D.2.1 AKB, auf die sich die Rechtsmittelgegnerin schon vorgerichtlich in ihrem Schreiben vom 09.01.2017 (Kopie Anl. K6/GA I 28) berufen hat und deren Missachtung als Obliegenheitsverletzung ausgestaltet ist (Abschn. D.3 AKB), gilt – wie sich aus der Systematik des Regelwerkes ergibt – allein für die Kfz-Haftpflicht- und die Umweltschadenversicherung. Die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche tatsächlichen Voraussetzungen eines Leistungskürzungsrechts trägt der Versicherer; er kann sich dabei hinsichtlich des Verschuldensgrades zwar auf Indizien, nicht aber auf einen Beweis des ersten Anscheins stützen (vgl. Halbach in Stiefel/Maier, KraftfahrtVers, 19. Aufl., AKB 2015 A.2 Rdn. 953 und 956, m.w.N.). Um eine relative Fahruntüchtigkeit des Wagenlenkers zu bejahen, deren Unfallkausalität tatsächlich vermutet wird, genügt nicht allein die Feststellung einer Blutalkoholkonzentration im Bereich zwischen 0,2 und 1,1 ‰, sondern es müssen sich – anders als bei absoluter Fahruntüchtigkeit, die nach neuerer Rechtsprechung bei 1,1 ‰ beginnt (grundlegend BGH, Urt. v. 09.10.1991 – IV ZR 264/90, LS und Rdn. 7, juris = BeckRS 9998, 96172) – weitere Gegebenheiten, speziell alkoholtypische Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler, konstatieren lassen, die den Schluss rechtfertigen, der Fahrer sei nicht mehr in der Lage gewesen, sein Automobil sicher im Verkehr zu steuern (so zur privaten Unfallversicherung BGH, Urt. v. 30.10.1985 – IVa ZR 10/84, Rdn. 8 ff, 13 und 16 f., juris = BeckRS 2008, 18039; vgl. ferner zur Kaskoversicherung OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.05.1989 – 12 U 49/89, VersR 1991, 181; OLG Saarbrücken, Urt. v. 07.04.2004 – 5 U 688/03, juris Rdn. 13 ff. = BeckRS 2004, 7093; Halbach aaO Rdn. 963 ff.; jurisPK-StrVkR/Reichel, Stand 24.06.2019, AKB 2015 Rdn. 89 ff.; Klimke in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl., AKB 2015 A.2.16 Rdn. 51 ff.).

2. Im Streitfall kann bereits keine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Berufungsführers zum Unfallzeitpunkt festgestellt werden.

a) Seine Blutalkoholkonzentration betrug bei dem Test, der ungefähr 75 Minuten nach dem Unfall durchgeführt wurde, 0,49 ‰. Sie lag somit nur wenig über dem unteren Schwellenwert, der für die relative Fahruntüchtigkeit bei etwa 0,3 ‰ angenommen wird (vgl. Klimke in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl., AKB 2015 A.2.16 Rdn. 51, m.w.N.). Alkoholbedingte Auffälligkeiten, insbesondere Ausfallerscheinungen, haben sich bei der Blutentnahme nicht gezeigt (LGU 2). Vielmehr waren laut ärztlichem Untersuchungsbericht vom pp.12.2016 11:18 Uhr (in der Akte der Zentralen Bußgeldstelle, Bl. 12R) bei dem Kläger der Gang geradeaus, die plötzliche Kehrtwendung nach vorherigem Gehen, die Finger-Finger-Probe und die Nasen-Finger-Probe sicher, die Sprache deutlich, der Denkablauf geordnet, das Verhalten beherrscht, die Stimmung unauffällig und er schien äußerlich nicht merkbar unter Alkoholeinfluss zu stehen.

