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Da springt dem OLG der Draht aus der Mütze, oder: Rettet „nemo-tenetur“

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Wenn man sich ein wenig in der manchmal doch recht vornehmen Wortwahl der Revisionsgerichte auskennt, dann weiß man, dass dem OLG Brandenburg bei der revisionsrechtlichen Prüfung eines jugendrichterlichen Urteils aus seinem Bezirk der sprichwörtliche Draht aus der Mütze gesprungen ist. Denn „rechtlich unzulässig“ und „eklatanter Verstoß“ sind schon recht starke Worte, die der OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.08.2014 – (1) 53 Ss 90/14 (46/14) – zur Bewertung des amtsgerichtlichen Urteils verwendet. Und das m.E. zur Recht. Denn die Argumentation der Jugendrichter ist nun wirklich nicht tragbar und lässt mich ratlos – und ich will nicht gleich schreiben: fassungslos – zurück. Man fragt sich: Hat sie noch nie vom „nemo-tenetur-Grundsatz“ gehört? Offenbar nicht, wenn man den OLG, Beschluss liest, der von folgenden Formulierungen im AG-Urteil ausgeht:

„Bei der Beweiswürdigung führt das Tatgericht aus: „Auch die Tatsache, dass der Angeklagte keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht hat, wie er sonst in den Besitz des Handy gekommen sein könnte, spricht für seine Täterschaft.“ (Bl. 4 UA)

Zur Strafzumessung heißt es in den Urteilsgründen: „Die fehlende Äußerung zur Person lässt jedoch eher negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten zu, denn offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen.“ (Bl. 5 UA).“

Und dann wie folgt rechtlich zutreffend bewertet:

Bereits die vom Revisionsführer erhobene Rüge der Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) greift durch und verhilft der Revision zum Erfolg. Soweit die Jugendrichterin den Schuldspruch u. a. damit begründet hat, dass das Schweigen des Angeklagten in der Hauptverhandlung („keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht“) für dessen Täterschaft spreche (Bl. 4 UA), hat sie gegen ein Beweisverwertungsverbot von Verfassungsrang verstoßen. Es gehört zu den übergeordneten Rechtsgrundsätzen, dass ein Beschuldigter bzw. Angeklagter grundsätzlich nicht verpflichtet ist, aktiv zur Sachaufklärung beizutragen („nemo tenetur se ipsum accusare“ bzw. „nemo tenetur se ipsum prodere“; vgl. zuletzt: BVerfG NJW 2013, 1058, 1061; BGH NStZ 2009, 705; grundsätzlich: Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001; Sowada, Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen nomo-tenetur-Grundsatz und fair-trail-Prinzip, Geppert-Festschrift, S. 689 ff.). Ausdruck des nemo-tenetur-Grundsatzes sind die in §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 und § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO normierten Belehrungspflichten. Die vom Amtsgericht gezogene Folgerung von dem Schweigen („keinerlei entlastenden Angaben“) auf die Täterschaft des Angeklagten ist rechtlich unzulässig. Die Jugendrichterin durfte bei dem zur Sache umfassend schweigenden Angeklagten den Umstand, dass er von seinem prozessualen Recht zum Schweigen Gebrauch gemacht hat, nicht als belastendes Indiz verwerten. Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO findet ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen (vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 249). Dieses Abwehrrecht eines Beschuldigten gegen staatliche Eingriffe wird durch Artikel 2 Abs. 1 GG gewährleistet (BVerfGE 56, 37, 49; BGHSt 45, 363 ff.; BGHSt 49, 56, 59).

b) Auch soweit das Tatgericht bei der Strafzumessung aus Schweigen des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen („fehlende Äußerung zur Person“) „negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten“ gezogen und bei der Strafzumessung zu seinen Lasten berücksichtigt hat („offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen“), ist ein eklatanter Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz gegeben. Die mangelnde Mitwirkung des Angeklagten an der Sachaufklärung, auch zu seiner Person, darf ihm nicht strafverschärfend angelastet werden (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013 – 4 StR 151/13 -, zit. n. juris; BGH, Beschluss vom 28. Juli 2009 – 3 StR 80/09 -, zit. n. juris).

Ach so: Feststellungen und Beweiswürdigung waren dann natürlich auch „lückenhaft und „unvollständig“.

Strafzumessung: „Schon aus dem nemo-tenetur-Grundsatz…“

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Manchmal versteht man nicht, warum eigentlich im Grunde einfache Strafzumessungsgrundsätze, die sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des BGH ziehen, auf die der BGH also immer wieder hinweist, von den Tatgerichten nicht beachtet werden. So in einem Urteil des LG Essen, das der BGH, Beschl. v. 22.05.2013 – 4 StR 151/13 aufgehoben hat.

