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OWi II: Verwerfung des Einspruchs des “entbundenen” Betroffenen, oder: (Eben doch) kein Einzelfall

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Vor ein paar Tagen habe ich den OLG Rostock, Beschl. v. 04.11.2019 – 21 Ss OWi 286/19 (B)
vorgestellt (OWi III: Verwerfung des Einspruchs des “entbundenen” Betroffenen, oder: “Blöd oder faul”?) . Wegen dieses Postings – vor allem wohl wegen der Überschrift – hat es bei Twitter einen kleinen Shitstorm gegeben, dessen Tendenz dahin ging, das könne ja mal passieren, man könne (als Richter) ja mal etwas in der Akte übersehen.

Das lassen wir mal dahingestellt, denn eins ist sicher: Es handelt sich nicht um einen Einzelfall bzw. es übersehen offenbar viele Richter die Entbindung des Betroffenen und verwerfen dann den Einspruch des nicht erschienenen Betroffenen. Ich habe dann hier gleich noch zwei Entscheidungen von OLGs zu der Frage, und zwar

Ich nehme dann mal die Gründe aus dem OLG Karlsruhe, Beschluss, die des OLG Hamm sind fast gleichlautend:

„Das Tatgericht hat — ohne zur Sache zu verhandeln und zu entscheiden — ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG erlassen, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben waren. Durch diesen Verfahrensfehler wurde zugleich der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 16.5.2011 – 1 Ss 72/11 (165/11) juris; OLG Köln, DAR 2005, 229).

Nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht, wenn ein Betroffener ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen. Diese Voraussetzungen lagen hier ersichtlich nicht vor, da der Betroffene mit Beschluss vom 29.8.2019 von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden worden war. Das Tatgericht hätte daher nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen zur Sache verhandeln müssen.

Der Umstand, dass auch der Verteidiger des Betroffenen der Hauptverhandlung ferngeblieben war, rechtfertigte den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht (vgl. Göhler, OWiG, 17. Aufl., Rdn. 19 zu § 74 m.w.N.). § 73 Abs. 3 OWiG verpflichtet den von der Erscheinenspflicht entbundenen Betroffenen nicht, sich durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen, er kann dies lediglich tun.“

Man, zumindest ich, verstehe es nicht. Dabei bleibe ich. Egal, ob nun „blöd“ oder „dumm“. Im Fall des OLG Karlsruhe ist übrigens am 29.08.2019 entbunden worden , also einen Tag vor der Hauptverhandlung vom 30.08.2019. Da muss mir auch niemand mit „vergessen“ kommen.

OWi III: Abwesenheitsverhandlung, oder: Zulässig nur, wenn der Betroffene entbunden war

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Und zum Tagesschluss kommt mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.9.2019 – (1 B) 53 Ss OWi 529/19 (314/19) – dann noch ein Klassiker aus dem OWi-Verfahren. Es ist nämlich von den OLG ebenfalls bereits zig-mal entschieden, dass eine sog. Abwesenheitsverhandlung mit Erlass eines Sachurteils gegen den nicht erschienenen und auch nicht von der Pflicht zum Erscheinen befreiten Betroffenen nicht stattfinden kann/darf:

„2. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Die von dem Betroffenen erhobene Verfahrensrüge des Verstoßes gegen §§ 73, 74 Abs. 1, 2 OWiG greift durch.

a) Die Rüge, das Amtsgericht hätte nicht durch Sachurteil entscheiden dürfen, da das Amtsgericht zu Unrecht in Abwesenheit des Betroffenen verhandelt habe, genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG.

b) Das angefochtene Urteil unterliegt auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge schon deswegen der Aufhebung, weil den Urteilsgründen nicht entnommen werden kann, ob die Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten überhaupt vorlagen. Auch für die Hauptverhandlung bei Ordnungswidrigkeiten gilt die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§ 73 Abs. 1 OWiG), von der nur im geregelten Ausnahmefall abgewichen werden kann (vgl. 73 Abs. 2 OWiG; für das Strafverfahrens siehe auch §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 231c 232, 233, 247, 329 Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 Satz 1 StPO). Ebenso wie bei einem Verfahren nach 74 Abs. 2 OWiG müssen bei einem Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG die Urteilsgründe die Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten dartun, woran es hier fehlt. Da sich die Urteilsgründe zu den Voraussetzungen eines Sachurteils bei Abwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung nicht verhalten, leidet das Urteil an einem erheblichem Darstellungsmangel, da dem Senat eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise des Bußgeldgerichts nicht möglich ist.

c) Als Besonderheit des Ordnungswidrigkeitenverfahrens gilt eine Ausnahme vom Anwesenheitsgrundsatz dann, wenn der Betroffene von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden ist (§ 73 Abs. 2 OWiG). Ist dies nicht der Fall, kann in seiner Abwesenheit kein Sachurteil ergehen, sondern es muss entweder die Verhandlung vertagt werden oder eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG erfolgen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 2. September 2004, 3 Ss 565/04, zit. n. juris). Das Amtsgericht hätte den Einspruch des nicht von der Pflicht zum Erscheinen entbundenen und ohne genügende Entschuldigung ausgebliebenen Betroffenen deshalb nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen müssen, auch um den Weg eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung zu ermöglichen.

d) Der Senat verkennt nicht, dass das Bußgeldgericht bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG hätte erlassen müssen. Sollten diese Voraussetzungen vorgelegen haben, hätte das Berufungsgericht mit der Durchführung der Hauptverhandlung ein „Mehr“ geleistet und das angefochtene Urteil auf eine breitere Grundlage gestellt als dies naturgemäß bei einem Prozessurteil der Fall sein kann. Gleichwohl kann der Senat weder das angefochtene Urteil durch ein Verwerfungsurteil ersetzen noch ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Denn ein aufgrund einer Hauptverhandlung erlassenes Sachurteil ist kein „Mehr“, sondern ein „aliud“ im Verhältnis zum formalen Prozessurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG.“