b) Freilich können – wie von der Vorinstanz zutreffend ausgeführt wird (LGU 4) – auch beim Unfallgeschehen zu Tage getretene alkoholtypische Fahrfehler, beispielsweise das Abkommen von der Fahrbahn ohne ersichtlichen Grund, den Schluss auf eine relative Fahruntüchtigkeit rechtfertigen. Es obliegt jedoch nicht dem klagenden Versicherungsnehmer, die von ihm behauptete – alkoholunabhängige – Unfallursache zu beweisen, sondern dem beklagten Versicherer die Sachdarstellung seines jeweiligen Prozessgegners zu widerlegen (vgl. insb. BGH, Urt. v. 30.10.1985 – IVa ZR 10/84, Rdn. 13, juris = BeckRS 2008, 18039). Selbst wenn das gelingt und danach eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit konstatiert werden kann, spricht nur ein Prima-facie-Beweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser und dem Unfall, der keine Umkehr der Beweislast bewirkt; er ist vielmehr entkräftet, sobald der Gegner der beweisbelasteten Partei Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte – nicht allein rein theoretische (denkgesetzliche), sondern reale – Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufes ergibt, woran keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen (so BGH aaO Rdn. 16 f.). Eine plausible Erklärung für die alkoholunabhängigen Unfallgründe, wie sie in der obergerichtlichen Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Höhe der jeweiligen Blutalkoholkonzentration vom Versicherungsnehmer verlangt wird (vgl. dazu insb. OLG Saarbrücken, Urt. v. 07.04.2004 – 5 U 688/03, juris Rdn. 15 ff. m.w.N. = BeckRS 2004, 7093), hat der hiesige Kläger gegeben.

Nach seinem Vorbringen ist er durch eine plötzlich aus dem Waldgebiet von links kommende Wildschweinrotte, die nach rechts über die Straße auf die daneben befindliche Wiese lief, zu seinem Fahrverhalten veranlasst worden. So hat er den Unfallhergang laut der Verkehrsunfallanzeige vom 21.12. 2016 (in der Akte der Zentralen Bußgeldstelle, Bl. 1 f.) noch an der Unfallstelle den dort erschienenen Polizeibeamten geschildert. Deren Fotos vom Ort des Ereignisses lassen einen Wildwechsel solcher Art als denkbare Möglichkeit erscheinen, auch wenn es nicht zur Kollision mit den Tieren gekommen ist. Soweit die Zivilkammer angenommen hat, der Buchstabe „W“, der für Wildschwein stehen soll, sei vom Zeugen Dpp. Bpp. bei seiner erstinstanzlichen Vernehmung in der dem Protokoll vom 15.03.2018 beigefügten Karte (GA I 83, 85) auf der falschen Seite eingezeichnet worden, beruht dies – wie die Erörterung der Sache und die Wiederholung der Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz ergeben hat – offensichtlich auf einem Irrtum des Landgerichts. Dass die Fahrzeuginsassen zu den Details des allenfalls wenige Sekunden andauernden Geschehensablaufs unmittelbar vor dem Abkommen des Wagens von der Fahrbahn, speziell dazu, wer die Wildschweine zuerst sah und wer sich weshalb erschrak, unterschiedliche oder – wie möglicherweise die ursprünglich benannte Zeugin Lpp. Kpp. – keine Wahrnehmungen oder Erinnerungen haben, erscheint dem Senat nachvollziehbar und ist aus seiner Sicht ungeeignet, die Plausibilität des klägerischen Vorbringens infrage zu stellen und die durch die Zivilkammer gezogenen Schlüsse zu tragen. Eine etwaige nicht alkoholbedingte Unaufmerksamkeit des Berufungsführers bliebe gemäß Abschn. A.2.21.1 Satz 2 AKB ohnehin folgenlos, da die Beklagte grundsätzlich auf das Recht zur Leistungskürzung bei grober fahrlässiger Schadensverursachung verzichtet hat. Dass eine plötzlich die Fahrbahn überquerende Wildschweinrotte Auslöser des Unfalls gewesen ist, hat der Zeuge Dpp. Bpp. bei seiner – aus prozessualen Gründen erforderlichen erneuten – Vernehmung vor dem Senat bestätigt. Seine Aussage war in sich schlüssig, glaubhaft und nachvollziehbar; er konnte den Ablauf auch anhand des ihm vorgelegten Kartenmaterials widerspruchsfrei darstellen. Anders als das Landgericht hat der Senat nicht den Eindruck gewonnen, dass die Bekundungen auswendig gelernt wurden. Soweit in den Gründen des angefochtenen Urteils argumentiert wird, der Zeuge habe eingeräumt, vor dem Termin seiner Vernehmung die Unterlagen des Klägers eingesehen zu haben, steht dies nicht im Einklang mit dem Inhalt des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2018 (GA I 115, 116). In zweiter Instanz hat der Zeuge auf explizite Nachfrage bestätigt, die Prozessunterlagen nicht zu kennen (GA II 226, 228). Im Ergebnis vermag der Senat – abweichend von der Zivilkammer (LGU 5) – insbesondere nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass gar kein Wildwechsel stattgefunden hat.“