Es geht um die Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und die Frage: Minder schwerer Fall, ja oder nein?  Den hatte das LG abgelehnt mit der Erwägung „für die Annahme eines minder schweren Falles spreche zwar das teilweise Geständnis des Angeklagten; es könne allerdings nicht übersehen werden, dass dieser zugleich versucht habe, durch seine Einlassung die Folgen seiner Tat zu verharmlosen, indem er entgegen den späteren Feststellungen im angefochtenen Urteil behauptet habe, er hätte das Kokain wegen der (angeblich) schlechten Qualität wieder zurückerhalten. In Bezug auf alle festgestellten Taten hat das Landgericht ferner ausgeführt, gegen die Annahme minder schwerer Fälle spreche „letztlich“ der Umstand, dass der Angeklagte äußerst konspirativ vorgegangen sei. Die Strafkammer sei aufgrund einer Gesamtschau davon überzeugt, dass der Angeklagte offenbar von Anfang an beabsichtigt habe, die Ermittlungsmaßnahmen der Polizei in eine falsche Richtung zu lenken. Die polizeilichen Ermittlungen seien dadurch erheblich erschwert worden. Beispielsweise habe die wahre Identität des Angeklagten erst am 1. Februar 2012 durch die Polizei festgestellt werden können, nachdem der Telefonanschluss des Angeklagten für etwa 14 Tage überwacht und die Koordinaten seines Wohnsitzes unter Auswertung der Gesprächsinhalte aufwändig festgestellt worden seien.“

Dass das nicht gut gehen konnte, liegt m.E. auf der Hand. Der BGH hebt dann auch ohne viel Hin und Her den Strafausspruch auf:

„2. Schon aus dem nemo-tenetur-Grundsatz (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO) folgt, dass der Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht verpflichtet ist, aktiv die Sachaufklärung zu fördern und an seiner eigenen Überführung mitzuwirken (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 364/03, BGHSt 49, 56, 59 f.). Dem-entsprechend darf ihm mangelnde Mitwirkung an der Sachaufklärung nicht strafschärfend angelastet werden (BGH, Beschluss vom 8. November 1995 – 2 StR 527/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 17 mwN). Darüber hinaus kann auch Prozessverhalten, mit dem der Angeklagte – ohne die Grenzen zulässiger Verteidigung zu überschreiten – den ihm drohenden Schuldspruch abzuwenden versucht, grundsätzlich nicht straferschwerend berücksichtigt werden, da hierin – unbeschadet einer Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes – eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Verteidigung läge. Dies gilt nicht nur dann, wenn er eine unrichtige Einlassung unverändert aufrechterhält, sondern auch, wenn er dem Anklagevorwurf mit jedenfalls teil-weise wahrheitswidrigem Vorbringen zu begegnen sucht (BGH, Beschluss vom 8. November 1995 aaO).

Gemessen daran kann der Senat vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs der Strafzumessungserwägungen nicht ausschließen, dass die Strafrahmenwahl des Landgerichts im Hinblick auf beide Umstände maßgeblich durch eine unzulässige Bewertung des Verteidigungsverhaltens des Angeklagten beeinflusst ist. Dies gilt umso mehr, als die von der Strafkammer herangezogene Erwägung, durch die äußerst konspirative Vorgehensweise des Angeklagten seien die polizeilichen Ermittlungen erheblich erschwert worden, mit dem bloßen Hinweis auf eine zweiwöchige Telefonüberwachung und die darauf gestützte Bestimmung der Wohnsitz-Koordinaten nicht hinreichend mit Tatsachen belegt ist.“

Hätte man drauf kommen können, oder? Die Formulierung „Schon aus dem nemo-tenetur-Grundsatz…“ zeigt sehr deutlich, was der BGH von landgerichtlichen Erwägungen hält. Wenn ein Revisionsgericht mit „schon“ formuliert, ist das schon nie so schön :-).

Manchmal ist man fassungslos, oder: KG muss Tatrichter an die Auswirkungen des „nemo-tenetur-Grundsatzes“ erinnern

Gestern habe ich mal wieder einen Schwung Entscheidungen vom KG bekommen. Darunter auch eine – Beschl. v. 11.06.2010 – 3 Ws (B) 270/10 – , vor der man im Grunde fassungslos steht. Nicht wegen der Entscheidung des KG, sondern wegen der zugrunde liegenden amtsgerichtlichen Entscheidung. Da führt der Amtsrichter in seinen Urteilsgründen doch allen Ernstes zum prozessualen Verhalten des Betroffenen aus, dass sein

Versuch…, dadurch die Aufklärung des Sachverhaltes zu verhindern oder zumindest zu erschweren, dass er sich zur Sache nicht einließ, … gescheitert ist“.

Das KG dazu:

Seine Berufung auf das Schweigerecht, auf das der Tatrichter ihn zuvor hingewiesen hatte, wird damit als Mittel gewertet, dem etwas Ungehöriges anhaftet, weil es darauf abzielt, die Aufklärung des Sachverhaltes durch das Gericht zumindest zu erschweren. Diese Wertung lässt besorgen, dass der Tatrichter das dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare entstammende Recht zu schweigen, das zu den elementaren Wesensmerkmalen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gehört, nicht als solches ansieht, sondern als unlauter und seine Tätigkeit unnötig erschwerend begreift. Da er zugleich die Geldbuße gegenüber der ‑ auch bei der höheren Geschwindigkeitsüberschreitung maßgeblichen ‑ Regelbuße des Bußgeldbescheides verdoppelte, liegt die Annahme nahe, dass er hierbei eben dieses prozessuale Verhalten des Betroffenen zu dessen Lasten berücksichtigt hat.“

Ergebnis: Natürlich Aufhebung. Und: Das KG hat die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen; offenbar ging es davon aus, dass bei dem Tatrichter der bloße Hinweis auf den Rechtsfehler mit der Bitte um Beachtung in zukünftigen Fällen nicht ausreichen würde.