OWi II: Absehen vom Fahrverbot bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß, oder: Urteilsgründe

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 01.07.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 353/19 (210/19) – ist dann noch mal eine „Fahrverbotsentscheidung“. Das AG hat den Betroffenen wegen eines sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes verurteilt, von der Verhängung des an sich verwikten Regelfahrverbotes aber abgesehen.

Dagegen die Rechtsbeschwerde der StA, die unzureichende Urteilsgründe rügt. Und Sie hatte damit Erfolg:

2. Das Absehen von dem indizierten Fahrverbot hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 12. Juni 2019 wie folgt aus:

„Zum unverzichtbaren Inhalt eines bußgeldrichterlichen Urteils gehört unter anderem die Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Ordnungswidrigkeit gesehen werden (§§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 1 StPO) und außerdem wenn – wie hier – der Sachverhalt Anlass dafür bietet, die Mitteilung derjenigen tatrichterlichen, auf nachvollziehbaren Anknüpfungstatsachen beruhenden Erwägungen, aufgrund derer ein [S. 2] den Verzicht auf das Fahrverbot rechtfertigender Ausnahmefall angenommen worden ist. Diesen Begründungserfordernissen wird die angefochtene Entscheidung nicht hinreichend gerecht.

Hier hat das Gericht das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes in Form des so genannten Augenblicksversagens nicht ausreichend begründet. Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. der BKatV und dem Bußgeldkatalog kommt die Anordnung eines Fahrverbotes wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in Betracht, wenn – wie hier – der Kraftfahrzeugführer ein rotes Wechsellichtzeichen bei schon länger als einer Sekunde andauernder Rotphase nicht befolgt hat. Die Erfüllung des Tatbestandes weist auf das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG hin, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbotes bedarf.

Dass sich die vorliegende Tat in einem solchen Maße zugunsten des Betroffenen von den Regelfällen unterscheidet, dass das Absehen von der Anordnung des Fahrverbotes – etwa wegen eines Augenblicksversagens – gerechtfertigt wäre, lassen die tatrichterlichen Feststellungen nicht mit der erforderlichen Klarheit erkennen.

Die Anordnung eines Fahrverbotes ist auch dann nicht angezeigt, wenn ein Verkehrsverstoß nicht auf einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers, sondern lediglich auf einer augenblicklichen Unachtsamkeit beruht, die jedem sorgfältigen und pflichtbewussten Verkehrsteilnehmer einmal unterlaufen kann (grundlegend BGHSt 43, 241 ff.; OLG Hamm NZV 2005, 489). In solchen Fällen des Augenblicksversagens indiziert zwar der in der Bußgeldkatalogverordnung beschriebene Regelfall das Vorliegen einer groben bzw. beharrlichen Pflichtverletzung im Sinne des § 25 Abs. 1 StVG, es fehlt jedoch an einer ausreichenden individuellen Vorwerfbarkeit.

Nach den getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Betroffene hinter einem anderen Fahrzeug hergefahren ist, das kurz zuvor auf seinem Fahrstreifen gewechselt war, und das Rotlicht nicht rechtzeitig wahrgenommen hat. Ob dieser Wahrnehmungsfehler den Betroffenen entlastet, kann anhand der Urteilsfeststellungen jedoch nicht abschließend festgestellt werden. Der Wahrnehmungsfehler könnte nämlich seinerseits als grob pflichtwidrig angesehen werden. Auf nur einfache Fahrlässigkeit kann sich derjenige nicht berufen, welcher die an sich gebotene Aufmerksamkeit in grob pflichtwidriger Weise unterlassen hat (BGHSt 43, 241; OLG Karlsruhe VRs 111, 489). Vorliegend müsste der Betroffene zusätzlich zur Rotphase auch die vorherige 3 Sekunden dauernde Gelbphase der Lichtzeichenanlage über-[S.3]sehen haben, was sich durch den einfachen Spurwechsel eines voranfahrenden Fahrzeugs ohne weitere Feststellungen nicht erklären lässt. Dem Betroffenen könnte insoweit zum Vorwurf gemacht werden, dass er keine hinreichenden Anstrengungen unternommen hat, sich selbst von der Ampelschaltung in Kenntnis zu setzen.

Da Fahrverbot und Geldbuße in einer Wechselwirkung zueinanderstehen (vgl. BbgOLG Beschluss vom 02.03.2016 – (1B) 53 Ss-OWi 44/18 (30/16)) ist der Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben.“

Der Senat tritt diesen Ausführungen bei, sie entsprechen der Sach- und Rechtslage. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Tatgericht keine eigenen, die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigenden Feststellungen getroffen, sondern im Wesentlichen die Ausführungen des Betroffenen repliziert hat, ohne diese in das Zeitfenster von 4,1 Sekunden zu stellen, in denen der Betroffene auf die Lichtzeichenanlage infolge des Farbenwechsels hätte aufmerksam geworden sein müssen. Die Überschreitung des Schwellenwertes von 0,1 Sekunden kann hierbei keine besondere Bedeutung erlangen.“

OWi III: Abwesenheitsverhandlung, oder: Zulässig nur, wenn der Betroffene entbunden war

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Und zum Tagesschluss kommt mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.9.2019 – (1 B) 53 Ss OWi 529/19 (314/19) – dann noch ein Klassiker aus dem OWi-Verfahren. Es ist nämlich von den OLG ebenfalls bereits zig-mal entschieden, dass eine sog. Abwesenheitsverhandlung mit Erlass eines Sachurteils gegen den nicht erschienenen und auch nicht von der Pflicht zum Erscheinen befreiten Betroffenen nicht stattfinden kann/darf:

„2. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Die von dem Betroffenen erhobene Verfahrensrüge des Verstoßes gegen §§ 73, 74 Abs. 1, 2 OWiG greift durch.

a) Die Rüge, das Amtsgericht hätte nicht durch Sachurteil entscheiden dürfen, da das Amtsgericht zu Unrecht in Abwesenheit des Betroffenen verhandelt habe, genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG.

b) Das angefochtene Urteil unterliegt auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge schon deswegen der Aufhebung, weil den Urteilsgründen nicht entnommen werden kann, ob die Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten überhaupt vorlagen. Auch für die Hauptverhandlung bei Ordnungswidrigkeiten gilt die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§ 73 Abs. 1 OWiG), von der nur im geregelten Ausnahmefall abgewichen werden kann (vgl. 73 Abs. 2 OWiG; für das Strafverfahrens siehe auch §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 231c 232, 233, 247, 329 Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 Satz 1 StPO). Ebenso wie bei einem Verfahren nach 74 Abs. 2 OWiG müssen bei einem Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG die Urteilsgründe die Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten dartun, woran es hier fehlt. Da sich die Urteilsgründe zu den Voraussetzungen eines Sachurteils bei Abwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung nicht verhalten, leidet das Urteil an einem erheblichem Darstellungsmangel, da dem Senat eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise des Bußgeldgerichts nicht möglich ist.

c) Als Besonderheit des Ordnungswidrigkeitenverfahrens gilt eine Ausnahme vom Anwesenheitsgrundsatz dann, wenn der Betroffene von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden ist (§ 73 Abs. 2 OWiG). Ist dies nicht der Fall, kann in seiner Abwesenheit kein Sachurteil ergehen, sondern es muss entweder die Verhandlung vertagt werden oder eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG erfolgen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 2. September 2004, 3 Ss 565/04, zit. n. juris). Das Amtsgericht hätte den Einspruch des nicht von der Pflicht zum Erscheinen entbundenen und ohne genügende Entschuldigung ausgebliebenen Betroffenen deshalb nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen müssen, auch um den Weg eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung zu ermöglichen.

d) Der Senat verkennt nicht, dass das Bußgeldgericht bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG hätte erlassen müssen. Sollten diese Voraussetzungen vorgelegen haben, hätte das Berufungsgericht mit der Durchführung der Hauptverhandlung ein „Mehr“ geleistet und das angefochtene Urteil auf eine breitere Grundlage gestellt als dies naturgemäß bei einem Prozessurteil der Fall sein kann. Gleichwohl kann der Senat weder das angefochtene Urteil durch ein Verwerfungsurteil ersetzen noch ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Denn ein aufgrund einer Hauptverhandlung erlassenes Sachurteil ist kein „Mehr“, sondern ein „aliud“ im Verhältnis zum formalen Prozessurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG.“

Berücksichtigung von Umsatzsteuer bei der Kostenfestsetzung, oder: Glaubhaftmachung erforderlich?

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Und als zweite Entscheidung dann nochmals die Frage der Berücksichtigung von Umsatzsteuerbeträgen im Kostenfestsetzungsverfahren und der Erforderlichkeit/Form einer Erklärung des Antragstellers zur Vorsteuerabzugsberechtigung. Geäußert hat sich dazu das OLG Brandenburg im OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.02.2019 – 6 W 16/19, und zwar wie folgt:

„Nach § 104 Abs. 2 S. 3 ZPO genügt zur Berücksichtigung von Umsatzsteuerbeträgen im Kostenfestsetzungsverfahren, dass der Antragsteller erklärt, er könne die Beträge nicht als Vorsteuer abziehen. Er braucht seine Erklärung nicht glaubhaft zu machen oder sonst irgendwie zu bekräftigen. Die Richtigkeit der Erklärung ist in dem Kostenfestsetzungsverfahren grundsätzlich nicht zu überprüfen, um dieses Verfahren nicht mit schwierigen Fragen des materiellen Umsatzsteuerrechts zu belasten (BVerfG, Beschluss vom 17.02.1995 – 1 BvR 697/93; KG, Beschluss vom 18.04.2006 – 2 W 21/06; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.11.2003 – I-5 W 53/03; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 19.09.1998 – 6 W 232/98; jew. zit. nach juris). Gegen eine Festsetzung von Umsatzsteuer, die aufgrund einer unrichtigen Erklärung vorgenommen wurde, kann sich der Vollstreckungsschuldner gegebenenfalls durch eine auf § 767 ZPO oder § 812 BGB gestützte Klage schützen. Das vor dem Richter mit grundsätzlich zwingender mündlicher Verhandlung durchzuführende Verfahren über derartige Rechtsbehelfe ist besser geeignet, schwierige umsatzsteuerrechtliche Fragen zu klären als das vor dem Rechtspfleger im grundsätzlich schriftlichen Verfahren durchzuführende Kostenfestsetzungsverfahren (KG, Beschluss vom 04.09.2007 – 2 W 151/07; zit. nach Beckonline).

Eine Ausnahme von § 104 Abs. 2 S. 3 ZPO lässt die Rechtsprechung dann zu, wenn die Richtigkeit der Erklärung des Antragstellers durch entsprechenden, vom Antragsgegner zu erbringenden Beweis bereits entkräftet ist oder sich die offensichtliche Unrichtigkeit der Erklärung aus anderen, dem Gericht bekannten Umständen zweifelsfrei ergibt (BGH, Beschluss vom 11.02.2003 – VIII ZB 92/02; OLG Düsseldorf a.a.O; jew. zit. nach juris). Die Voraussetzungen für das Eingreifen eine der genannten Ausnahmen sind vorliegend nicht gegeben. Insbesondere kann aus der bloßen Tatsache, dass die Antragstellerin eine juristische Person in Form einer GmbH ist, nicht zweifelsfrei auf deren Vorsteuerabzugsberechtigung geschlossen werden. Vorsteuerabzugsberechtigt ist nach § 15 Abs. 1 S. 1 UStG nur ein „Unternehmer“; nicht jede GmbH übt allerdings, wie in § 2 Abs. 1 S. 1 UStG dafür vorausgesetzt, eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig aus (KG, a.a.O). Die Verfügungsbeklagte hat insoweit geltend gemacht, infolge der Öffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen keine unternehmerische Tätigkeit mehr zu entfalten. Dem ist der Kläger nicht entgegengetreten.“

OWi II: Keine Belehrung vor Atemalkoholkontrolle, oder: Beweisverwertungsverbot?

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Auch die zweite Entscheidung kommt vom OLG Brandenburg. Das hat im schon etwas älteren OLG Brandenburg, Beschl. v. 08.07.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 285/19 (169/19) – auch noch einmal – zur Frage der Erforderlichkeit einer Belehrung über die Freiwilligkeit der Maßnahme vor eine Atemalkoholkontrolle und zu einem Beweisverwertungsverbot bei fehlender Belehrung Stellung genommen.

Das OLG hat die/seine Rechtsprechung bestätigt, wonach eine solche Belehrung nicht erforderlich ist und das Fehlen auch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt:

„3. Nach den Urteilsfeststellungen haben sich die Zeugen PM K. und POMin J. zu einer allgemeinen Verkehrskontrolle entschieden, nachdem sie das vom Betroffenen ohne Besonderheiten oder Auffälligkeiten gesteuerte Fahrzeug bemerkten. Nachdem der Zeuge PM K. Alkoholgeruch bei dem Betroffenen wahrgenommen hatte, fragte er diesen, ob er mit einer freiwilligen Atemalkoholkontrolle mit dem „normalen“ Drägergerät einverstanden sei, was der Betroffene bejahte. Soweit die Rechtsbeschwerde das Fehlen einer Belehrung des Betroffenen über seine Rechte bereits zu diesem Zeitpunkt rügt und hieraus auf eine Unverwertbarkeit des Messergebnisses schließt, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen.

Vielmehr würde auch eine – hier nicht vorliegende – unterbliebene Belehrung über die Freiwilligkeit der Maßnahme nicht zu einem Verwertungsverbot führen.

Gesetzlichen Regelungen kann eine solche Pflicht nicht entnommen werden. Der Gesetzgeber hat Belehrungspflichten nur in besonderen Fällen geregelt. § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO sieht die Belehrung des Beschuldigten über sein Schweigerecht vor. Letztgenannte Vorschrift gilt ihrem Wortlaut nach allein für Vernehmungen. Eine entsprechende Anwendung auf andere Fälle kommt nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in anderen Fällen eine Belehrungspflicht ausdrücklich geregelt hat, wie etwa in § 81 h Abs. 4 StPO, und deshalb eine Regelungslücke nicht besteht.

So muss nach § 81 h Abs. 4 StPO der Betroffene im Falle einer DNA-Reihenuntersuchung darüber belehrt werden, dass diese Maßnahme nur mit seiner Einwilligung vorgenommen werden darf. Selbst bei Blutentnahmen nach § 81 a StPO ergibt die Rechtslage nichts anderes. Anerkannt ist zwar, dass die Einwilligung des Beschuldigten eine richterliche Anordnung entbehrlich macht. Diese Einwilligung muss ausdrücklich und eindeutig sein. Dabei muss der Beschuldigte in der Regel auch über sein Weigerungsrecht belehrt werden (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2005, 399). Dabei geht es in den Fällen, in denen eine förmliche richterliche Anordnung rechtmäßig wäre, nicht um die freiwillige Hingabe eines für die Ermittlungsbehörden sonst nicht zur Verfügung stehenden Beweismittels, sondern nur um einen Verzicht auf die Einhaltung einer verfahrensmäßigen Absicherung der Beschuldigtenrechte, der den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht unmittelbar betrifft (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. April 2013 – (2 B) 53 Ss-OWi 58/13 (55/13) –).

Dass der Betroffene zu dem Atemalkoholtest gezwungen wurde, wird von der Rechtsbeschwerde nicht behauptet.“